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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Dreizehntes Buch

III

Künste der Griechen

Ein Volk von dieser Gesinnung mußte auch in allen Künsten des Lebens vom Notwendigen zum Schönen und Wohlgefälligen steigen; die Griechen haben dies in allem, was auf sie traf, fast bis zum höchsten Punkt erreicht. Ihre Religion erfoderte Bilder und Tempel, ihre Staatsverfassungen machten Denkmale und öffentliche Gebäude, ihr Klima und ihre Lebensweise, ihre Betriebsamkeit, Üppigkeit, Eitelkeit u. f. machten ihnen mancherlei Werke der Kunst nötig. Der Genius des Schönen gab ihnen also diese Werke an und half sie, einzig in der Menschengeschichte, vollenden; denn da die größesten Wunder dieser Art längst zerstört sind, bewundern und lieben wir noch ihre Trümmer und Scherben.

1. Daß Religion die Kunst der Griechen sehr befördert habe sehen wir aus den Verzeichnissen ihrer Kunstwerke in Pausanias, Plinius oder irgendeiner der Sammlungen, die von ihren Resten reden; es ist dieser Punkt auch der ganzen Völker- und Menschengeschichte ähnlich. Allenthalben wollte man gern den Gegenstand seiner Anbetung sehen, und wo solches nicht das Gesetz oder die Religion selbst verbot, bestrebte man sich, ihn vorzustellen oder zu bilden. Selbst Negervölker machen sich ihren Gott in einem Fetisch gegenwärtig, und von den Griechen weiß man, daß ihre Vorstellung der Götter uralters von einem Stein oder einem bezeichneten Klotz ausging. In dieser Dürftigkeit konnte nun ein so betriebsames Volk nicht bleiben; der Block wurde zu einer Herme oder Statue, und da die Nation in viele kleine Stämme und Völkerschaften geteilt war, so war es natürlich, daß jede ihren Haus- und Stammesgott auch in der Abbildung auszuschmücken suchte. Einige glückliche Versuche der alten Dädalen, wahrscheinlich auch die Ansicht nachbarlicher Kunstwerke, erregten Nacheiferung, und so fanden sich bald mehrere Stämme und Städte, die ihren Gott, das größeste Heiligtum ihres Bezirks, in einer leidlichem Gestalt erblickten. Vorzüglich an Bildern der Götter hat sich die älteste Kunst aufgerichtet und gleichsam gehen gelernt217), daher auch alle Völker, denen Abbildungen der Götter versagt waren, in der bildenden Kunst nie eigentlich hoch emporstiegen.

Da aber bei den Griechen ihre Götter durch Gesang und Gedichte eingeführt waren und in herrlichen Gestalten darinnen lebten; was war natürlicher, als daß die bildende Kunst von frühen Zeiten an eine Tochter der Dichtkunst wurde, der ihre Mutter jene großen Gestalten gleichsam ins Ohr sang? Von Dichtern mußte der Künstler die Geschichte der Götter, mithin auch die Art ihrer Vorstellung lernen: daher die älteste Kunst selbst die grausendste Abbildung derselben nicht verschmähte, weil sie der Dichter sang.218) Mit der Zeit kam man auf gefälligere Vorstellungen, weil die Dichtkunst selbst gefälliger wurde, und so wurde Homer ein Vater der schöneren Kunst der Griechen, weil er der Vater ihrer schönern Poesie war. Er gab dem Phidias jene erhabene Idee zu seinem Jupiter, welcher dann die andern Abbildungen dieses Götterkünstlers folgten. Nach den Verwandtschaften der Götter in den Erzählungen ihrer Dichter kamen auch bestimmtere Charaktere oder gar Familienzüge in ihre Bilder, bis endlich die angenommene Dichtertradition sich zu einem Kodex der Göttergestalten im ganzen Reich der Kunst formte. Kein Volk des Altertums konnte also die Kunst der Griechen haben, das nicht auch griechische Mythologie und Dichtkunst gehabt hatte, zugleich aber auch auf griechische Weise zu seiner Kultur gelangt war. Ein solches hat es in der Geschichte nicht gegeben, und so stehen die Griechen mit ihrer homerischen Kunst allein da.

Hieraus erklärt sich also die Idealschöpfung der griechischen Kunst, die weder aus einer tiefen Philosophie ihrer Künstler noch aus einer idealischen Naturbildung der Nation, sondern aus Ursachen entstanden war, die wir bisher entwickelt haben. Ohne Zweifel war es ein glücklicher Umstand, daß die Griechen, im ganzen betrachtet, ein schöngebildetes Volk waren, ob man gleich diese Bildung nicht auf jeden einzelnen Griechen als auf eine idealische Kunstgestalt ausdehnen müßte. Bei ihnen, wie allenthalben, ließ sich die formenreiche Natur an der tausendfachen Veränderung menschlicher Gestalten nicht hindern, und nach Hippokrates gab es, wie allenthalben, so auch unter den schönen Griechen mißformende Krankheiten und Übel. Alle dies aber auch zugestanden, und selbst jene mancherlei süße Gelegenheiten mitgerechnet, bei denen der Künstler einen schönen Jüngling zum Apoll oder eine Phryne und Lais zur Göttin der Anmut erheben konnte, so erklärt sich das angenommene und zur Regel gegebene Götterideal der Künstler damit noch nicht. Ein Kopf des Jupiters könnte in der Menschennatur wahrscheinlich sowenig existieren, als in unserer wirklichen Welt Homers Jupiter je gelebt hat. Der große anatomische Zeichner Camper hat deutlich erwiesen219), auf welchen ausgedachten Regeln das griechische Künstlerideal in seiner Form beruhe; auf diese Regeln aber konnte nur die Vorstellung der Dichter und der Zweck einer heiligen Verehrung führen. Wollt ihr also ein neues Griechenland in Götterbildern hervorbringen, so gebt einem Volk diesen dichterisch-mythologischen Aberglauben nebst allem, was dazu gehört, in seiner ganzen Natureinfalt wieder. Durchreist Griechenland und betrachtet seine Tempel, seine Grotten und heiligen Haine, so werdet ihr von dem Gedanken ablassen, einem Volk die Höhe der griechischen Kunst auch nur wünschen zu wollen, das von einer solchen Religion, d. i. von einem so lebhaften Aberglauben, der jede Stadt, jeden Flecken und Winkel mit zugeerbter, heiliger Gegenwart erfüllt hatte, ganz und gar nichts weiß.

2. Alle Heldensagen der Griechen, insonderheit wenn sie Vorfahren des Stammes betrafen, gehören gleichfalls hieher; denn auch sie waren durch die Seele der Dichter gegangen und lebten zum Teil in ewigen Liedern; der Künstler also, der sie bildete, schuf zum Stolz und zur Ahnenfreude des Stammes ihre Geschichten mit einer Art Dichterreligion nach. Dies bestätigt die älteste Künstlergeschichte und eine Übersicht der griechischen Kunstwerke. Gräber, Schilde, Altäre, heilige Sitze und Tempel waren es, die das Andenken der Vorfahren festhielten, und eben auch sie beschäftigten in mehreren Stämmen von den ältesten Zeiten her den arbeitenden Künstler. Alle streitbaren Völker der Welt bemalten und schmückten ihre Schilde; die Griechen gingen weiter: sie schnitzten oder gössen und bildeten auf sie das Andenken der Väter. Daher die frühen Werke Vulkans in sehr alten Dichtern; daher Herkules' Schild beim Hesiodus mit Perseus' Taten. Nebst Schildern kamen Vorstellungen dieser Art auf Altäre der Helden oder auf andere Familiendenkmale, wie Kypselus' Kasten zeigt, dessen Figuren, völlig im Geschmack von Hesiodus' Schilde waren. Erhobene Werke dieses Inhalts schrieben sich schon von Dädalus' Zeiten her, und da viele Tempel der Götter ursprünglich Grabmäler gewesen waren220), so trat in ihnen das Andenken der Vorfahren, der Helden und Götter so nahe zusammen, daß es fast einerlei Verehrung, der Kunst wenigstens einerlei Triebwerk wurde. Daher die Vorstellung der alten Heldengeschichte an der Kleidung der Götter, auf Seiten der Throne und Altäre; daher die Ehrenmäler der Verstorbnen oft auf den Märkten der Städte oder die Hermen und Säulen auf den Gräbern. Setzt man nun noch die unsäglich vielen Kunstwerke hinzu, die als Geschenke von Familien, Stämmen oder Privatpersonen zum Andenken oder als Dankgelübde in die Tempel der Götter kamen und, dem angenommenen Gebrauch gemäß, oft mit Vorstellungen aus der Stammes- und Heldengeschichte ausgeschmückt waren: welch anderes Volk könnte sich einer solchen Triebfeder der mannigfaltigsten Kunst rühmen? Unsere Ahnensäle mit ihren Bildern vergessener Vorfahren sind dagegen nichts, da ganz Griechenland von Sagen und Liedern und heiligen Plätzen seiner Götter- und Heldenahnen voll war. Alles hing an der kühnen Idee, daß Götter mit ihnen verwandte höhere Menschen und Helden niedere Götter sein; diesen Begriff aber hatten ihre Dichter gebildet.

Zu solchem Familien- und Vaterlandsruhm, der der Kunst aufhalf, rechne ich auch die griechischen Spiele: sie waren Stiftungen und zugleich Gedächtnisfeste ihrer Helden, dabei also gottesdienstliche und sowohl der Kunst als der Dichtkunst äußerst vorteilhafte Gebräuche. Nicht etwa nur, daß Jünglinge, zum Teil nackt, sich in mancherlei Kämpfen und Geschicklichkeiten übten und dabei dem Künstler lebendige Modelle wurden, sondern vielmehr, daß durch diese Übungen ihr Leib einer schönen Nachbildung fähig und durch diese jugendlichen Siege ihr Geist im tätigen Andenken des Familien-, Väter- und Heldenruhms erhalten wurde. Aus Pindar und aus der Geschichte wissen wir, wie hoch die Siege solcher Art im ganzen Griechenlande geschätzt wurden und mit welchem Wetteifer man darnach strebte. Die ganze Stadt des Überwinders wurde damit geehrt; Götter und Helden der Vorzeit stiegen zum Geschlecht des Siegers nieder. Hierauf beruht die Ökonomie der Oden Pindars: Kunstwerke, die er über den Wert der Bildsäulen erhob. Hierauf beruhte die Ehre des Grabmals oder der Statue, die der Sieger, meistens idealisch, erhalten durfte. Er war durch diese glückliche Nacheiferung der Heldenvorfahren gleichsam ein Gott geworden und über die Menschen erhoben. Wo sind jetzt dergleichen Spiele mit gleichem Wert und gleichen Folgen möglich?

3. Auch die Staatsverfassungen der Griechen halfen der Kunst auf, nicht sowohl weil sie Freistaaten waren, als weil diese Freistaaten den Künstler zu großen Arbeiten brauchten. Griechenland war in viele Staaten verteilt; und mochten diese von Königen oder von Archonten regiert werden, so fand die Kunst Nahrung. Auch ihre Könige waren Griechen, und alle Kunstbedürfnisse, die aus der Religion oder aus Geschlechtssagen entsprangen, waren ihr Bedürfnis; oft waren sie sogar die obersten Priester. Also von alten Zeiten an zeichnete sich der Schmuck ihrer Paläste durch Kostbarkeiten ihrer Stammes- oder ihrer Heldenfreunde aus, wie bereits Homer davon erzählt. Allerdings aber gaben die republikanischen Verfassungen, die mit der Zeit überall in Griechenland eingeführt wurden, der Kunst einen weitern Raum. In einem Gemeinwesen waren Gebäude zur Versammlung des Volks, zum öffentlichen Schatz, zu gemeinschaftlichen Übungen und Vergnügungen nötig, und so entstanden z.B. in Athen die prächtigen Gymnasien, Theater und Galerien, das Odeum und Prytaneum, der Pnyx u. f. Da in den griechischen Republiken alles im Namen des Volks oder der Stadt getrieben wurde, so war auch nichts zu kostbar, was auf die Schutzgötter derselben oder auf die Herrlichkeit ihres Namens verwandt wurde, dagegen einzelne, selbst die vornehmsten Bürger sich mit schlechteren Häusern begnügten. Dieser Gemeingeist, alles wenigstens dem Scheine nach für das Ganze zu tun, war die Seele der griechischen Staaten, den ohne Zweifel auch Winckelmann meinte, wenn er die Freiheit der griechischen Republiken als das Goldne Zeitalter der Kunst pries. Pracht und Größe nämlich waren in ihnen nicht so verteilt wie in den neueren Zeiten, sondern flossen in dem zusammen, was den Staat anging. Mit Ruhmesideen dieser Art schmeichelte Perikles dem Volk und tat mehr für die Künste, als zehn atheniensische Könige würden getan haben. Alles, was er baute, war im großen Geschmack, weil es den Göttern und der ewigen Stadt gehörte; und gewiß würden wenige der griechischen Städte und Inseln solche Gebäude errichtet, solche Kunstwerke befördert haben, wenn sie nicht voneinander getrennte, im Ruhm wetteifernde Freistaaten gewesen wären. Da überdem bei demokratischen Republiken der Führer des Volks dem Volk gefallen mußte, was wählte er lieber als die Gattung des Aufwandes, die nebst dem Wohlgefallen der Schutzgötter auch dem Volk in die Augen fiel und viele Menschen nährte?

Niemand zweifelt daran, daß dieser Aufwand auch Folgen gehabt habe, von welchen die Menschheit gern wegsieht. Die Härte, mit denen die Athener ihre überwundenen, selbst ihre Kolonien drückten, die Räubereien und Kriege, in welche die Staaten Griechenlands unaufhörlich verflochten waren, die harten Dienste, die selbst ihre Bürger dem Staat tun mußten, und viele andere Dinge mehr machen die griechischen wohl nicht zu den erwünschtesten Staaten; der öffentlichen Kunst aber mußten selbst diese Beschwerden dienen. Tempel der Götter waren meistens auch dem Feinde heilig; bei einem wechselnden Schicksal aber gingen auch die vom Feinde verwüsteten Tempel aus der Asche desto schöner hervor. Vom Siegesraube der Perser wurde ein schöneres Athen erbaut, und fast bei allen glücklichen Kriegen wurde von dem Teil der Beute, der dem Staat zugehörte, auch einer oder der andern Kunst geopfert. Noch in den spätem Zeiten erhielt Athen, trotz aller Verwüstungen der Römer, immer noch die Herrlichkeit seines Namens durch Statuen und Gebäude; denn mehrere Kaiser, Könige, Helden und reiche Privatpersonen beeiferten sich, eine Stadt zu erhalten und zu verschönern, die sie für die Mutter alles guten Geschmacks erkannten. Daher sehen wir auch unter dem macedonischen Reich die Kunst der Griechen nicht ausgestorben, sondern nur wandernd. Auch in fernen Ländern waren die griechischen Könige doch Griechen und liebten griechische Künste. So bauten Alexander und manche seiner Nachfolger in Afrika und Asien prächtige Städte; auch Rom und andere Völker lernten von den Griechen, da die Zeit der Kunst in ihrem Vaterlande dahin war: denn allenthalben war doch nur eine griechische Kunst und Baukunst auf der gesamten Erde.

4. Endlich nährte auch das Klima der Griechen die Künste des Schönen, nicht hauptsächlich durch die Gestalt der Menschen, die mehr vom Stamm als vom Himmelsstrich abhängt, sondern durch seine bequeme Lage für die Materialien der Kunst und die Aufstellung ihrer Kunstwerke. Der schöne parische und andere Gattungen Marmors standen in ihrem Lande ihnen zu Gebote; das Elfenbein, das Erz, und was sie sonst zur Kunst bedurften, gab ihnen ein Handel, dem sie wie in der Mitte lagen. Gewissermaße kam dieser der Geburt ihrer Kunst selbst zuvor, indem sie aus Kleinasien, Phönizien und andern Ländern Kostbarkeiten besitzen konnten, die sie selbst noch nicht zu bearbeiten wußten. Der Keim ihrer Kunstgaben wurde also frühe hervorgelockt, vorzüglich auch, weil ihre Nähe mit Kleinasien, ihre Kolonien in Großgriechenland u. f. einen Geschmack an Üppigkeit und Wohlleben bei ihnen erweckten, der der Kunst nicht anders als aufhelfen konnte. Der leichte Charakter der Griechen war weit entfernt, an nutzlose Pyramiden seinen Fleiß zu verschwenden; einzelne Städte und Staaten konnten in diese Wüste des Ungeheuren auch nie geraten. Sie trafen also, wenn man vielleicht den einzigen Kolossus der Insel Rhodos ausnimmt, selbst in ihren größesten Werken das schöne Maß, in welchem Erhabenheit sich mit Anmut begegnet. Dazu gab ihnen nun ihr heiterer Himmel so manchen Anlaß. So manchen unbedeckten Statuen, Altären und Tempeln gab er Raum; insonderheit der schönen Säule, die statt der toten nordischen Mauer in schlanker Anmut unter ihm dastehen konnte, ein Muster des Ebenmaßes, der Richtigkeit und Einfalt.

Vereinigt man alle diese Umstände, so sieht man, wie in Ionien, Griechenland- und Sizilien, auch der Kunst nach, jener leichte, richtige Geist wirken konnte, der bei den Griechen alle Werke des Geschmacks bezeichnet. Durch Regeln allein kann er nicht erlernt werden; er äußert sich aber in beobachteten Regeln und durfte, so ganz er ursprünglich der Anhauch eines glücklichen Genius war, durch eine fortgesetzte Übung selbst Handwerk werden. Auch der schlechteste griechische Künstler ist seiner Manier nach ein Grieche; wir können ihn übertreffen, die ganze genetische Art der griechischen Kunst aber werden wir nie erreichen: der Genius dieser Zeiten ist vorüber.

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