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Johann Gottfried Herderaus Ideen zur Philosophie der Geschichte der MenschheitFünfzehntes Buch |
VEs waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirkenDem sinnlichen Betrachter der Geschichte, der in ihr Gott verlor und an der Vorsehung zu zweifeln anfing, geschah dies Unglück nur daher, weil er die Geschichte zu flach ansah oder von der Vorsehung keinen rechten Begriff hatte. Denn wenn er diese für ein Gespenst hält, das ihm auf allen Straßen begegnen und den Lauf menschlicher Handlungen unaufhörlich unterbrechen soll, um nur diesen oder jenen partikularen Endzweck seiner Phantasie und Willkür zu erreichen, so gestehe ich, daß die Geschichte das Grab einer solchen Vorsehung sei; gewiß aber ein Grab zum Besten der Wahrheit. Denn was wäre es für eine Vorsehung, die jeder zum Poltergeist in der Ordnung der Dinge, zum Bundesgenossen seiner eingeschränkten Absicht, zum Schutzverwandten seiner kleinfügigen Torheit gebrauchen könnte, so daß das Ganze zuletzt ohne einen Herren bliebe? Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist; denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, und seine Geschichte ist, wie die Geschichte des Wurms, mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, daß sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbaret. Alles, was auf der Erde geschehen kann, muß auf ihr geschehen, sobald es nach Regeln geschieht, die ihre Vollkommenheit in ihnen selbst tragen. Lasset uns diese Regeln, die wir bisher entwickelt haben, sofern sie die Menschengeschichte betreffen, wiederholen; sie führen alle das Gepräge einer weisen Güte, einer hohen Schönheit, ja der innern Notwendigkeit selbst mit sich. 1. Auf unsrer Erde belebte sich alles, was sich auf ihr beleben konnte; denn jede Organisation trägt in ihrem Wesen eine Verbindung mannigfaltiger Kräfte, die sich einander beschränken und in dieser Beschränkung ein Maximum zur Dauer gewinnen konnten, in sich. Gewannen sie dies nicht, so trennten sich die Kräfte und verbanden sich anders. 2. Unter diesen Organisationen stieg auch der Mensch hervor, die Krone der Erdeschöpfung. Zahllose Kräfte verbanden sich in ihm und gewannen ein Maximum, den Verstand, so wie ihre Materie, der menschliche Körper, nach Gesetzen der schönsten Symmetrie und Ordnung, den Schwerpunkt. Im Charakter des Menschen war also zugleich der Grund seiner Dauer und Glückseligkeit, das Gepräge seiner Bestimmung und der ganze Lauf seines Erdenschicksals gegeben. 3. Vernunft heißt dieser Charakter der Menschheit; denn er vernimmt die Sprache Gottes in der Schöpfung, d. i. er sucht die Regel der Ordnung, nach welcher die Dinge zusammenhangend auf ihr Wesen gegründet sind. Sein innerstes Gesetz ist also Erkenntnis der Existenz und Wahrheit, Zusammenhang der Geschöpfe nach ihren Beziehungen und Eigenschaften. Er ist ein Bild der Gottheit; denn er erforschet die Gesetze der Natur, die Gedanken, nach denen der Schöpfer sie verband und die er ihnen wesentlich machte. Die Vernunft kann also ebensowenig willkürlich handeln, als die Gottheit selbst willkürlich dachte. 4. Vom nächsten Bedürfnis fing der Mensch an, die Kräfte der Natur zu erkennen und zu prüfen. Sein Zweck dabei ging nicht weiter als auf sein Wohlsein, d. i. auf einen gleichmäßigen Gebrauch seiner eignen Kräfte in Ruhe und Übung. Er kam mit andern Wesen in ein Verhältnis, und auch jetzt ward sein eignes Dasein das Maß dieser Verhältnisse. Die Regel der Billigkeit drang sich ihm auf; denn sie ist nichts als die praktische Vernunft, das Maß der Wirkung und Gegenwirkung zum gemeinschaftlichen Bestande gleichartiger Wesen. 5. Auf dies Principium ist die menschliche Natur gebauet, so daß kein Individuum eines andern oder der Nachkommenschaft wegen dazusein glauben darf. Befolget der niedrigste in der Reihe der Menschen das Gesetz der Vernunft und Billigkeit, das in ihm liegt, so hat er Konsistenz, d. i. er genießet Wohlsein und Dauer, er ist vernünftig, billig, glücklich. Dies ist er nicht vermöge der Willkür andrer Geschöpfe oder des Schöpfers, sondern nach den Gesetzen einer allgemeinen, in sich selbst gegründeten Naturordnung. Weichet er von der Regel des Rechts, so muß sein strafender Fehler selbst ihm Unordnung zeigen und ihn veranlassen, zur Vernunft und zur Billigkeit, als den Gesetzen seines Daseins und Glücks, zurückzukehren. 6. Da seine Natur aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, so tut er dieses selten auf dem kürzesten Wege; er schwankt zwischen zwei Extremen, bis er sich selbst gleichsam mit seinem Dasein abfindet und einen Punkt der leidlichen Mitte erreicht, in welchem er sein Wohlsein glaubet. Irrt er hiebei, so geschiehet es nicht ohne sein geheimes Bewußtsein, und er muß die Folgen seiner Schuld tragen. Er trägt sie aber nur bis zu einem gewissen Grad, da sich entweder das Schicksal durch seine eigenen Bemühungen zum Bessern wendet oder sein Dasein weiterhin keinen innern Bestand findet. Einen wohltätigem Nutzen konnte die höchste Weisheit dem physischen Schmerz und dem moralischen übel nicht geben; denn kein höherer ist denkbar. 7. Hätte auch nur ein einziger Mensch die Erde betreten, so wäre an ihm der Zweck des menschlichen Daseins erfüllt gewesen, wie man ihn bei so manchen einzelnen Menschen und Nationen für erfüllt achten muß, die durch Ort- und Zeitbestimmungen von der Kette des ganzen Geschlechts getrennet wurden. Da aber alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungsstande bleibt, fortdauert, so hatte auch das Menschengeschlecht, wie alle Geschlechte der Lebenden, Kräfte der Fortpflanzung in sich, die dem Ganzen gemäß ihre Proportion und Ordnung finden konnten und gefunden haben. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hinunter. Allmählich ward die Erde erfüllt, und der Mensch ward alles, was er in solchem und keinem andern Zeitraum auf der Erde werden konnte. 8. Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander, nicht als ob sie in jedem einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgend existieret, folglich auch nicht der Zweck des Schöpfers sein konnte, sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte. Wie sich die Menschen fortpflanzen, pflanzen die Tiere sich auch fort, ohne daß eine allgemeine Tiervernunft aus ihren Geschlechtern werde; aber weil Vernunft allein den Beharrungsstand der Menschheit bildet, mußte sie sich als Charakter des Geschlechts fortpflanzen; denn ohne sie war das Geschlecht nicht mehr. 9. Im Ganzen des Geschlechts hatte sie kein andres Schicksal, als was sie bei den einzelnen Gliedern desselben hatte: denn das Ganze bestehet nur in einzelnen Gliedern. Sie ward von wilden Leidenschaften der Menschen, die in Verbindung mit andern noch stürmiger wurden, oft gestört, jahrhundertelang von ihrem Wege abgelenkt und blieb wie unter der Asche schlummernd. Gegen alle diese Unordnungen wandte die Vorsehung kein andres Mittel an, als welches sie jedem einzelnen gewähret, nämlich daß auf den Fehler das übel folge und jede Trägheit, Torheit, Bosheit, Unvernunft und Unbilligkeit sich selbst strafe. Nur weil in diesen Zuständen das Geschlecht haufenweise erscheint, so müssen auch Kinder die Schuld der Eltern, Völker die Unvernunft ihrer Führer, Nachkommen die Trägheit ihrer Vorfahren büßen, und wenn sie das übel nicht verbessern wollen oder können, können sie Zeitalter hin darunter leiden. 10. Jedem einzelnen Gliede wird also die Wohlfahrt des Ganzen sein eigenes Beste; denn wer unter den Übeln desselben leidet, hat auch das Recht und die Pflicht auf sich, diese übel von sich abzuhalten und sie für seine Brüder zu mindern. Auf Regenten und Staaten hat die Natur nicht gerechnet, sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen. Jene büßen ihre Frevel und Unvernunft langsamer, als sie der einzelne büßet, weil sie sich immer nur mit dem Ganzen berechnen, in welchem das Elend jedes Armen lange unterdrückt wird; zuletzt aber büßet es der Staat und sie mit desto gefährlicherm Sturze. In alle diesem zeigen sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, und der höchste Regent Europas bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts sowohl unterworfen als der Geringste seines Volkes. Sein Stand verband ihn bloß, ein Haushalter dieser Naturgesetze zu sein und bei seiner Macht, die er nur durch andre Menschen hat, auch für andre Menschen ein weiser und gütiger Menschengott zu werden. 11. In der allgemeinen Geschichte also wie im Leben verwahrloseter einzelner Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unsres Geschlechts, bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen. Was irgend geschehen kann, geschieht und bringt hervor, was es seiner Natur nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, daß eine gegenseitige Wirkung die andre aufhebe und zuletzt nur das Ersprießliche dauernd bleibe. Das Böse, das andre verderbt, muß sich entweder unter die Ordnung schmiegen oder selbst verderben. Der Vernünftige und Tugendhafte also ist im Reich Gottes allenthalben glücklich; denn sowenig die Vernunft äußern Lohn begehret, sowenig verlangt ihn auch die innere Tugend. Mißlingt ihr Werk von außen, so hat nicht sie, sondern ihr Zeitalter davon den Schaden; und doch kann es die Unvernunft und Zwietracht der Menschen nicht immer verhindern: es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt. 12. Indessen gehet die menschliche Vernunft im Ganzen des Geschlechts ihren Gang fort: sie sinnet aus, wenn sie auch noch nicht anwenden kann; sie erfindet, wenn böse Hände auch lange Zeit ihre Erfindung mißbrauchen. Der Mißbrauch wird sich selbst strafen und die Unordnung eben durch den unermüdeten Eifer einer immer wachsenden Vernunft mit der Zeit Ordnung werden. Indem sie Leidenschaften bekämpfet, stärkt und läutert sie sich selbst; indem sie hier gedruckt wird, fliehet sie dorthin und erweitert den Kreis ihrer Herrschaft über die Erde. Es ist keine Schwärmerei, zu hoffen, daß, wo irgend Menschen wohnen, einst auch vernünftige, billige und glückliche Menschen wohnen werden: glücklich, nicht nur durch ihre eigene, sondern durch die gemeinschaftliche Vernunft ihres ganzen Brudergeschlechtes. Ich beuge mich vor diesem hohen Entwurf der allgemeinen Naturweisheit über das Ganze meines Geschlechts um so williger, da ich sehe, daß er der Plan der gesamten Natur ist. Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht; sie machte seine eigne Natur zum Grunde der Dauer und Fortwirkung desselben, solange Menschen sein werden. Alle Werke Gottes haben ihren Bestand in sich und ihren schönen Zusammenhang mit sich; denn sie beruhen alle in ihren gewissen Schranken auf dem Gleichgewicht widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte. Mit diesem Leitfaden durchwandre ich das Labyrinth der Geschichte und sehe allenthalben harmonische göttliche Ordnung: denn was irgend geschehen kann, geschieht; was wirken kann, wirket. Vernunft aber und Billigkeit allein dauern, da Unsinn und Torheit sich und die Erde verwüsten. Wenn ich also, nach jener Fabel, einen Brutus, den Dolch in der Hand, unter dem Sternenhimmel bei Philippi sagen höre: »O Tugend, ich glaubte, daß du etwas seist; jetzt sehe ich, daß du ein Traum bist!«, so verkenne ich den ruhigen Weisen in dieser letzten Klage. Besaß er wahre Tugend, so hatte sich diese, wie seine Vernunft, immer bei ihm belohnet und mußte ihn auch diesen Augenblick lohnen. War seine Tugend aber bloß Römerpatriotismus, was Wunder, daß der Schwächere dem Starken, der Träge dem Rüstigem weichen mußte? Auch der Sieg des Antonius samt allen seinen Folgen gehörte zur Ordnung der Welt und zu Roms Naturschicksal. Gleichergestalt, wenn unter uns der Tugendhafte so oft klagt, daß sein Werk mißlinge, daß rohe Gewalt und Unterdrückung auf Erden herrsche und das Menschengeschlecht nur der Unvernunft und den Leidenschaften zur Beute gegeben zu sein scheine, so trete der Genius seiner Vernunft zu ihm und frage ihn freundlich, ob seine Tugend auch rechter Art und mit dem Verstande, mit der Tätigkeit verbunden sei, die allein den Namen der Tugend verdienet. Freilich gelingt nicht jedes Werk allenthalben; darum aber mache, daß es gelinge, und befördre seine Zeit, seinen Ort und jene innre Dauer desselben, in welcher das wahrhaft Gute allein dauert. Rohe Kräfte können nur durch die Vernunft geregelt werden; es gehört aber eine wirkliche Gegenmacht, d. i. Klugheit, Ernst und die ganze Kraft der Güte, dazu, sie in Ordnung zu setzen und mit heilsamer Gewalt darin zu erhalten. Ein schöner Traum ist's vom zukünftigen Leben, da man sich im freundschaftlichen Genuß aller der Weisen und Guten denkt, die je für die Menschheit wirkten und mit dem süßen Lohn vollendeter Mühe das höhere Land betraten; gewissermaßen aber eröffnet uns schon die Geschichte diese ergötzende Lauben des Gesprächs und Umgangs mit den Verständigen und Rechtschaffenen so vieler Zeiten. Hier stehet Plato vor mir; dort höre ich Sokrates' freundliche Fragen und teile sein letztes Schicksal. Wenn Mark-Antonin im Verborgnen mit seinem Herzen spricht, redet er auch mit dem meinigen, und der arme Epiktet gibt Befehle, mächtiger als ein König. Der gequälte Tullius, der unglückliche Boethius sprechen zu mir, mir vertrauend die Umstände ihres Lebens, den Gram und den Trost ihrer Seele. Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! Wie einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung! Tausendfach ist das Problem der Humanität rings um mich aufgelöset, und allenthalben ist das Resultat der Menschenbemühungen dasselbe: auf Verstand und Rechtschaffenheit ruhe das Wesen unsres Geschlechts, sein Zweck und sein Schicksal. Keinen edlem Gebrauch der Menschengeschichte gibt's als diesen; er führt uns gleichsam in den Rat des Schicksals und lehrt uns in unsrer nichtigen Gestalt nach ewigen Naturgesetzen Gottes handeln. Indem er uns die Fehler und Folgen jeder Unvernunft zeigt, so weiset er uns in jenem großen Zusammenhange, in welchem Vernunft und Güte zwar lange mit wilden Kräften kämpfen, immer aber doch ihrer Natur nach Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben, endlich auch unsern kleinen und ruhigen Kreis an. Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, was aus dieser Saat des Altertums für eine Ernte nachfolgender Zeiten keime. Rom hatte das Gleichgewicht der Völker gehoben, unter ihm verblutete eine Welt; was wird aus diesem gestörten Gleichgewicht für ein neuer Zustand und aus der Asche so vieler Nationen für ein neues Geschöpf hervorgehn?
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Wolfgang
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