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Johann Gottfried
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VIWeitere Ideen zur Philosophie der MenschengeschichteNachdem wir abermals einen großen Strich menschlicher Begebenheiten und Einrichtungen vom Euphrat bis zum Nil, von Persepolis bis Karthago durchwandert haben, so lasset uns niedersitzen und zurückblicken auf unsre Reise. Was ist das Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen der Geschichte bemerkten? Mich dünkt dieses: daß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, teils nach Lage und Bedürfnis des Orts, teils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, teils nach dem angebornen oder sich erzeugenden Charakter der Völker. Setzet lebendige Menschenkräfte in bestimmte Verhältnisse ihres Orts und Zeitmaßes auf der Erde, und es ereignen sich alle Veränderungen der Menschengeschichte. Hier kristallisieren sich Reiche und Staaten, dort lösen sie sich auf und gewinnen andre Gestalten: hier wird aus einer Nomadenhorde ein Babylon, dort aus einem bedrängten Ufervolk ein Tyrus; hier bildet in Afrika sich ein Ägypten, dort in der Wüste Arabiens ein Judenstaat, und das alles in einer Weltgegend, in nachbarlicher Nähe gegeneinander. Nur Zeiten, nur Örter und Nationalcharaktere, kurz, das ganze Zusammenwirken lebendiger Kräfte in ihrer bestimmtesten Individualität entscheidet, wie über alle Erzeugungen der Natur, so über alle Ereignisse im Menschenreiche. Lasset uns dies herrschende Gesetz der Schöpfung in das Licht stellen, das ihm gebühret. 1. Lebendige Menschenkräfte sind die Triebfeder der Menschengeschichte, und da der Mensch seinen Ursprung von und in einem Geschlecht nimmt, so wird hiemit schon seine Bildung, Erziehung und Denkart genetisch. Daher jene sonderbaren Nationalcharaktere, die, den ältesten Völkern so tief eingeprägt, sich in allen ihren Wirkungen auf der Erde unverkennbar zeichnen. Wie eine Quelle von dem Boden, auf dem sie sich sammlete, Bestandteile, Wirkungskräfte und Geschmack annimmt, so entsprang der alte Charakter der Völker aus Geschlechtszügen, der Himmelsgegend, der Lebensart und Erziehung, aus den frühen Geschäften und Taten, die diesem Volk eigen wurden. Tief drangen die Sitten der Väter ein und wurden des Geschlechts inniges Vorbild. Eine Probe davon möge die Denkart der Juden sein, die uns aus ihren Büchern und Beispielen am meisten bekannt ist: Im Lande der Väter wie in der Mitte andrer Nationen blieben sie, was sie waren, und sind sogar in der Vermischung mit andern Völkern einige Geschlechter hinab kenntlich. Mit allen Völkern des Altertums, Ägyptern, Sinesen, Arabern, Hindus u. f., war es und ist's ein gleiches. Je eingeschlossener sie lebten, ja oft: je mehr sie bedrängt wurden, desto fester ward ihr Charakter; so daß, wenn jede dieser Nationen auf ihrer Stelle geblieben wäre, man die Erde als einen Garten ansehen könnte, wo hier diese, dort jene menschliche Nationalpflanze in ihrer eignen Bildung und Natur blühet, wo hier diese, dort jene Tiergattung, jede nach ihrem Triebe und Charakter, ihr Geschäft treibet. Da aber die Menschen keine festgewurzelten Pflanzen sind, so konnten und mußten sie mit der Zeit, oft durch harte Zufälle des Hungers, Erdbebens, Krieges u. f., ihren Ort verändern und baueten sich in einer andern Gegend mehr oder minder anders an. Denn wenn sie gleich mit einer Hartnäckigkeit, die fast dem Instinkt der Tiere gleichet, bei den Sitten ihrer Väter blieben und ihre neuen Berge, Flüsse, Städte und Einrichtungen auch sogar mit Namen ihres Urlandes benannten, so war doch bei einer großen Veränderung der Luft und des Bodens ein ewiges Einerlei in allem nicht möglich. Hier also kam das verpflanzte Volk darauf, sich selbst ein Wespennest oder einen Ameishaufen zu bauen nach seiner Weise. Der Bau ward aus Ideen des Urlandes und ihres neuen Landes zusammengesetzt, und meistens heißt diese Einrichtung die jugendliche Blüte der Völker. So richteten sich die vom Roten Meer gewichenen Phönicier an der mittelländischen Küste ein; so wollte Moses die Israeliten einrichten; so ist's mit mehreren Völkern Asiens gewesen: denn fast jede Nation der Erde ist früher oder später, länger oder kürzer, wenigstens einmal gewandert. Leicht zu erachten ist's, daß es hiebei sehr auf die Zeit ankam, wann diese Wanderung geschah, auf die Umstände, die solche bewirkten, auf die Länge des Weges, die Art von Kultur, mit der das Volk ausging, die Übereinstimmung oder Mißhelligkeit, die es in seinem neuen Lande antraf, u. f. Auch bei unvermischten Völkern wird daher die historische Rechnung bloß schon aus geographisch-politischen Gründen so verwickelt, daß es einen hypothesenfreien Geist erfodert, den Faden nicht zu verlieren. Am meisten verliert man ihn, wenn man irgendeinen Stamm der Völker zum Liebling annimmt und, was nicht er ist, verachtet. Der Geschichtsschreiber der Menschheit muß, wie der Schöpfer unsres Geschlechts oder wie der Genius der Erde, unparteiisch sehen und leidenschaftlos richten. Dem Naturforscher, der zur Kenntnis und Ordnung aller Klassen seiner Reiche gelangen will, ist Rose und Distel, das Stink- und Faultier mit dem Elefanten gleich lieb; er untersucht das am meisten, wobei er am meisten lernet. Nun hat die Natur die ganze Erde ihren Menschenkindern gegeben und auf solcher hervorkeimen lassen, was nach Ort, Zeit und Kraft irgend nur hervorkeimen konnte. Alles, was sein kann, ist; alles, was werden kann, wird, wo nicht heut, so morgen. Das Jahr der Natur ist lang; die Blüte ihrer Pflanzen ist so vielfach, als diese Gewächse selbst sind und die Elemente, die sie nähren. In Indien, Ägypten, Sina geschah, was sonst nie und nirgend auf der Erde geschehen wird; also in Kanaan, Griechenland, Rom, Karthago. Das Gesetz der Notwendigkeit und Konvenienz, das aus Kräften, Ort und Zeit zusammengesetzt ist, bringt überall andre Früchte. 2. Wenn's also vorzüglich darauf ankommt, in welche Zeit und Gegend die Entstehung eines Reichs fiel, aus welchen Teilen es bestand und welche äußere Umstände es umgaben, so sehen wir, liegt in diesen Zügen auch ein großer Teil von dieses Reiches Schicksal. Eine Monarchie, von Nomaden gebildet, die ihre Lebensart auch politisch fortsetzt, wird schwerlich von einer langen Dauer sein; sie zerstört und unterjocht, bis sie selbst zerstört wird; die Einnahme der Hauptstadt und oft der Tod eines Königs allein endet ihre ganze Räuberszene. So war's mit Babel und Ninive, mit Persepolis und Ekbatana; so ist's in Persien noch. Das Reich der Moguls in Indien hat fast sein Ende gefunden, und das Reich der Türken wird es finden, solange sie Chaldäer, d. i. fremde Eroberer, bleiben und keinen sittlichem Grund ihres Regiments legen. Der Baum möge bis an den Himmel reichen und ganze Weltteile überschatten; hat er keine Wurzeln in der Erde, so vertilgt ihn oft ein Luftstoß. Er fället durch die List eines einzigen treulosen Sklaven oder durch die Axt eines kühnen Satrapen. Die alte und neue asiatische Geschichte ist dieser Revolutionen voll, daher auch die Philosophie der Staaten an ihnen wenig zu lernen findet. Despoten werden vom Thron gestoßen und Despoten darauf erhöhet; das Reich hängt an der Person des Monarchen, an seinem Zelt, an seiner Krone; wer diese in seiner Gewalt hat, ist der neue Vater des Volks, d. i. der Anführer einer überwiegenden Räuberbande. Ein Nebukadnezar war dem ganzen Vorderasien furchtbar, und unter dem zweiten Erben lag sein unbefestigtes Reich im Staube. Drei Schlachten Alexanders machen dem Ungeheuern Perserreich ein völliges Ende. Ganz anders ist's mit Staaten, die, aus ihrer Wurzel erwachsen, auf sich selbst ruhen; sie können überwältigt werden, aber die Nation dauret. So ist's mit Sina; man weiß, was den Überwindern daselbst die Einführung einer bloßen Sitte, des mongolischen Haarscherens, für Mühe gekostet habe. So mit den Brahmanen und Israeliten, die bloß ihr Cerimoniengeist von allen Völkern der Erde auf ewig sondert. So widerstand Ägypten lange der Vermischung mit andern Völkern; und wie schwer ward's, die Phönicier auszurotten, bloß weil sie an dieser Stelle ein gewurzeltes Volk waren! Wäre es dem Cyrus gelungen, ein Reich, wie Yao, Krischna, Moses, zu gründen, es lebte noch, obgleich zerstümmelt, in allen seinen Gliedern. Hieraus ergibt sich, warum die alten Staatsverfassungen so sehr auf Bildung der Sitten durch die Erziehung sahen, da von dieser Triebfeder ihre ganze innere Stärke abhing. Neuere Reiche sind auf Geld oder mechanische Staatskünste, Jene waren auf die ganze Denkart der Nation von Kindheit auf gebauet; und da es für die Kindheit keine wirksamere Triebfeder als Religion gibt, so waren die meisten alten, insonderheit asiatischen Staaten mehr oder minder theokratisch. Ich weiß, wie sehr man diesen Namen hasse, dem man größtenteils alles Übel zuschreibt, das je die Menschheit gedrückt hat; auch werde ich keinem seiner Mißbräuche das Wort reden. Aber das ist zugleich wahr, daß diese Regierungsform der Kindheit unsres Geschlechts nicht nur angemessen, sondern auch notwendig gewesen, sonst hätte sie sich gewiß nicht so weit erstreckt und so lange erhalten. Von Ägypten bis Sina, ja beinah in allen Ländern der Erde hat sie geherrschet, so daß Griechenland das erste Land war, das seine Gesetzgebung allmählich von der Religion trennte. Und da eine Jede Religion politisch um soviel mehr wirket, je mehr die Gegenstände derselben, ihre Götter und Helden, mit allen ihren Taten Einheimische waren, so sehen wir, daß jede alte, festgewurzelte Nation sogar ihre Kosmogonie und Mythologie dem Lande zugeeignet hatte, das sie bewohnte. Die einzigen Israeliten zeichnen sich auch darin von allen ihren Nachbarn aus, daß sie weder die Schöpfung der Welt noch des Menschen ihrem Lande zudichten. Ihr Gesetzgeber war ein aufgeklärter Fremdling, der das Land ihres künftigen Besitzes nicht erreichte; ihre Vorfahren hatten anderswo gelebt, ihr Gesetz war außerhalb des Landes gegeben. Wahrscheinlich trug dies nachher mit dazu bei, daß die Juden, wie beinah keine der alten Nationen, sich auch außer ihrem Lande so wohl behalfen. Der Brahmane, der Sinese kann außer seinem Lande nicht leben; und da der mosaische Jude eigentlich nur ein Geschöpf Palästinas ist, so dürfte es außer Palästina keinen Juden mehr geben. 3. Endlich sehen wir aus dem ganzen Erdstrich, den wir durchwandert haben, wie hinfällig alles Menschenwerk, ja wie drückend auch die beste Einrichtung in wenigen Geschlechtern werde. Die Pflanze blühet und blühet ab; eure Väter starben und verwesen; euer Tempel zerfällt; dein Orakelzelt, deine Gesetztafeln sind nicht mehr; das ewige Band der Menschen, die Sprache selbst veraltet; wie? und eine Menschenverfassung, eine politische oder Religionseinrichtung, die doch nur auf diese Stücke gebauet sein kann, sie sollte, sie wollte ewig dauern? So würden dem Flügel der Zeit Ketten angelegt und der rollende Erdball zu einer trägen Eisscholle über dem Abgrunde. Wie wäre es uns, wenn wir noch jetzt den König Salomo seine 22000 Ochsen und 120000 Schafe an einem Fest opfern sähen, oder die Königin aus Saba ihn zu ernenn Gastmahl in Rätseln besuchte? Was würden wir von aller Ägypterweisheit sagen, wenn der Ochs Apis und die heilige Katze und der heilige Bock uns im prächtigsten Tempel gezeigt würden? Eben also ist's mit den drückenden Gebräuchen der Brahmanen, dem Aberglauben der Parsen, den leeren Anmaßungen der Juden, dem ungereimten Stolz der Sinesen und was sich sonst irgendwo auf uralte Menscheneinrichtungen vor dreitausend Jahren stützen möge. Zoroasters Lehre möge ein ruhmwürdiger Versuch gewesen sein, die Übel der Welt zu erklären und seine Genossen zu allen Werken des Lichts aufzumuntern: was ist diese Theodizee jetzt, auch nur in den Augen eines Mahomedaners? Die Seelenwanderung der Brahmanen möge als ein jugendlicher Traum der menschlichen Einbildungskraft gelten, der unsterbliche Seelen im Kreise der Sichtbarkeit versorgen will und an diesen gutgemeinten Wahn moralische Begriffe knüpfet; was ist sie aber als ein vernunftloses heiliges Gesetz mit ihren tausend Anhängen von Gebräuchen und Satzungen worden? Die Tradition ist eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung; sobald sie aber sowohl in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt, allen Fortgang der Menschenvernunft und Verbesserung nach neuen Umständen und Zeiten hindert, so ist sie das wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen. Das große Asien, die Mutter aller Aufklärung unsrer bewohnten Erde, hat von diesem süßen Gift viel gekostet und andern zu kosten gegeben. Große Staaten und Sekten in ihm schlafen, wie nach der Fabel der heilige Johannes in seinem Grabe schläft; er atmet sanft, aber seit fast zweitausend Jahren ist er gestorben und harret schlummernd, bis sein Erwecker kommt.
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Wolfgang
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