PERSONEN
DER GRAF VON CAVERSHAM, Ritter
des Hosenbandordens
VISCOUNT GORING, sein Sohn
SIR ROBERT CHILTERN, Baronet, Untersekretär
im Außenministerium
VICOMTE DE NANJAC, Attaché
an der französischen Botschaft in London
MR. MONTFORD
MASON, Butler bei Sir Robert
Chiltern
PHIPPS, Lord Gorings Diener
JAMES und HAROLD, Bediente
LADY CHILTERN
LADY MARKBY
DIE GRÄFIN VON BASILDON
MRS. MARCHMONT
MISS MABEL CHILTERN, Sir Robert Chilterns Schwester
MRS. CHEVELEY
Zeit: Gegenwart (1895) - Ort: London
Die Handlung des Stücks spielt sich in
vierundzwanzig Stunden ab.
ERSTER AKT

François Boucher
Le Triomphe de Vénus, 1740
Öl/Leinwand, 130 x 162 cm
Stockholm, Nationalmuseum
Achteckiger
Saal in Sir Robert Chilterns Haus am Grosvenor
Square. Der Saal ist strahlend
hell erleuchtet und voller Gäste. Auf dem
Treppenabsatz steht Lady Chiltern, eine Frau von ernster griechischer
Schönheit, etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Sie empfängt die
heraufkommenden Gäste. Im Treppenhaus hängt ein mächtiger Kronleuchter
mit Wachskerzen, die einen großen französischen Gobelin aus dem
achtzehnten Jahrhundert an der Wand des Treppenhauses beleuchten
- er stellt nach einem Entwurf von Boucher den Triumph
der Liebe dar. Rechts Tür zum Musikzimmer. Die Klänge eines Streichquartetts sind schwach zu vernehmen. Die Tür zur
Linken führt in andere Empfangsräume. Mrs. Marchmont und
Lady Basildon, zwei ausnehmend hübsche Frauen, sitzen zusammen auf
einem Louis-Seize-Sofa. Sie sind Musterbeispiele erlesener Zerbrechlichkeit.
Ihr geziertes Benehmen ist von köstlichem Reiz.
Watteau hätte sie gern gemalt.
MRS. MARCHMONT: Gehen Sie später noch zu den Hartlocks, Margaret?
LADY BASILDON: Ich denke: ja. Sie auch?
MRS. MARCHMONT: Ja. Grässlich langweilige Gesellschaft geben sie, nicht
wahr?
LADY BASILDON: Grässlich langweilige! Weiß nicht, warum ich hingehe. Weiß
nicht, warum ich überhaupt irgendwohin gehe.
MRS. MARCHMONT: Hierher komme ich, um mich bilden zu lassen.
LADY BASILDON:
Ach! Ich hasse es, mich bilden zu lassen!
MRS. MARCHMONT: Ich auch. Es bringt einen fast auf eine Ebene mit den
kommerziellen Schichten, nicht wahr? Aber die liebe Gertrude Chiltern
redet mir ständig vor, ich sollte ein ernsthaftes Lebensziel haben. Also
komme ich her und versuche, eins zu finden.
LADY BASILDON blickt durch ihre
Lorgnette in die Runde: Ich sehe hier heute Abend niemand, den man möglicherweise
als ernsthaftes Ziel bezeichnen könnte. Der Mensch, der mich zum Essen führte,
hat mir die ganze Zeit von seiner Frau erzählt.
MRS. MARCHMONT:
Wie trivial!
LADY BASILDON: Schrecklich trivial! Worüber
hat Ihrer geredet?
MRS. MARCHMONT: Über mich.
LADY BASILDON matt: Und hat es
Sie interessiert?
MRS. MARCHMONT schüttelt den Kopf: Nicht
im geringsten.
LADY BASILDON: Was sind wir doch für Märtyrerinnen, liebe Margaret!
MRS. MARCHMONT steht auf: Und
wie gut kleidet es uns, Olivia!
Sie erheben
sich und gehen zum Musikzimmer. Der Vicomte de
Nanjac, ein junger, für seine
Krawatten und seine Anglomanie bekannter Attaché, nähere sich mit einer
tiefen Verbeugung und knüpft
ein Gespräch an.
MASON meldet auf dem
Treppenansatz Gäste: Mr. und Lady Jane Barford. Lord Caversham.
Lord
Caversham, ein alter Herr von Siebzig, tritt auf, er trägt
Band und Stern des Hosenbandordens.
Ein vortrefflicher Whig- Typus. Fast wie ein Porträt von Lawrence.
LORD CAVERSHAM: Guten Abend, Lady Chiltern! Ist mein junger
Nichtsnutz von Sohn hier?
LADY CHILTERN lächelnd: Ich
glaube, Lord Goring ist noch nicht gekommen.
MABEL CHILTERN tritt auf
Lord Caversham zu: Warum schimpfen Sie Lord Goring einen Nichtsnutz?
Mabel
Chiltern ist ein vollendetes Beispiel für den englischen Typus von Schönheit,
den Apfelblütentypus. Sie besitzt die ganze
Zartheit und Natürlichkeit einer
Blume. Ein unaufhörliches Geriesel von Sonnenlicht ist in ihrem Haar, und
der kleine Mund mit den halb geöffneten
Lippen ist erwartungsvoll wie der Mund eines Kindes.
Die entzückende Tyrannei der Jugend und die erstaunliche Beherztheit
der Unschuld ist ihr eigen. Nüchterne Leute erinnert sie nicht
an irgendein Kunstwerk. Doch in Wahrheit gleicht sie einem Tanagrafigürchen
und wäre recht ungehalten, wenn man es ihr sagte.
LORD CAVERSHAM: Weil er ein so müßiges Leben führt.
MABEL CHILTERN: Wie können Sie so etwas sagen? Er reitet um zehn Uhr
vormittags durch die Rotten Row, geht dreimal wöchentlich in die Oper,
wechselt seine Kleidung wenigstens fünfmal am Tag und speist in der
Saison jeden Abend außer Haus. Das können Sie doch nicht ein müßiges
Leben nennen?
LORD CAVERSHAM sieht sie mit
freundlichem Augenzwinkern an: Sie sind eine ganz bezaubernde junge
Dame!
MABEL CHILTERN: Wie reizend von Ihnen, das zu sagen, Lord Caversham!
Kommen Sie bitte häufiger zu uns. Sie wissen, wir empfangen jeden
Mittwoch, und Sie sehen so gut aus mit Ihrem Orden!
LORD CAVERSHAM: Gehe jetzt nie mehr wohin. Hab die Londoner Gesellschaft
satt. Würde mir nichts ausmachen, wenn mir mein eigener Schneider
vorgestellt wird, er stimmt immer für die richtige Seite. Habe jedoch
entschieden etwas dagegen, die Putzmacherin meiner Frau zu Tisch führen
zu müssen. Kann Lady Cavershams Hüte nicht ausstehen.
MABEL CHILTERN: Oh, ich liebe die Londoner Gesellschaft! Ich glaube, sie
hat sich ungeheuer verbessert. Sie besteht jetzt durchweg aus schönen
Schwachköpfen und brillanten Irren. Genau so, wie die Gesellschaft sein
sollte.
LORD CAVERSHAM:
Hm. Und was ist Goring? Ein schöner Schwachkopf - oder das andere?
MABEL CHILTERN ernst: Ich habe
mich genötigt gesehen, Lord Goring vorerst in eine Klasse für sich
einzustufen. Aber er entwickelt sich reizend.
LORD CAVERSHAM:
Wozu?
MABEL CHILTERN mit einem kleinen Knicks: Das
hoffe ich Ihnen sehr bald sagen zu können, Lord Caversham!
MASON meldet
Gäste: Lady Markby, Mrs. Cheveley.
Lady Markby und Mrs. Cheveley treten auf. Lady Markby
ist eine heitere, freundliche,
allseits beliebte Frau mit á la marquise
frisiertem grauem Haar und echten
Spitzen. Mrs. Cheveley, die sie begleitet,
ist groß und ziemlich schlank. Sehr dünne und stark gefärbte Lippen,
ein scharlachroter Strich in einem bleichen
Gesicht. Venezianischrotes Haar,
Adlernase und langer Hals. Rouge unterstreicht die natürliche Blässe
ihrer Haut. Graugrüne Augen, die sich
ruhelos bewegen. Sie ist in Heliotrop, mit Diamanten. Sie gleicht etwas
einer Orchidee und stellt erhebliche Forderungen an die Neugier. In all ihren
Bewegungen ist sie ungewöhnlich graziös. Alles in allem ein Kunstwerk, das jedoch den Einfluss zu
vieler Schulen
erkennen lässt.
LADY MARKBY: Guten Abend, liebe Gertrude! So lieb von Ihnen, dass
ich meine Freundin, Mrs. Cheveley, mitbringen durfte. Zwei so bezaubernde
Frauen sollten einander kennen lernen!
LADY CHILTERN geht mit einem
gewinnenden Lächeln auf Mrs.
Cheveley zu. Plötzlich bleibt sie stehen und neigt recht kühl den Kopf: Mir scheint, Mrs. Cheveley und ich sind uns schon früher
begegnet. Ich wusste nicht, dass sie ein zweites Mal geheiratet hat.
LADY MARKBY munter: Ach,
heutzutage heiraten die Leute sooft sie nur können, nicht wahr? Das ist
die große Mode. Zur Herzogin
von Maryborough. Liebe Herzogin, wie geht es dem Herzog? Vermutlich
immer noch schwach bei Verstand? Nun, das war ja wohl nicht anders zu
erwarten. Seinem guten Vater erging's genauso. Es geht doch nichts über
Rasse, nicht wahr?
MRS. CHEVELEY spielt mit ihrem Fächer:
Sind wir uns wirklich schon früher begegnet, Lady Chiltern? Ich kann
mich nicht erinnern, wo. Ich habe so lange fern von England gelebt.
LADY CHILTERN: Wir waren zusammen in der Schule, Mrs. Cheveley.
MRS. CHEVELEY hochmütig:
Wirklich? Ich habe alles aus meiner Schulzeit vergessen. Ich habe den
vagen Eindruck, dass sie abscheulich war.
LADY CHILTERN kühl: Das überrascht
mich nicht!
MRS. CHEVELEY äußerst liebenswürdig:
Wissen Sie, ich freue mich darauf, Ihren tüchtigen Gatten kennen
zulernen, Lady Chiltern. Seit er im Außenministerium ist, wird in Wien so
viel von ihm gesprochen. In den Zeitungen wird tatsächlich sein Name
richtig geschrieben. Das bedeutet auf dem Festland an sich schon Ruhm.
LADY CHILTERN: Ich glaube kaum, dass es zwischen Ihnen und meinem Gatten
viel Gemeinsames geben wird, Mrs. Cheveley! Entfernt sich.
VICOMTE DE NANJAC:
Ah, chérie Madame, quelle surprise! Seit
Berlin habe ich Sie nicht gesehen.
MRS. CHEVELEY: Seit Berlin nicht, Vicomte. Das ist fünf Jahre her!
VICOMTE DE NANJAC: Und Sie sind jünger und schöner denn je. Wie bringen
Sie das fertig?
MRS. CHEVELEY: Indem ich es mir zur Regel mache, nur mit ausnehmend
reizenden Leuten wie Ihnen zu plaudern.
VICOMTE DE NANJAC:
Ah! Sie schmeicheln mir. Sie gehen mir um den Bart, wie man hier sagt.
MRS. CHEVELEY:
So? Sagt man das hier? Wie grässlich!
VICOMTE DE NANJAC: Ja, die Sprache hier ist wundervoll. Sie sollte weithin
bekannt sein.
Sir Robert
Chiltern tritt auf. Ein Mann von vierzig, sieht jedoch
etwas jünger aus. Glattrasiert, mit
wohlgeschnittenen Zügen; dunkles
Haar und dunkle Augen. Eine markante Persönlichkeit. Nicht volkstümlich - das sind wenige Persönlichkeiten. Aber ungeheuer
bewundert von den wenigen und hochgeachtet von den vielen. Sein Benehmen
zeichnet sich durch vollendete Würde aus, mit einem leichten Anflug von Hochmut. Man spürt, dass er sich seines Erfolgs
im Leben bewusst ist. Ein reizbares Temperament, mit müdem
Blick. Der hart gemeißelte Mund und das ebenso gebildete Kinn stehen in auffallendem Gegensatz zu dem romantischen Ausdruck in
den tiefliegenden Augen. Dieser Widerspruch deutet auf eine nahezu vollständige Trennung von Leidenschaft und Intellekt hin,
als wären Denken und Fühlen durch einen Gewaltakt der Willenskraft
jedes für sich in seinem Wirkungsbereich isoliert. Reizbarkeit liegt in den Nasenflügeln und den blassen, schlanken und
spitz zulaufenden Händen. Es wäre nicht zutreffend, ihn malerisch zu
nennen. Malerisches kann das Unterhaus nicht überleben. Aber Van Dyck hätte
wohl gern seinen Kopf gemalt.
SIR ROBERT CHILTERN: Guten Abend, Lady Markby. Ich hoffe, Sie haben
Sir John mitgebracht?
LADY MARKBY:
Oh! Ich habe eine viel reizendere Person als Sir John mitgebracht. Sir
Johns Laune ist, seit er sich ernstlich mit Politik beschäftigt, einfach
unerträglich geworden. Wahrhaftig, nun da das Unterhaus versucht, sich nützlich
zu machen, richtet es eine Menge Schaden an.
SIR ROBERT CHILTERN: Das will ich nicht hoffen, Lady Markby. Auf jeden
Fall tun wir doch unser Bestes, die Zeit der Öffentlichkeit zu
verschwenden? Aber wer ist diese reizende Person, die Sie
freundlicherweise zu uns mitgebracht haben?
LADY MARKBY:
Ihr Name ist Mrs. Cheveley! Eine von den
Cheveleys in Dorsetshire, nehme ich an. Aber ich weiß es wirklich nicht.
Familien sind heutzutage so durcheinandergemengt. Tatsächlich stellt sich
in der Regel jeder als jemand anders heraus.
SIR ROBERT
CHILTERN: Mrs. Cheveley? Der Name kommt mir
bekannt vor.
LADY MARKBY: Sie ist eben aus Wien gekommen.
SIR ROBERT CHILTERN: Ach ja! Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen.
LADY MARKBY:
Oh! Dort geht sie überallhin, und sie weiß so amüsante
Skandalgeschichten von all ihren Freunden. Ich muss wirklich nächsten
Winter nach Wien fahren. Ich hoffe, die dortige Botschaft hat einen guten
Küchenchef.
SIR ROBERT CHILTERN: Wenn nicht, dann wird man den Botschafter zweifellos
abrufen. Bitte zeigen Sie mir Mrs. Cheveley. Ich möchte sie gern sehen.
LADY MARKBY: Erlauben Sie, dass ich Sie bekannt mache. Zu Mrs. Cheveley. Meine Liebe, Sir Robert Chiltern stirbt vor Verlangen, Sie kennen
zulernen!
SIR ROBERT CHILTERN verneigt sich: Jeder
stirbt vor Verlangen, die glänzende Mrs. Cheveley kennen zulernen.
Unsere Attachés in Wien schreiben uns über nichts anderes.
MRS. CHEVELEY:
Vielen Dank, Sir Robert. Eine
Bekanntschaft, die mit einem Kompliment beginnt, hat alle Aussicht, sich
zu einer echten Freundschaft zu entwickeln. Sie beginnt auf die rechte
Art. Und ich habe entdeckt, dass ich Lady Chiltern bereits kenne.
SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie nicht sagen!
MRS. CHEVELEY:
Ja. Sie hat mich eben daran erinnert, dass wir zusammen in der Schule
waren. Ich entsinne mich jetzt. Sie bekam stets den Preis für gutes
Betragen. Ich weiß genau, dass Lady Chiltern stets den Preis für gutes
Betragen erhielt.
SIR ROBERT CHILTERN lächelnd:
Und welche Preise erhielten Sie, Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY: Meine Preise stellten sich etwas später im Leben ein. Ich
glaube nicht, dass einer davon für gutes Betragen war. Ich hab's
vergessen!
SIR ROBERT CHILTERN: Ganz gewiss waren sie für etwas Reizendes!
MRS. CHEVELEY: Ich weiß nicht, ob Frauen immer dafür belohnt werden,
wenn sie reizend sind. Ich glaube, gewöhnlich werden sie dafür bestraft!
Bestimmt altern heutzutage mehr Frauen durch die Treue ihrer Anbeter als
durch sonst etwas! Zumindest kann ich mir nur so das schrecklich abgehärmte
Aussehen der meisten hübschen Frauen in London erklären!
SIR ROBERT CHILTERN: Nach welch einer schauderhaften Philosophie das
klingt! Der Versuch, Sie einzustufen, Mrs. Cheveley, wäre eine Unverschämtheit.
Aber darf ich Sie fragen, ob Sie im Innern eine Optimistin oder eine
Pessimistin sind? Das scheinen die beiden einzigen beliebten Religionen zu
sein, die uns heutzutage geblieben sind.
MRS. CHEVELEY: Oh, ich bin weder das eine noch das andere. Optimismus
beginnt mit einem breiten Grinsen, und Pessimismus endet mit einer blauen
Brille. Außerdem sind beide nur Pose.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie ziehen es vor, natürlich zu sein?
MRS. CHEVELEY:
Mitunter. Aber diese Pose ist so schwer
aufrechtzuerhalten.
SIR ROBERT CHILTERN: Was würden die modernen psychologischen Romanciers,
von denen wir so viel hören, zu einer solchen Theorie sagen?
MRS. CHEVELEY:
Ach! Die Stärke der Frauen rührt aus der Tatsache her, dass die
Psychologie uns nicht zu deuten vermag. Männer kann man analysieren,
Frauen ... nur anbeten.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie meinen, die Wissenschaft kann das Problem Frau
nicht bewältigen?
MRS. CHEVELEY: Nie kann die Wissenschaft das Irrationale bewältigen.
Darum hat sie auf dieser Welt auch keine Zukunft.
SIR ROBERT CHILTERN: Und Frauen verkörpern das Irrationale.
MRS. CHEVELEY: Ja, gutgekleidete Frauen.
SIR ROBERT CHILTERN mit einer höflichen
Verneigung: Ich fürchte, darin könnte ich schwerlich mit Ihnen übereinstimmen.
Aber setzen wir uns doch. Und jetzt erzählen Sie mir, warum Sie Ihr
strahlendes Wien verlassen haben und in unser düsteres London gekommen
sind - oder vielleicht ist die Frage indiskret?
MRS. CHEVELEY: Fragen sind nie indiskret. Antworten bisweilen.
SIR ROBERT CHILTERN: Nun, darf ich jedenfalls erfahren, ob es sich um
Politik oder Vergnügen handelt?
MRS. CHEVELEY: Die Politik ist mein einziges Vergnügen. Verstehen Sie,
heutzutage ist es unmodern, zu flirten, ehe man vierzig ist, oder
romantisch zu sein, ehe man fünfundvierzig ist, deshalb steht uns armen
Frauen, die wir unter Dreißig sind, oder es zu sein behaupten, nichts
offen als die Politik oder die Philanthropie. Und die Philanthropie,
scheint mir, ist einfach die Zukunft solcher Leute geworden, die ihre
Mitmenschen zu belästigen wünschen. Ich ziehe die Politik vor. Ich halte
sie für ... kleidsamer.
SIR ROBERT CHILTERN: Ein politisches Leben ist eine erhabene Laufbahn.
MRS. CHEVELEY:
Mitunter. Und manchmal ist es ein geschicktes
Spiel, Sir Robert. Und bisweilen eine große Plage.
SIR ROBERT CHILTERN: Und wofür halten Sie es?
MRS. CHEVELEY: Für eine Verbindung von allen dreien. Lässt ihren Fächer fallen.
SIR ROBERT CHILTERN hebt den Fächer
auf: Gestatten Sie!
MRS. CHEVELEY: Danke.
SIR ROBERT CHILTERN: Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie
veranlasst, so unvermutet London zu beehren. Die Saison ist fast vorbei.
MRS. CHEVELEY:
Oh! Aus der Londoner Saison mache ich mir nichts! Sie ist zu ...
ehelich. Entweder jagen die Leute Ehegatten nach oder verstecken sich vor
ihnen. Ich wollte Sie kennen lernen. Das ist die reine Wahrheit. Sie
wissen, wie die Neugier einer Frau beschaffen ist. Fast so groß wie die
eines Mannes. Ich hatte ungeheures Verlangen danach, Sie kennen zulernen
und ... Sie zu bitten, dass Sie etwas für mich tun.
SIR ROBERT CHILTERN: Hoffentlich ist es keine Kleinigkeit, Mrs. Cheveley.
Ich finde, in Kleinigkeiten lässt sich so schwer etwas tun.
MRS. CHEVELEY nachdem sie einen
Augenblick überlegt hat: Nein, ich glaube, dass es mehr als eine
Kleinigkeit ist.
SIR ROBERT CHILTERN: Das freut mich sehr. Sagen Sie mir, was es ist.
MRS. CHEVELEY:
Später. Steht auf. Und darf ich jetzt durch Ihr schönes Haus spazieren? Sie sollen
bezaubernde Gemälde haben. Der arme Baron Arnheim - Sie erinnern sich an
den Baron? - hat mir oft erzählt, dass sie ein paar wundervolle Corots
besäßen.
SIR ROBERT CHILTERN mit einem fast
unmerklichen Erschrecken: Kannten Sie Baron Arnheim gut?
MRS. CHEVELEY lächelnd: Sehr
nahe. Und Sie?
SIR ROBERT CHILTERN: Irgendwann.
MRS. CHEVELEY: Ein wundervoller Mensch war er, nicht wahr?
SIR ROBERT CHILTERN nach einer
Pause: Er war sehr bemerkenswert, in mehrfacher Hinsicht.
MRS. CHEVELEY: Ich denke oft, wie schade es ist, dass er nicht seine
Memoiren geschrieben hat. Sie wären ungemein interessant gewesen.
SIR ROBERT CHILTERN: Ja: er kannte Menschen und Städte, wie der, alte
Grieche.
MRS. CHEVELEY: Ohne den schrecklichen Nachteil, dass zu Hause eine
Penelope auf ihn wartete.
MANSON: Lord Goring.
Lord Goring
tritt auf. Vierunddreißig, behauptet jedoch stets,
jünger zu sein. Ein manierliches,
ausdrucksloses Gesicht. Er ist gescheit,
möchte aber nicht gern dafür gehalten werden. Als makellosem Dandy wäre
es ihm verdrießlich, für romantisch zu gelten. Er spielt mit dem Leben und steht mit der Gesellschaft auf ausgemacht gutem
Fuß. Er liebt es, missverstanden zu werden. Das gibt ihm
eine überlegene Stellung.
SIR ROBERT CHILTERN: Guten Abend, mein lieber Arthur! Mrs. Cheveley,
gestatten Sie, dass ich Ihnen Lord Goring vorstelle, den müßigsten Mann
von London.
MRS. CHEVELEY: Ich bin Lord Goring schon früher begegnet.
LORD GORING verneigt sich: Ich
glaubte nicht, dass Sie sich meiner erinnern würden, Mrs. Cheveley.
MRS. CHEVELEY: Mein Gedächtnis habe ich wunderbar in der Gewalt. Und sind
Sie immer noch Junggeselle?
LORD GORING: Ich ... glaube, ja.
MRS. CHEVELEY: Wie höchst romantisch!
LORD GORING:
Oh! Ich bin überhaupt nicht romantisch. Dazu bin ich nicht alt genug.
Die Romantik überlasse ich solchen, die älter sind als ich.
SIR ROBERT CHILTERN: Lord Goring ist das Produkt des Boodle-Klubs, Mrs.
Cheveley.
MRS. CHEVELEY: Er macht dieser Institution alle Ehre.
LORD GORING: Darf ich fragen, ob Sie lange in London bleiben?
MRS. CHEVELEY: Das hängt von verschiedenem ab, teils vom Wetter, teils
von der Kochkunst und teils von Sir Robert.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie wollen uns doch hoffentlich nicht in einen europäischen
Krieg stürzen?
MRS. CHEVELEY: Dafür besteht im Augenblick keine Gefahr!
Sie nickt
Lord Goring mit einem vergnügten Blick zu und geht mit
Sir Robert hinaus. Lord Goring
schlendert auf Mabel Chiltern zu.
MABEL CHILTERN: Sie sind sehr spät gekommen!
LORD GORING: Haben Sie mich vermisst?
MABEL CHILTERN: Fürchterlich!
LORD GORING: Dann tut es mir leid, dass ich nicht noch länger
ferngeblieben bin. Ich habe es gern, vermisst zu werden.
MABEL CHILTERN: Wie selbstsüchtig von Ihnen!
LORD GORING: Ich bin sehr selbstsüchtig.
MABEL CHILTERN: Sie erzählen mir immer von Ihren schlechten
Eigenschaften, Lord Goring.
LORD GORING: Ich habe Ihnen bis jetzt erst die Hälfte davon gestanden,
Miss Mabel!
MABEL CHILTERN: Sind die andern sehr schlimm?
LORD GORING: Ganz schrecklich! Wenn ich nachts an sie denke, schlafe ich
sofort ein.
MABEL CHILTERN: Also mir gefallen Ihre schlechten Eigenschaften. Ich möchte
nicht, dass Sie sich auch nur von einer einzigen trennen.
LORD GORING: Wie liebenswürdig von Ihnen! Aber Sie sind ja immer liebenswürdig.
Übrigens möchte ich Sie etwas fragen, Miss Mabel. Wer hat Mrs. Cheveley
hergebracht? Die Frau in Heliotrop, die eben mit Ihrem Bruder den Saal
verließ?
MABEL CHILTERN: Oh, ich glaube, Lady Markby hat sie mitgebracht. Warum
fragen Sie?
LORD GORING: Ich habe sie jahrelang nicht gesehen, weiter nichts.
MABEL CHILTERN: Was für ein alberner Grund!
LORD GORING: Alle Beweggründe sind albern.
MABEL CHILTERN: Was ist sie für eine Frau?
LORD GORING:
Oh! Am Tag ein Genie und nachts eine Schönheit!
MABEL CHILTERN: Sie missfällt mir bereits.
LORD GORING: Das beweist Ihren bewundernswert guten Geschmack.
VICOMTE DE NANJAC tritt zu
ihnen: Ah, die englische junge Dame ist der Drache des guten
Geschmacks, nicht wahr? Ja, der Drache des guten Geschmacks.
LORD GORING: Jedenfalls reden uns das die Zeitungen ständig vor.
VICOMTE DE NANJAC: Ich lese all Ihre englischen Zeitungen. Ich finde sie
so amüsant.
LORD GORING: Dann, mein lieber Nanjac, müssen Sie wahrhaftig zwischen den
Zeilen lesen.
VICOMTE DE NANJAC: Das würde ich gern, aber mein Lehrer ist dagegen. Zu
Mabel Chiltern. Darf ich das Vergnügen haben, Sie ins Musikzimmer zu
geleiten, Mademoiselle?
MABEL CHILTERN mit sehr
enttäuschtem Gesicht: Mit Freuden, Vicomte, mit großer Freude! Zu
Lord Goring. Kommen Sie auch ins Musikzimmer?
LORD GORING: Nicht, solange da noch Musik gemacht wird, Miss Mabel.
MABEL CHILTERN streng: Es ist
deutsche Musik. Sie würden sie nicht verstehen. Geht mit dem Vicomte de Nanjac
hinaus. Lord Caversham tritt zu
seinem Sohn.
LORD CAVERSHAM: Na, mein Herr Sohn? Was machst du hier? Verplemperst
wie gewöhnlich dein Leben! Du solltest im Bett liegen, mein Herr Sohn. Du
bleibst zu lange auf! Hörte, dass du neulich bei Lady Rufford bis morgens
um vier getanzt hast!
LORD GORING: Bloß bis dreiviertel vier, Vater.
LORD CAVERSHAM: Kann nicht dahinterkommen, wie du die englische
Gesellschaft erträgst. Sie ist auf den Hund gekommen, ein Haufen Niemande,
die über nichts reden.
LORD GORING: Ich liebe es, über nichts zu reden, Vater. Das ist das
einzige, wovon ich etwas verstehe.
LORD CAVERSHAM: Mir scheint, du lebst einzig und allein für dein Vergnügen.
LORD GORING: Wofür sollte man denn sonst leben, Vater?
LORD CAVERSHAM: Du bist herzlos, einfach herzlos.
LORD GORING: Ich hoffe, nicht, Vater. Guten Abend, Lady Basildon!
LADY BASILDON wölbt zwei hübsche
Augenbrauen: Sie hier? Ich hatte keine Ahnung, dass Sie jemals
politische Gesellschaften besuchen.
LORD GORING: Ich liebe politische Gesellschaften. Das ist der einzige Ort,
der uns geblieben ist, wo die Leute nicht über Politik reden.
LADY BASILDON: Ich rede gern über Politik. Ich rede den ganzen Tag darüber.
Aber ich kann es nicht ausstehen, darüber reden zu hören. Ich weiß
nicht, wie die Unglücklichen im Parlament diese langen Debatten ertragen.
LORD GORING: Indem sie nicht zuhören.
LADY BASILDON: Wirklich?
LORD GORING so ernst, wie es ihm möglich
ist: Natürlich. Verstehen Sie, es ist sehr gefährlich, zuzuhören. Hört
man zu, kann man überzeugt werden, und wer sich durch ein Argument überzeugen
lässt, ist ein von Grund auf unvernünftiger Mensch.
LADY BASILDON:
Ach! Das erklärt so vieles an den Männern, was ich nie verstanden
habe, und so vieles an den Frauen, was ihre Ehemänner niemals an ihnen
schätzen.
MRS. MARCHMONT mit einem Seufzer: Unsere
Ehemänner schätzen nie etwas an uns. Um das zu haben, müssen wir zu
anderen gehen!
LADY BASILDON nachdrücklich: Ja,
immer zu anderen, nicht wahr?
LORD GORING lächelnd: Und das
sind die Ansichten der beiden Damen, die dafür bekannt sind, die
vortrefflichsten Ehegatten in London zu besitzen.
MRS. MARCHMONT: Das ist es ja gerade, was wir nicht ertragen können. Mein
Reginald ist einfach zum Verzweifeln untadelig. Deswegen ist er bisweilen
unerträglich! Die Bekanntschaft mit ihm bietet einem nicht den
allergeringsten Anreiz.
LORD GORING: Wie schrecklich! Das sollte wahrhaftig in größerem Umfang
bekannt werden.
LADY BASILDON: Basildon ist genauso arg, er ist so häuslich, als wäre er
Junggeselle.
MRS. MARCHMONT drückt Lady Basildon
die Hand: Meine arme Olivia! Wir haben vollkommene Ehemänner
geheiratet, und dafür sind wir tüchtig bestraft.
LORD GORING: Ich hätte gemeint, die Ehemänner sind es, die gestraft
sind.
MRS. MARCHMONT reckt sich empor: O
Himmel, nein! Die sind denkbar glücklich! Und was ihr Vertrauen zu uns
betrifft, es ist tragisch, wie sehr sie uns vertrauen.
LADY BASILDON: Ausgemacht tragisch!
LORD GORING: Oder komisch, Lady Basildon?
LADY BASILDON: Ganz gewiss nicht komisch, Lord Goring. Wie unfreundlich
von Ihnen, dergleichen anzudeuten!
MRS. MARCHMONT: Ich fürchte, Lord Goring befindet sich wie gewöhnlich im
Lager des Feindes. Ich sah ihn mit Mrs. Cheveley sprechen, als ich
hereinkam.
LORD GORING: Hübsche Frau, diese Mrs. Cheveley!
LADY BASILDON steif: Bitte rühmen
Sie nicht andere Frauen in unserer Gegenwart. Sie könnten abwarten, bis
wir es tun!
LORD GORING: Ich habe gewartet.
MRS. MARCHMONT: Nun, wir werden sie nicht rühmen. Sie soll Montagabend in
die Oper gegangen sein und hinterher beim Essen zu Tommy Rufford gesagt
haben, soweit sie erkennen könne, bestehe die Londoner Gesellschaft
durchweg aus altmodischen Schlampen und Modefexen.
LORD GORING: Womit sie auch völlig recht hat. Alle Männer sind
altmodische Schlampen und alle Frauen Modefexe, nicht wahr?
MRS. MARCHMONT nach einer Pause: Oh!
Glauben Sie wirklich, dass Mrs. Cheveley es so gemeint hat?
LORD GORING: Natürlich. Und obendrein ist das eine sehr gescheite
Bemerkung von Mrs. Cheveley.
Mabel
Chiltern tritt ein. Sie gesellt sich zu der Gruppe.
MABEL CHILTERN: Warum reden Sie über Mrs. Cheveley? Alle reden über
Mrs. Cheveley! Lord Goring sagt - was sagten Sie von Mrs. Cheveley, Lord
Goring? Oh! Ich erinnere mich: sie sei bei Tag ein Genie und nachts eine
Schönheit.
LADY BASILDON: Welch abscheuliche Kombination! So durchaus unnatürlich!
MRS. MARCHMONT so träumerisch, wie
es ihr möglich ist: Ich liebe es, Genies anzuschauen und schönen
Leuten zuzuhören.
LORD GORING: Wie morbid von Ihnen, Mrs. Marchmont!
MRS. MARCHMONT erstrahlt zu einem
Ausdruck echter Freude: Es freut mich so, das von Ihnen zu hören.
Marchmont und ich sind seit sieben Jahren verheiratet, und nicht ein
einziges Mal hat er mir gesagt, ich sei morbid. Männer sind so peinlich
unaufmerksam.
LADY BASILDON zu ihr gewandt:
Liebe Margaret, ich habe stets behauptet, Sie seien die morbideste Person
von London.
MRS. MARCHMONT:
Ach! Aber Sie sind ja stets eine gleichgestimmte Seele, Olivia!
MABEL CHILTERN: Ist es morbid, Verlangen nach Essen zu haben? Ich habe großes
Verlangen zu essen. Lord Goring, wollen Sie mir dazu verhelfen?
LORD GORING: Mit Vergnügen, Miss Mabel. Entfernt
sich mit ihr.
MABEL CHILTERN: Wie abscheulich Sie gewesen sind! Den ganzen Abend
haben Sie nicht mit mir gesprochen!
LORD GORING: Wie konnte ich? Sie sind ja mit diesem Diplomatenknaben
weggegangen.
MABEL CHILTERN: Sie hätten uns folgen können. Das wäre nicht mehr als höflich
gewesen. Ich glaube nicht, dass Sie mir heute Abend überhaupt gefallen!
LORD GORING: Sie gefallen mir ungeheuer.
MABEL CHILTERN: Nun, dann wünschte ich, Sie zeigten es etwas deutlicher!
Sie gehen
die Treppe hinab.
MRS. MARCHMONT: Olivia, ich habe ein merkwürdiges Gefühl völliger
Schwäche. Ich glaube, etwas zu essen würde mir sehr zusagen. Ich weiß,
etwas zu essen würde mir zusagen.
LADY BASILDON: Ich sterbe einfach vor Verlangen nach Essen, Margaret!
MRS. MARCHMONT: Männer sind so schrecklich selbstsüchtig, nie denken sie
an dergleichen.
LADY BASILDON: Männer sind im höchsten Grade materiell, im höchsten
Grade materiell!
Der Vicomte
de Nanjac tritt mit einigen anderen Gästen aus
dem Musikzimmer. Nachdem er alle
Anwesenden sorgfältig gemustert hat, nähert er sich Lady Basildon.
VICOMTE DE NANJAC: Darf ich die Ehre haben, Sie zum Essen
hinunterzuführen, Comtesse?
LADY BASILDON kühl: Vielen
Dank, Vicomte, ich speise niemals zur Nacht. Der
Vicomte will sich zurückziehen. Lady Basildon bemerkt es, erhebt sich
sofort und nimmt seinen Arm. Aber ich werde Sie mit Vergnügen hinunterbegleiten.
VICOMTE DE NANJAC: Ich liebe es so sehr, zu speisen! Ich bin in all meinen
Neigungen sehr englisch.
LADY BASILDON: Sie sehen ganz und gar englisch aus, Vicomte, ganz und gar
englisch.
Sie gehen
hinaus. Mr. Montford, ein vollendet geschniegelter
und gebügelter junger Dandy, tritt
zu Mrs. Marchmont.
MR. MONTFORD: Möchten Sie nicht was essen, Mrs. Marchmont?
MRS. MARCHMONT matt: Vielen
Dank, Mr. Montford, ich rühre zur Nacht keinen Bissen an. Steht hastig auf und nimmt seinen
Arm. Aber ich werde neben Ihnen sitzen und Ihnen zuschauen.
MR. MONTFORD: Ich glaube nicht, dass ich mir beim Essen gern zusehen
lasse!
MRS. MARCHMONT: Dann werde ich jemand anders zuschauen.
MR. MONTFORD: Ich glaube, das würde mir eben sowenig gefallen.
MRS. MARCHMONT streng: Bitte,
Mr. Montford, lassen Sie diese peinlichen Eifersuchtsszenen in der Öffentlichkeit!
Sie gehen
mit den anderen Gästen die Treppe hinab und kommen
an Sir Robert Chiltern und Mrs.
Cheveley vorbei, die jetzt
eintreten.
SIR ROBERT CHILTERN: Und gedenken Sie eins von unsern Landhäusern
zu besuchen, ehe Sie England verlassen, Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY:
O nein! Ich kann eure englischen Hausgesellschaften nicht ausstehen. In
England versuchen die Leute wahrhaftig, beim Frühstück zu glänzen. Das
ist so schrecklich an ihnen! Nur fade Leute glänzen beim Frühstück. Und
außerdem pflegt das Familienskelett die Hausgebete zu lesen. Mein
Aufenthalt in England hängt tatsächlich von Ihnen ab, Sir Robert. Setzt
sich aufs Sofa.
SIR ROBERT CHILTERN nimmt in
einem Sessel neben ihr Platz: Im Ernst?
MRS. CHEVELEY: Ganz im Ernst. Ich möchte mit Ihnen über ein bedeutendes
politisches und finanzielles Projekt sprechen, kurz und gut, über diese
argentinische Kanalgesellschaft.
SIR ROBERT CHILTERN: Welch langweiliges sachliches Gesprächsthema für
Sie, Mrs. Cheveley!
MRS. CHEVELEY: Oh, ich liebe langweilige sachliche Themen. Was ich nicht
liebe, sind langweilige sachliche Leute. Das ist ein großer Unterschied.
Außerdem weiß ich, dass Sie an internationalen Kanalprojekten
interessiert sind. Sie waren doch Lord Radleys Sekretär, als die
Regierung die Suezkanal-Aktien kaufte?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja. Aber der Suezkanal war ein sehr bedeutendes und
großartiges Unternehmen. Er verschaffte uns den geraden Weg nach Indien.
Er hatte Wert für das Britische Reich. Es war unerlässlich für uns, die
Kontrolle zu erhalten. Dieses argentinische Projekt ist ein ganz gewöhnlicher
Börsenschwindel.
MRS. CHEVELEY: Eine Spekulation, Sir Robert! Eine glänzende, kühne
Spekulation.
SIR ROBERT CHILTERN: Glauben Sie mir, Mrs. Cheveley, es ist ein Schwindel.
Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen. Es vereinfacht die Sache. Wir
im Außenministerium haben vollständige Informationen darüber. Tatsächlich
habe ich eine Sonderkommission hingeschickt, unter der Hand Erkundigungen
einzuziehen, und ihre Berichte lauten, dass die Arbeiten kaum begonnen
haben, und was das bereits gezeichnete Geld betrifft, so scheint keiner zu
wissen, was damit geworden ist. Die ganze Sache ist ein zweites Panama,
und nicht mit einem Viertel der Aussicht auf Erfolg, die jene unselige Affäre
jemals hatte. Hoffentlich haben Sie da nichts investiert. Ich bin gewiss,
Sie sind viel zu gescheit, um das getan zu haben.
MRS. CHEVELEY: Ich habe sehr erhebliche Summen investiert.
SIR ROBERT CHILTERN: Wer könnte Ihnen etwas so Törichtes geraten haben?
MRS. CHEVELEY: Ihr alter Freund - und der meine.
SIR ROBERT
CHILTERN: Wer?
MRS. CHEVELEY: Baron Arnheim.
SIR ROBERT CHILTERN runzelt die Stirn: Ach ja!
Ich erinnere mich, dass ich zur Zeit seines Ablebens hörte, er sei in die
Sache verwickelt gewesen.
MRS. CHEVELEY: Es war sein letztes Abenteuer. Sein vorletztes, um ihm
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Aber
Sie haben noch nicht meine Corots gesehen. Sie hängen im Musikzimmer.
Corots passen zu Musik, nicht wahr? Darf ich sie Ihnen zeigen?
MRS. CHEVELEY schüttelt den Kopf: Ich
bin heute Abend nicht in der Stimmung für silbernes Zwielicht und
rosenfarbenes Morgendämmern. Ich möchte über Geschäfte reden. Winkt ihm mit ihrem
Fächer, sich wieder neben sie
zu setzen.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich fürchte, ich kann Ihnen keinen Rat geben,
Mrs. Cheveley, außer, dass Sie sich für etwas weniger Gefährliches
interessieren. Der Erfolg des Kanals hängt natürlich von der Haltung
Englands ab, und ich werde morgen Abend dem Parlament den Bericht der
Kommissionsmitglieder vorlegen.
MRS. CHEVELEY: Das dürfen Sie nicht. In Ihrem eigenen Interesse, Sir
Robert, gar nicht zu reden von meinem, dürfen Sie das nicht tun.
SIR ROBERT CHILTERN blickt sie
erstaunt an: In meinem eigenen Interesse? Meine liebe Mrs. Cheveley,
was soll das heißen? Setzt sich
neben sie.
MRS. CHEVELEY: Sir Robert, ich will ganz offen mit Ihnen reden. Ich möchte,
dass Sie den Bericht, den Sie dem Parlament vorzulegen gedenken, zurückziehen,
mit der Begründung, Sie hätten Anlass zu glauben, die
Kommissionsmitglieder seien voreingenommen oder falsch informiert worden,
oder sonst dergleichen. Überdies möchte ich, dass Sie ein paar Worte
etwa in dem Sinne sagen, die Regierung werde die Frage noch einmal erwägen
und Sie hätten Ursache zu der Überzeugung, der Kanal werde, wenn er
fertiggestellt sei, von großem internationalem Wert sein. Sie wissen ja,
was Minister in solchen Fällen zu sagen pflegen. Ein paar der üblichen
Plattitüden werden ausreichen. Im heutigen Leben ist nichts so
wirkungsvoll wie eine bewährte Plattitüde. Sie verbindet alle Welt.
Werden Sie das für mich tun?
SIR ROBERT CHILTERN: Mrs. Cheveley, es kann nicht Ihr Ernst sein, ein
solches Ansinnen an mich zu stellen!
MRS. CHEVELEY: Es ist mein völliger Ernst.
SIR ROBERT CHILTERN abweisend: Gestatten
Sie mir bitte, das zu bezweifeln.
MRS. CHEVELEY sehr überlegt und
nachdrücklich: Ah! Aber es ist mein Ernst. Und wenn Sie tun, worum
ich Sie bitte ... werde ich Sie recht anständig bezahlen!
SIR ROBERT CHILTERN: Mich bezahlen!
MRS. CHEVELEY:
Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich fürchte, ich
verstehe nicht ganz, was Sie meinen.
MRS. CHEVFLEY lehnt sich auf dem
Sofa zurück und sieht ihn an: Wie überaus enttäuschend! Und da bin
ich den ganzen Weg von Wien hergekommen, nur damit Sie mich völlig
verstehen.
SIR ROBERT CHILTERN: Leider ist es mir nicht möglich.
MRS. CHEVELEY auf ihre
nonchalanteste Art: Mein lieber Sir Robert, Sie sind ein Mann von Welt
und haben vermutlich Ihren Preis. Den hat heutzutage jeder. Der Nachteil
ist, dass die meisten Leute so schrecklich teuer sind. Dass ich es bin,
weiß ich. Ich hoffe, Sie werden in Ihren Forderungen maßvoller sein.
SIR ROBERT CHILTERN steht entrüstet
auf: Wenn Sie mir gestatten, werde ich Ihren Wagen kommen lassen. Sie
haben zu lange im Ausland gelebt, Mrs. Cheveley, und sind anscheinend außerstande,
sich zu vergegenwärtigen, dass Sie mit einem englischen Gentleman
sprechen.
MRS. CHEVELEY hält ihn zurück,
indem sie seinen Arm mit dem Fächer berührt und ihn dort ruhen lässt, während
sie spricht: Ich bin mir bewusst, dass ich mit einem Mann spreche, der
den Grundstock zu seinem Vermögen legte, indem er einem Börsenspekulanten
ein Kabinettsgeheimnis verkaufte.
SIR ROBERT CHILTERN beißt sich auf
die Lippe: Was wollen Sie damit sagen?
MRS. CHEVELEY steht auf und sieht
ihm ins Gesicht: Ich will damit sagen, dass ich den wahren Ursprung
Ihres Reichtums und Ihrer Karriere kenne und ich obendrein Ihren Brief
besitze.
SIR ROBERT CHILTERN: Welchen Brief?
MRS. CHEVELEY verächtlich: Den
Brief, den Sie Baron Arnheim schrieben, als Sie Lord Radleys Sekretär
waren, und in dem Sie ihm rieten, Suezkanal-Aktien zu kaufen - einen
Brief, der drei Tage vor dem Datum geschrieben wurde, da die Regierung
ihren Ankauf veröffentlichte.
SIR ROBERT CHILTERN heiser: Das
ist nicht wahr.
MRS. CHEVELEY: Sie glaubten, der Brief sei vernichtet worden. Wie töricht
von Ihnen! Er befindet sich in meinem Besitz.
SIR ROBERT CHILTERN: Die Sache, auf die Sie anspielen, war nicht mehr als
eine Spekulation. Das Unterhaus hatte den Antrag noch nicht angenommen; er
hätte abgewiesen werden können.
MRS. CHEVELEY: Es war ein Schwindel, Sir Robert. Lassen Sie uns die Dinge
beim Namen nennen. Es vereinfacht die Sache. Und nun werde ich Ihnen
diesen Brief verkaufen, und als Preis dafür fordere ich Ihre öffentliche
Unterstützung des argentinischen Projekts. Sie haben Ihr Vermögen mit
dem einen Kanal gemacht. Sie müssen mir und meinen Freunden helfen, unser
Vermögen mit einem anderen zu machen!
SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie mir vorschlagen, ist infam - infam!
MRS. CHEVELEY:
O nein! Es ist das Lebensspiel, Sir Robert, das wir alle, früher oder später,
spielen müssen!
SIR ROBERT CHILTERN: Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen.
MRS. CHEVELEY: Sie meinen, Sie können nichts anderes tun. Sie wissen,
dass Sie am Rande eines Abgrunds stehen. Und nicht Sie haben die
Forderungen zu stellen. Sie haben sie zu akzeptieren. Angenommen, Sie
weigern sich ...
SIR ROBERT CHILTERN: Was dann?
MRS. CHEVELEY: Mein lieber Sir Robert, was dann? Dann sind Sie ruiniert,
das ist alles! Denken Sie daran, wohin euer Puritanismus in England euch
gebracht hat. Früher maßte sich niemand an, ein wenig besser zu sein als
seine Nachbarn. Ein wenig besser zu sein als der Nachbar wurde sogar für
überaus vulgär und spießbürgerlich gehalten. Heutzutage, bei der
Moralsucht, die bei uns Mode ist, muss jeder als ein Musterbild der
Reinheit, Unbestechlichkeit und aller anderen sieben Todtugenden dastehen
- und was ist das Resultat? Ihr stürzt alle wie Kegel - einer nach dem
andern. Kein Jahr vergeht in England, ohne dass jemand in der Versenkung
verschwindet. Ärgerliches Aufsehen pflegte einen Mann reizvoll oder
zumindest interessant zu machen - jetzt vernichtet es ihn. Und das
Aufsehen, das Sie erregen werden, ist sehr übel. Sie könnten es nicht überleben.
Wenn bekannt würde, dass Sie als junger Mann, Sekretär eines berühmten
und bedeutenden Ministers, ein Kabinettsgeheimnis für eine große Summe
verkauften und damit Ihren Reichtum und Ihre Karriere begründeten, würde
man Sie aus dem öffentlichen Leben jagen, würden Sie ein für allemal
verschwinden. Und warum, Sir Robert, sollten Sie am Ende lieber Ihre ganze
Zukunft opfern als mit Ihrem Feind diplomatisch unterhandeln? Im
Augenblick bin ich Ihr Feind. Das gebe ich zu! Und ich bin viel stärker
als Sie. Die großen Bataillone stehen auf meiner Seite. Sie haben eine
blendende Stellung, aber gerade Ihre blendende Stellung macht Sie so
verwundbar. Sie können sie nicht verteidigen! Und ich bin im Angriff. Natürlich
habe ich Ihnen nicht Moral gepredigt. Sie müssen ehrlich zugeben, dass
ich Ihnen das erspart habe. Vorjahren haben Sie geschickt etwas
Gewissenloses getan; es entpuppte sich als ein großer Erfolg. Dem
verdanken Sie Ihr Vermögen und Ihre Stellung. Und jetzt müssen Sie dafür
bezahlen. Früher oder später müssen wir alle für unsere Taten
bezahlen. Sie haben jetzt zu bezahlen. Ehe ich Sie heute Abend verlasse, müssen
Sie mir versprechen, dass Sie Ihren Bericht unter den Tisch fallen lassen
und im Parlament zugunsten dieses Projekts sprechen.
SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie verlangen, ist unmöglich.
MRS. CHEVELEY: Sie müssen es möglich machen. Sie werden es möglich
machen. Sir Robert, Sie wissen, wie die englischen Zeitungen sind. Nehmen
Sie einmal an, ich fahre, wenn ich dieses Haus verlasse, zu einer
Zeitungsredaktion und gebe den Leuten diese Skandalgeschichte und die
Beweise dafür! Denken Sie an deren ekelhafte Freude, an den Genuss, mit
dem man Sie nieder zerren, an den Schmutz und Kot, in den man Sie stürzen
würde. Denken Sie an den Heuchler mit seinem schmierigen Lächeln, wie er
seinen Leitartikel verfasst und an der Schändlichkeit der öffentlichen
Bekanntgabe arbeitet.
SIR ROBERT CHILTERN: Hören Sie auf! Sie wünschen, dass ich den Bericht
zurückziehe und eine kurze Rede halte, in der ich erkläre, meiner
Ansicht nach habe das Projekt Aussichten?
MRS. CHEVELEY setzt sich auf das
Sofa: Das sind meine Forderungen.
SIR ROBERT CHILTERN leise: Ich
gebe Ihnen jede Summe, die Sie verlangen.
MRS. CHEVIELEY: Nicht einmal Sie, Sir Robert, sind reich genug, Ihre
Vergangenheit zurückzukaufen. Das ist keiner.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich werde nicht tun, was Sie von mir fordern. Ich
werde es nicht tun.
MRS. CHEVELEY: Sie müssen es. Wenn nicht ... Steht vom Sofa auf.
SIR ROBERT CHILTERN verstört und
entnervt: Warten Sie einen Augenblick! Was schlugen Sie vor? Sie
sagten, Sie würden mir meinen Brief zurückgeben, war es nicht so?
MRS. CHEVELEY:
Ja. Das ist abgemacht. Ich werde morgen nacht um halb zwölf auf der
Damengalerie sein. Wenn Sie bis dahin - und es wird Ihnen an Gelegenheiten
nicht fehlen - dem Parlament eine Erklärung abgegeben haben, die meinen
Forderungen entspricht, erhalten Sie von mir Ihren Brief mit dem
verbindlichsten Dank zurück und dem besten oder jedenfalls passendsten
Kompliment, das mir in den Sinn kommt. Ich habe die Absicht, durchaus
ehrlich mit Ihnen zu spielen. Man sollte immer ehrlich spielen - wenn man
die Trümpfe in der Hand hat. Das hat mich der Baron gelehrt..., unter
anderem.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie müssen mir Zeit lassen, über Ihren Vorschlag
nachzudenken.
MRS. CHEVELEY: Nein, Sie müssen sich jetzt entscheiden!
SIR ROBERT CHILTERN: Geben Sie mir eine Woche - drei Tage!
MRS. CHEVELEY: Unmöglich! Ich muss heute nacht nach Wien telegraphieren.
SIR ROBERT CHILTERN: Mein Gott! Was hat Sie in mein Leben gebracht?
MRS. CHEVELEY: Umstände. Geht zur
Tür.
SIR ROBERT CHILTERN: Gehen Sie nicht. Ich bin einverstanden. Der
Bericht wird zurückgezogen. Ich werde mich auf eine Frage vorbereiten,
die man mir deswegen stellen wird.
MRS. CHEVELEY: Vielen Dank. Ich wusste, dass wir zu einem
freundschaftlichen Einverständnis kommen würden. Ich erfasste Ihr Wesen
im ersten Augenblick. Ich analysierte Sie, obwohl Sie mir keine Verehrung
entgegenbrachten. Und jetzt können Sie mir meinen Wagen holen, Sir
Robert. Wie ich sehe, kommen die Leute vom Essen herauf Engländer werden
nach Tisch immer romantisch, und das langweilt mich entsetzlich.
Sir Robert
Chiltern ab. Gäste treten ein, auch Lady Chiltern,
Lady Markby, Lord Caversham, Lady
Basildon, Mrs. Marchmont, Vicomte
de Nanjac, Mr. Montford.
LADY MARKBY: Nun, meine liebe Mrs. Cheveley, ich hoffe, Sie haben
sich gut amüsiert. Sir Robert ist sehr unterhaltsam, nicht wahr?
MRS. CHEVELEY: Überaus unterhaltsam! Mein Gespräch mit ihm hat mich
ungemein amüsiert.
LADY MARKBY: Er hat eine hochinteressante und glänzende Karriere gemacht.
Und er hat eine geradezu bewundernswerte Frau geheiratet. Lady Chiltern
ist, es freut mich, das zu sagen, eine Frau von sehr hohen Grundsätzen.
Ich selbst bin jetzt schon ein wenig zu alt für die Mühe, ein gutes
Beispiel zu geben, aber die Leute, die es tun, haben stets meine
Bewunderung. Und Lady Chiltern übt einen sehr vereitelnden Einfluss auf
das Leben aus, wenn auch ihre Tischgesellschaften mitunter recht
langweilig sind. Aber man kann ja nicht alles haben, nicht wahr? Und jetzt
muss ich gehen, meine Liebe. Soll ich Sie morgen abholen?
MRS. CHEVELEY: Vielen Dank.
LADY MARKBY: Wir könnten um fünf durch den Hyde Park fahren. Alles im
Park sieht jetzt so frisch aus!
MRS. CHEVELEY: Mit Ausnahme der Leute!
LADY MARKBY: Vielleicht sind die Leute ein wenig erschöpft. Ich habe oft
bemerkt, dass die Saison, je weiter sie fortschreitet, das Gehirn
erweicht. Wie dem auch sei, alles andere finde ich immer noch besser als
hochgeistige Beklemmung. Sie ist so höchst unkleidsam. Die jungen Mädchen
bekommen davon ungewöhnlich lange Nasen. Und nichts ist so schwer zu
verheiraten wie eine lange Nase; die Männer mögen sie nicht. Gute Nacht,
meine Liebe. Zu Lady Chiltern. Gute
Nacht, Gertrude. Geht an Lord
Cavershams Arm hinaus.
MRS. CHEVELEY: Wie bezaubernd Ihr Haus ist, Lady Chiltern! Ich habe
einen entzückenden Abend verbracht. Es war so interessant, Ihren Gatten
kennen zulernen.
LADY CHILTERN: Warum wünschten Sie mit meinem Gatten zusammenzutreffen,
Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY: Oh, das will ich Ihnen sagen. Ich wollte ihn für dieses
argentinische Kanalprojekt interessieren, von dem Sie gewiss gehört
haben. Und ich fand ihn überaus zugänglich der Vernunft zugänglich,
meine ich. Das ist selten bei einem Mann. Ich habe ihn in zehn Minuten
bekehrt. Er wird morgen Abend im Parlament eine Rede zugunsten der Idee
halten. Wir müssen auf die Damengalerie gehen und ihn hören! Es wird ein
bedeutendes Ereignis!
LADY CHILTERN: Da muss ein Irrtum vorliegen. Dieses Projekt könnte nie
von meinem Mann unterstützt werden.
MRS. CHEVELEY: Oh, ich versichere Ihnen, alles ist abgemacht. Ich bedaure
jetzt nicht meine langweilige Reise von Wien. Sie war ein großer Erfolg.
Aber für die nächsten vierundzwanzig Stunden ist die Sache natürlich
ein tiefes Geheimnis.
LADY CHILTERN sanft: Ein
Geheimnis? Zwischen wem?
MRS. CHEVELEY mit einem Aufblitzen
von Belustigung in den Augen: Zwischen ihrem Gatten und mir.
SIR ROBERT CHILTERN tritt ein: Ihr
Wagen ist da, Mrs. Cheveley!
MRS. CHEVELEY:
Danke! Guten Abend, Lady Chiltern! Guten Abend, Lord Goring! Ich wohne im
Claridge. Meinen Sie nicht, dass Sie gelegentlich Ihre Karte abgeben könnten?
LORD GORING: Wenn Sie es wünschen, Mrs. Cheveley!
MRS. CHEVELEY: Oh, machen Sie's nicht so feierlich, sonst werde ich genötigt
sein, bei Ihnen eine Karte abzugeben. Das würde in England vermutlich
kaum für en règle gehalten werden. Im Ausland sind wir zivilisierter.
Wollen sie mich bitte hinuntergeleiten, Sir Robert? Jetzt, da wir im
Innern beide dieselben Interessen haben, werden wir hoffentlich gute
Freunde werden!
Segelt an
Sir Robert Chilterns Arm hinaus. Lady Chiltern geht zum
Treppenabsatz und blickt den Hinuntersteigenden nach. Ihr Ausdruck
ist besorgt. Nach einer kleinen Weile gesellen sich einige Gäste
zu ihr, und sie geht mit ihnen in ein anderes Empfangszimmer.
MABEL CHILTERN: Was für eine grässliche Frau!
LORD GORING: Sie sollten zu Bett gehen, Miss Mabel.
MABEL CHILTERN:
Lord Goring!
LORD GORING: Mein Vater hat mir vor
einer Stunde gesagt, ich solle zu Bett gehen. Ich sehe nicht ein, warum
ich Ihnen nicht denselben Rat geben sollte. Einen guten Rat gebe ich immer
weiter. Es ist das einzige, was man damit machen kann. Für einen selbst
hat er nie irgendwelchen Nutzen.
MABEL CHILTERN: Lord Goring, Sie weisen mich ständig aus dem Zimmer. Ich
finde das äußerst kühn. Vor allem, weil ich die nächsten Stunden noch
nicht zu Bett gehen werde. Geht zu
dem Sofa hinüber. Sie können
herkommen und sich setzen, wenn Sie wollen, und über alles in der Welt
reden, ausgenommen die Royal Academy, Mrs. Cheveley oder Romane in
schottischem Dialekt: Das sind keine erhebenden Themen. Erblickt
etwas, das von einem Kissen halb
verborgen auf dem Sofa liegt. Was ist das? jemand hat eine
Diamantspange verloren! Sehr schön, nicht wahr? Zeigt
sie ihm. Ich wünschte, es wäre meine, aber Gertrude will mich nichts
anderes tragen lassen als Perlen, und ich habe Perlen ausgesprochen satt.
Man sieht damit so schlicht, so tugendhaft und so vernünftig aus. Ich möchte
wissen, wem die Spange gehört.
LORD GORING: Ich möchte wissen, wer sie verloren hat.
MABEL CHILTERN: Eine schöne Spange.
LORD GORING: Ein hübsches Armband.
MABEL CHILTERN: Es ist kein Armband. Es ist eine Spange.
LORD GORING: Man kann sie als Armband tragen. Nimmt sie ihr ab, zieht eine
grüne Brieftasche, schiebt das Schmuckstück sorgfältig hinein und
verstaut das Ganze völlig gelassen in seiner Brusttasche.
MABEL CHILTERN: Was tun Sie?
LORD GORING: Miss Mabel, ich möchte eine etwas sonderbare Bitte an Sie
richten.
MABEL CHILTERN eifrig: Oh, bitte
tun Sie es! Ich habe den ganzen Abend darauf gewartet.
LORD GORING ist etwas verblüfft,
fasst sich aber: Erwähnen Sie zu keinem, dass ich diese Spange in
Verwahrung genommen habe. Sollte jemand schreiben und Anspruch darauf
erheben, dann lassen Sie es mich sofort wissen.
MABEL CHILTERN: Das ist freilich eine sonderbare Bitte.
LORD GORING: Sie müssen verstehen, ich habe diese Spange vor Jahren
jemandem geschenkt.
MABEL CHILTERN: Wirklich?
LORD GORING: Ja.
Lady
Chiltern tritt allein ein. Die anderen Gäste sind gegangen.
MABEL CHILTERN: Dann werde ich Ihnen allerdings gute Nacht sagen.
Gute Nacht, Gertrude! Geht ab.
LADY CHILTERN: Gute Nacht, Liebes! Zu
Lord Goring. Sie haben gesehen, wen Lady Markby heute Abend
herbrachte?
LORD GORING: Ja. Das war eine unangenehme Überraschung. Weswegen ist sie
hergekommen?
LADY CHILTERN: Offenbar um Robert zu ködern, dass er ein betrügerisches
Projekt unterstützt, an dem sie interessiert ist. Den argentinischen
Kanal.
LORD GORING: Da ist sie an den Falschen geraten, nicht wahr?
LADY CHILTERN: Sie ist außerstande, eine so aufrechte Natur wie die
meines Mannes zu begreifen!
LORD GORING: Ja. Ich sollte meinen, sie hatte Pech, als sie Robert in ihre
Netze zu ziehen versuchte. Es ist doch merkwürdig, welch erstaunliche
Fehler gescheite Frauen machen.
LADY CHILTERN: Dergleichen Frauen nenne ich nicht gescheit. Ich nenne sie
dumm!
LORD GORING: Das ist häufig dasselbe. Gute Nacht, Lady Chiltern.
LADY CHILTERN: Gute Nacht!
Sir Robert
Chiltern tritt ein.
SIR ROBERT CHILTERN: Mein lieber Arthur, du willst doch nicht schon
gehen? Bleib noch ein wenig!
LORD GORING: Leider kann ich nicht, vielen Dank. Ich habe versprochen, zu
den Hartlocks hineinzuschauen. Ich glaube, sie haben eine malvenfarbene
ungarische Kapelle, die malvenfarbene ungarische Musik spielt. Auf bald.
Adieu! Geht ab.
SIR ROBERT CHILTERN: Wie schön du heute Abend aussiehst, Gertrude!
LADY CHILTERN: Robert, es ist doch nicht wahr? Du wirst dieser
argentinischen Spekulation doch nicht deine Unterstützung geben? Das könntest
du nicht!
SIR ROBERT CHILTERN erschrickt: Wer
hat dir erzählt, dass ich das vorhätte?
LADY CHILTERN: Jene Frau, die eben gegangen ist, Mrs. Cheveley, wie sie
sich jetzt nennt. Sie schien mich damit verhöhnen zu wollen. Robert, ich
kenne diese Frau. Du nicht. Wir waren zusammen in der Schule. Sie war
unzuverlässig, unehrlich, von schlechtem Einfluss auf jede, deren
Vertrauen oder Freundschaft sie gewinnen konnte. Ich hasste sie, ich
verachtete sie. Sie stahl allerlei, sie war eine Diebin. Sie wurde
davongejagt, weil sie eine Diebin war. Warum lässt du dich von ihr
beeinflussen?
SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, was du mir erzählst, mag wahr sein, aber
es geschah vor vielen Jahren. Man vergisst es am besten. Mrs. Cheveley
kann sich seitdem geändert haben. Keiner sollte ausschließlich nach
seiner Vergangenheit beurteilt werden.
LADY CHILTERN traurig: Die
Vergangenheit eines Menschen ist der Mensch selbst. Nur danach sollte man
Leute beurteilen.
SIR ROBERT CHILTERN: Das ist ein hartes Wort, Gertrude!
LADY CHILTERN: Es ist ein wahres Wort, Robert. Und was meinte sie damit,
als sie sich rühmte, sie habe dich überredet, einer Sache, die du mir
als das unredlichste und betrügerischste Projekt dargestellt hast, das es
je im politischen Leben gab, deine Unterstützung, deinen Namen zu leihen?
SIR ROBERT CHILTERN beißt sich auf
die Lippe: Ich habe mich in dem Standpunkt, den ich einnahm, geirrt.
Wir machen alle Fehler.
LADY CHILTERN: Aber du hast mir gestern erzählt, dass du den Bericht der
Kommission erhalten habest, der die ganze Sache von Grund auf verdamme.
SIR ROBERT CHILTERN geht auf und ab:
Ich habe jetzt Anlass zu glauben, dass die Kommission voreingenommen
oder zumindest falsch informiert war. Außerdem, Gertrude: das öffentliche
und das private Leben sind verschiedene Dinge. Sie haben verschiedene
Gesetze und bewegen sich auf verschiedenen Linien.
LADY CHILTERN: Sie sollten beide den Menschen auf seiner Höhe zeigen. Ich
sehe keinen Unterschied zwischen ihnen.
SIR ROBERT CHILTERN bleibt stehen: In
diesem Falle habe ich aus Gründen praktischer Politik meine Meinung geändert.
Das ist alles.
LADY CHILTERN: Alles!
SIR ROBERT CHILTERN verbissen: Ja!
LADY CHILTERN:
Robert! Oh, es ist schrecklich, dass ich dir eine solche Frage stellen muss
- Robert, sagst du mir die ganze Wahrheit?
SIR ROBERT CHILTERN: Warum stellst du mir eine solche Frage?
LADY CHILTERN nach einer Pause:
Warum beantwortest du sie nicht?
SIR ROBERT CHILTERN setzt sich: Gertrude,
die Wahrheit ist eine sehr komplizierte Sache, und die Politik ist ein
sehr kompliziertes Geschäft. Es sind ineinandergreifende Räder. Man kann
gewisse Verpflichtungen gegen Leute haben, die man einlösen muss. Im
politischen Leben muss man früher oder später einen Kompromiss schließen.
Das tut jeder.
LADY CHILTERN: Kompromiss? Robert, warum redest du heute Abend so anders,
als ich dich stets habe reden hören? Warum hast du dich geändert?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe mich nicht geändert. Aber Umstände verändern
die Dinge.
LADY CHILTERN: Umstände sollten niemals Grundsätze verändern.
SIR ROBERT CHILTERN: Aber wenn ich dir sagte ...
LADY CHILTERN:
Was?
SIR ROBERT CHILTERN: Dass es notwendig
war, lebensnotwendig?
LADY CHILTERN: Es kann niemals notwendig sein, etwas zu tun, was nicht
ehrenhaft ist. Oder wenn es notwendig ist, was habe ich dann geliebt! Aber
es ist nicht so, Robert, sag mir, dass es nicht so ist. Warum sollte es
sein? Welchen Gewinn würdest du davon haben? Geld? Daran haben wir keinen
Bedarf! Und Geld, das aus einer schmutzigen Quelle stammt, ist eine
Erniedrigung. Macht? Aber Macht an sich bedeutet nichts. Die Macht, Gutes
zu tun, ist vortrefflich - die und nur die allein. Was ist es dann?
Robert, sag mir, warum du dich auf diese schimpfliche Sache einlassen
willst!
SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, du hast kein Recht, dieses Wort zu
gebrauchen. Ich habe dir gesagt; es sei eine Frage vernünftigen
Kompromisses. Es ist nicht mehr als das.
LADY CHILTERN: Robert, das ist alles sehr schön und gut für andere Männer,
für Männer, die das Leben einfach als eine schmutzige Spekulation
betrachten, aber nicht für dich, Robert, nicht für dich. Du bist anders.
Dein Leben lang hast du dich von anderen ferngehalten. Nie hast du dich
von der Welt besudeln lassen. Für die Welt wie für mich bist du stets
ein Ideal gewesen. Oh! Bleibe dieses Ideal. Wirf das große Erbe nicht
fort zerstöre nicht diesen Elfenbeinturm. Robert, Männer können lieben,
was unter ihrer Würde ist - wertlose, beschmutzte, entehrte Geschöpfe.
Wir Frauen beten an, wenn wir lieben, und wenn wir unsere Anbetung
verlieren, verlieren wir alles. Oh! Töte nicht meine Liebe zu dir, töte
sie nicht!
SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude!
LADY CHILTERN: Ich weiß, dass es Männer mit schrecklichen Geheimnissen
in ihrem Leben gibt - Männer, die etwas Schändliches getan haben und in
einem entscheidenden Augenblick dafür bezahlen müssen, indem sie wieder
eine schändliche Handlung begehen - oh! sag mir nicht, du seist so wie
jene! Robert, gibt es in deinem Leben eine geheime Schande oder Schmach?
Sag mir, sag mir gleich, dass ...
SIR ROBERT
CHILTERN: Dass was?
LADY CHILTERN spricht sehr langsam: Dass unser beider Leben vielleicht
auseinandergetrieben werden.
SIR ROBERT CHILTERN: Auseinandergetrieben?
LADY CHILTERN: Dass sie sich völlig trennen könnten. Es wäre besser für
uns beide.
SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, es gibt nichts in meinem vergangenen Leben,
was du nicht wissen dürftest.
LADY CHILTERN: Daran habe ich nicht gezweifelt, Robert, daran habe ich
nicht gezweifelt. Aber warum hast du so fürchterliche Dinge gesagt,
Dinge, die deinem wahren Ich so unähnlich waren? Lass uns nie wieder über
die Sache reden! Du wirst Mrs. Cheveley schreiben, nicht wahr, und ihr
sagen, dass du dieses schändliche Projekt nicht unterstützen kannst?
Wenn du ihr ein Versprechen gegeben hast, musst du es zurücknehmen, das
ist alles.
SIR ROBERT CHILTERN: Muss ich schreiben und ihr das sagen?
LADY CHILTERN: Gewiss, Robert. Was solltest du anders tun?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich könnte persönlich mit ihr sprechen. Es wäre
besser.
LADY CHILTERN: Du darfst sie nie wiedersehen, Robert. Sie ist keine Frau,
mit der du jemals sprechen solltest. Sie ist es nicht wert, mit einem Mann
wie dir zu reden. Nein; du musst ihr sofort schreiben, jetzt, diesen
Augenblick, und gib ihr durch deinen Brief zu erkennen, dass dein
Entschluss unwiderruflich ist!
SIR ROBERT CHILTERN: Diesen Augenblick schreiben!
LADY CHILTERN: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Aber es ist schon so spät. Es ist kurz vor zwölf.
LADY CHILTERN: Das macht nichts. Sie muss sofort erfahren dass sie sich in
dir geirrt hat - und dass du nicht der Mann bist, etwas Niedriges oder
Verstecktes oder Ehrloses zu tun. Schreib ihr, Robert. Schreib, dass du es
ablehnst, dieses Projekt zu unterstützen, da du es für ein schimpfliches
Projekt hältst. ja schreib das Wort schimpflich. Sie weiß, was das Wort
bedeutet. Sir Robert setzt sich und
schreibt einen Brief. Seine Frau nimmt
ihn auf und liest ihn. Ja, das
reicht aus. Sie läutet. Und nun
den Umschlag. Er beschriftet langsam
den Umschlag. Mason kommt.
Lassen Sie diesen Brief sofort ins Hotel Claridge bringen. Eine Antwort erübrigt
sich. Mason ab. Lady Chiltern kniet
neben ihrem Mann nieder und legt die
Arme um ihn.
Robert, die Liebe gibt einem einen Instinkt für die Dinge. Ich spüre,
dass ich dich heute Abend vor etwas gerettet habe, das für dich eine
Gefahr hätte werden können, vor etwas, das dazu führen könnte, dass
die Menschen dich weniger in Ehren halten, als es der Fall ist. Ich
glaube, du bist dir nicht hinreichend bewusst, Robert, dass du in unser
heutiges politisches Leben eine noblere Atmosphäre gebracht hast, eine
sauberere Haltung gegen das Leben, eine freiere Luft reinerer Ziele und höherer
Ideale - ich weiß es, und darum liebe ich dich, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN: Oh, liebe mich immer, Gertrude, liebe mich immer!
LADY CHILTERN: Ich werde dich immer lieben, weil du immer der Liebe wert
sein wirst. Wir müssen ja stets das Höchste lieben, wenn wir es finden! Küsst
ihn, steht auf und geht hinaus.
Sir Robert
Chiltern geht einen Augenblick auf und ab, setzt sich
dann und vergräbt das Gesicht in den Händen. Der Diener kommt und
beginnt die Lichter zu löschen. Sir Robert Chiltern blickt auf.
SIR ROBERT CHILTERN: Löschen Sie die Lichter, Mason, löschen Sie
die Lichter!
Der Diener löscht die Lichter. Der Raum wird
fast dunkel. Die einzige Helligkeit kommt von dem großen
Kronleuchter im Treppenhaus, der den Gobelin mit dem Triumph
der Liebe beleuchtet.
ZWEITER
AKT
Frühstückszimmer
in Sir Robert Chilterns Haus. Lord Goring,
nach dem letzten Schrei der Mode
gekleidet, liegt lässig in einem Lehnstuhl
Sir Robert Chiltern steht vor dem Kamin. Er befindet sich offenbar in einem Zustand großer seelischer Erregung und Qual.
Im Verlauf der Szene geht er
nervös im Zimmer auf und ab.
LORD GORING: Mein lieber Robert, das ist eine sehr unangenehme
Geschichte, wirklich sehr unangenehm. Du hättest deiner Frau die ganze
Sache erzählen sollen. Geheimnisse vor anderer Leute Frauen sind im
heutigen Leben ein unvermeidlicher Luxus. Das sagen mir zumindest ständig
Leute im Klub, die kahl genug sind, es besser zu wissen. Aber niemand
sollte ein Geheimnis vor seiner eigenen Frau haben. Sie kommt auf jeden
Fall dahinter. Frauen besitzen einen erstaunlichen Instinkt für die
Dinge. Sie entdecken alles außer dem, was in die Augen springt.
SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Wann hätte
ich es ihr sagen können? Nicht heute nacht. Eine Trennung auf Lebenszeit
wäre die Folge gewesen, und ich hätte die Liebe der einen Frau auf der
Welt verloren, die ich anbete der einzigen Frau, die je Liebe in mir
erweckt hat. Heute nacht wäre es ganz unmöglich gewesen. Sie hätte sich
mit Abscheu von mir gewandt ... mit Abscheu und Verachtung.
LORD GORING: Ist Lady Chiltern denn so vollkommen?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja, meine Frau ist so vollkommen.
LORD GORING zieht seinen linken
Handschuh aus: Wie schade! Verzeihung, mein lieber Junge, so habe ich
das nicht gemeint. Aber wenn das, was du mir sagst, wahr ist, dann würde
ich mit Lady Chiltern gern ein ernsthaftes Gespräch über das Leben führen.
SIR ROBERT CHILTERN: Das wäre ganz zwecklos.
LORD GORING: Darf ich's versuchen?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja, aber nichts könnte sie bewegen, ihre Ansichten
zu ändern.
LORD GORING: Nun, schlimmstenfalls wäre es einfach ein psychologisches
Experiment.
SIR ROBERT CHILTERN: Alle derartigen Experimente sind schrecklich gefährlich.
LORD GORING: Alles ist gefährlich, mein lieber Junge. Wäre es anders,
dann wäre das Leben nicht lebenswert ... Allerdings muss ich sagen, du hättest
es ihr schon vor Jahren erzählen sollen.
SIR ROBERT CHILTERN: Wann? Als wir verlobt waren? Glaubst du, sie hätte
mich geheiratet, wäre ihr bekannt gewesen, woher mein Vermögen stammt,
worauf meine Karriere gegründet ist, und dass ich etwas getan habe, was
vermutlich die meisten Menschen schändlich und unehrenhaft nennen würden?
LORD GORING langsam: Ja, die
meisten Menschen würden es mit hässlichen Namen bezeichnen. Darüber
gibt es keinen Zweifel.
SIR ROBERT CHILTERN bitter:
Menschen, die jeden Tag selbst etwas Derartiges tun. Menschen, die einer
wie der andere üblere Geheimnisse in ihrem Leben haben.
LORD GORING: Das ist der Grund, warum es sie so freut, anderer Leute
Geheimnisse zu entdecken. Es lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit von
ihren eigenen ab.
SIR ROBERT CHILTERN: Und wem habe ich schließlich mit dem, was ich tat,
geschadet? Keinem.
LORD GORING sieht ihn fest an:
Außer dir selbst, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN nach einer
Pause: Natürlich hatte ich vertrauliche Informationen über ein Geschäft,
das die damalige Regierung ins Auge fasste, und handelte danach.
Vertrauliche Informationen sind heutzutage tatsächlich der Ursprung eines
jeden großen Vermögens.
LORD GORING klopft mit seinem
Spazierstock an seinen Schuh: Und öffentlicher Skandal unweigerlich
das Resultat.
SIR ROBERT CHILTERN geht im Zimmer
auf und ab: Arthur, bist du der Ansicht, was ich vor fast achtzehn
Jahren getan habe, sollte jetzt gegen mich vorgebracht werden? Hältst du
es für gerecht, wenn die ganze Karriere eines Mannes vernichtet wird
wegen eines Fehlers, den er fast noch als Knabe begangen hat? Ich war
damals zweiundzwanzig, und ich hatte das doppelte Missgeschick, von guter
Herkunft und arm zu sein, heutzutage zwei unverzeihliche Dinge. Ist es
gerecht, dass die Jugendtorheit, die Jugendsünde, wenn man vorzieht, es
eine Sünde zu nennen, ein Leben wie das meine zugrunde richten, mich an
den Pranger stellen, alles zerstören soll, wofür ich gearbeitet, was ich
aufgebaut habe? Ist das gerecht, Arthur?
LORD GORING: Das Leben ist niemals gerecht, Robert. Und vielleicht ist es
für die meisten von uns gut, dass es nicht gerecht ist.
SIR ROBERT CHILTERN: jeder Mann von Ehrgeiz muss gegen sein Jahrhundert
mit dessen eigenen Waffen kämpfen. Was dieses Jahrhundert anbetet, ist
Reichtum. Der Gott dieses Jahrhunderts ist der Reichtum. Um Erfolg zu
haben, muss man Reichtum besitzen. Reichtum um jeden Preis.
LORD GORING: Du unterschätzt dich, Robert. Glaub mir, ohne Reichtum hättest
du eben so gut Erfolg haben können.
SIR ROBERT CHILTERN: Wenn ich alt geworden wäre, vielleicht. Wenn ich die
Leidenschaft für Macht verloren hätte oder sie nicht mehr ausüben könnte.
Wenn ich müde, verbraucht, enttäuscht gewesen wäre. Ich wollte meinen
Erfolg haben, als ich jung war. Jugend ist die Zeit für Erfolg. Ich
konnte nicht warten.
LORD GORING: Na gut, zweifellos hast du deinen Erfolg gehabt, als du noch
jung warst. Niemand in unseren Tagen hat einen so glänzenden Erfolg
gehabt. Mit vierzig Untersekretär im Außenministerium - das ist für
jeden gut genug, sollte ich meinen.
SIR ROBERT CHILTERN: Und wenn mir das jetzt alles genommen wird? Wenn ich
alles durch einen abscheulichen Skandal verliere? Wenn ich aus dem öffentlichen
Leben gejagt werde?
LORD GORING: Robert, wie hast du dich nur für Geld verkaufen können?
SIR ROBERT CHILTIERN gereizt: Ich
habe mich nicht für Geld verkauft. Ich habe Erfolg zu einem hohen Preis
erkauft. Weiter nichts.
LORD GORING ernst: Ja,
zweifellos hast du einen hohen Preis dafür bezahlt. Aber wie bist du
darauf gekommen, etwas Derartiges zu tun?
SIR ROBERT CHILTERN: Baron Arnheim.
LORD GORING: Verdammter Schurke!
SIR ROBERT CHILTERN: Nein, er war ein Mann von überaus scharfem und
hochgebildetem Verstand. Ein Mann von Kultur, Reiz und Würde. Einer der
intelligentesten Menschen, denen ich je begegnet bin.
LORD GORING:
Ach! Ich ziehe noch jederzeit einen anständigen Dummkopf vor. Zugunsten
der Dummheit lässt sich mehr sagen, als die Leute denken. Ich persönlich
hege große Bewunderung für die Dummheit. Das ist vermutlich so etwas wie
seelische Übereinstimmung. Aber wie hat er es angestellt? Erzähl mir die
ganze Sache.
SIR ROBERT CHILTERN wirft sich in
einen Lehnstuhl am Schreibtisch: Eines Abends nach dem Essen bei Lord
Radley begann der Baron über Erfolg im modernen Leben wie über etwas zu
reden, das man auf eine unbedingt präzise Wissenschaft zurückführen könne.
Mit seiner erstaunlich faszinierenden ruhigen Stimme erläuterte er uns
die gewaltigste aller Philosophien, die Philosophie der Macht, predigte
uns das wundervollste Evangelium, das Evangelium des Goldes. Ich glaube,
er merkte, welche Wirkung er auf mich ausgeübt hatte, denn einige Tage später
schrieb er mir und bat mich, ihn zu besuchen. Er wohnte damals in der Park
Lane, in dem Haus, das jetzt Lord Woolcomb gehört. Ich erinnere mich noch
so gut daran, wie er mich mit einem sonderbaren Lächeln um seine blassen,
geschwungenen Lippen durch seine herrliche Gemäldegalerie führte, mir
seine Wandteppiche, seine Emaillen, seine Edelsteine, seine geschnitzten
Elfenbeinarbeiten zeigte und mir Staunen abnötigte über den unerhörten
Liebreiz des Luxus, in dem er lebte; und dann sagte er, dass Luxus nur ein
Hintergrund sei, die gemalte Kulisse in einem Theaterstück, und dass
Macht, Macht über andere Menschen, Macht über die menschliche
Gesellschaft, der einzige Besitz von Wert sei, die einzige erhabene Lust,
die erlebenswert sei, die einzige Freude, deren man niemals überdrüssig
werde, und dass in unserm Jahrhundert nur die Reichen sie besäßen.
LORD GORING sehr überlegt: Ein
durchaus oberflächliches Credo.
SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Dafür
hielt ich es damals nicht. Dafür halte ich es auch jetzt nicht. Reichtum
hat mir ungeheure Macht gegeben. Er gab mir schon zu Beginn meines Lebens
Unabhängigkeit, und Unabhängigkeit bedeutet alles. Du bist nie arm
gewesen, du hast nie kennen gelernt, was Ehrgeiz ist. Du kannst nicht
verstehen, welch eine wunderbare Chance mir der Baron bot. Eine Chance,
wie sie wenige erhalten.
LORD GORING: Zu ihrem Glück, wenn man nach Ergebnissen urteilen darf.
Aber erzähl mir genau: wie überredete dich der Baron schließlich, zu -
nun ja, zu tun, was du getan hast?
SIR ROBERT CHILTERN: Als ich ging, sagte er zu mir, wenn ich ihm jemals
eine vertrauliche Information von wirklichem Wert geben könne, werde er
mich zu einem sehr reichen Mann machen. Ich war geblendet von der
Aussicht, die er mir bot, und mein Ehrgeiz und mein Verlangen nach Macht
waren damals grenzenlos. Sechs Wochen später gingen gewisse vertrauliche
Dokumente durch meine Hände.
LORD GORING hält die Augen
unverwandt auf den Teppich gerichtet: Staatsdokumente?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja.
Lord Goring
seufzt, fährt sich dann mit der Hand über die
Stirn und blickt auf.
LORD
GORING: Ich hatte keine Ahnung, dass ausgerechnet du von allen Männern
auf der Welt so schwach gewesen sein könntest, Robert, einer solchen
Versuchung, wie sie dir Baron Arnheim bot, nachzugeben.
SIR ROBERT CHILTERN: Schwach? Oh, ich habe es satt, diesen Ausdruck zu hören.
Satt, ihn auf andere anzuwenden. Schwach! Glaubst du wirklich, Arthur,
dass es Schwäche ist, die der Versuchung nachgibt? Ich sage dir, es gibt
schreckliche Versuchungen, und es erfordert Kraft, Kraft und Mut, ihnen
nachzugeben. Sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick aufs Spiel zu
setzen, alles mit einem Wurf zu wagen, einerlei ob der Preis Macht oder
Lust ist - darin liegt keine Schwäche. Darin liegt ein entsetzlicher, ein
gewaltiger Mut. Ich besaß jenen Mut. Ich setzte mich am selben Nachmittag
hin und schrieb Baron Arnheim den Brief, den diese Frau jetzt in Händen
hat. Er gewann durch das Geschäft eine Dreiviertelmillion.
LORD GORING: Und du?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich erhielt von dem Baron einhundertzehntausend
Pfund.
LORD GORING: Du warst mehr wert, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN: Nein; das Geld verschaffte mir genau das, was ich
brauchte, Macht über andere. Ich trat sofort ins Parlament ein. Der Baron
beriet mich von Zeit zu Zeit in Geldgeschäften. Ehe fünf Jahre um waren,
hatte ich mein Vermögen fast verdreifacht. Seit damals hat sich alles,
womit ich mich befasste, als ein Erfolg herausgestellt. In allen
Angelegenheiten, die mit Geld zusammenhingen, habe ich ein so außergewöhnliches
Glück gehabt, dass es mir mitunter beinahe angst machte. Ich erinnere
mich, irgendwo, in irgendeinem ausländischen Buch, gelesen zu haben, wenn
die Götter uns strafen wollen, erhören sie unsere Gebete.
LORD GORING: Aber sag mir, Robert, hast du nie bereut, was du getan hast?
SIR ROBERT CHILTERN: Nein. Ich hatte das Gefühl, das Jahrhundert mit
seinen eigenen Waffen bekämpft und gesiegt zu haben.
LORD GORING düster: Du
glaubtest, du hättest gesiegt.
SIR ROBERT CHILTERN: Das glaubte ich. Nach
einer langen Pause. Arthur,
du verachtest mich für das, was ich dir erzählt habe?
LORD GORING mit tiefem Gefühl in
der Stimme: Du tust mir sehr leid, Robert, wirklich sehr leid.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich behaupte nicht, dass ich irgendwelche
Gewissensbisse verspürt hätte. Nein. Nicht Gewissensbisse im üblichen,
etwas albernen Sinn des Wortes. Aber ich habe häufig Gewissensgeld
gezahlt. Ich hegte die abenteuerliche Hoffnung, ich könnte das Schicksal
besänftigen. Die Summe, die mir Baron Arnheim gab, habe ich seitdem in
doppelter Höhe gemeinnützigen Stiftungen zukommen lassen.
LORD GORING blickt auf: Gemeinnützigen
Stiftungen? Du liebe Güte! Wie viel Schaden musst du angerichtet haben,
Robert!
SIR ROBERT CHILTERN: Oh, sag das nicht, Arthur; sprich nicht so!
LORD GORING: Kümmere dich nicht darum, was ich sage, Robert! Ich sage
immer, was ich nicht sagen sollte. Eigentlich sage ich gewöhnlich, was
ich wirklich denke. Heutzutage ein großer Fehler. Man setzt sich so sehr
der Gefahr aus, verstanden zu werden. Was diese fürchterliche Geschichte
betrifft, so will ich dir helfen, wie ich nur kann. Das weißt du natürlich.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich danke dir, Arthur, ich danke dir. Aber was soll
man tun? Was kann man tun?
LORD GORING lehnt sich, die Hände
in den Taschen, zurück: Nun, die Engländer können keinen Mann
ertragen, der immer behauptet, recht zu haben, aber sie haben sehr viel übrig
für einen Mann, der zugibt, im Unrecht gewesen zu sein. Es ist einer
ihrer größten Vorzüge. In deinem Fall, Robert, würde allerdings ein
Geständnis nichts helfen. Das Geld, wenn du gestattest, dass ich das
sage, ist ... misslich. Außerdem, wenn du die ganze Sache eingeständest,
würdest du nie wieder Moral predigen können. Und in England ist ein
Mann, der nicht zweimal in der Woche einer großen, unmoralischen Zuhörerschaft
aus dem Volke Moral predigen kann, als ernsthafter Politiker völlig
erledigt. Ihm bliebe als Beruf nichts übrig als Botanik oder die Kirche.
Ein Geständnis hätte keinen Sinn. Es würde dich ruinieren.
SIR ROBERT CHILTERN: Es würde mich ruinieren. Arthur, ich kann nichts
anderes tun, als die Sache auszufechten.
LORD GORING steht von seinem Sessel
auf: Ich habe darauf gewartet, dass du das sagst, Robert. Es ist das
einzige, was jetzt zu tun ist. Und du musst den Anfang machen, indem du
deiner Frau die ganze Geschichte erzählst.
SIR ROBERT CHILTERN: Das werde ich nicht tun.
LORD GORING: Robert, glaub mir, du hast unrecht.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich könnte es nicht. Es würde ihre Liebe zu mir töten.
Und was nun diese Frau betrifft, diese Mrs. Cheveley. Wie kann ich mich
gegen sie wehren? Anscheinend warst du früher mit ihr bekannt, Arthur.
LORD GORING: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Hast du sie gut gekannt?
LORD GORING ordnet seine Krawatte: So
wenig, dass ich mich mit ihr verlobte und sie auf der Stelle heiraten
wollte, als ich mich bei den Tenbys aufhielt. Die Angelegenheit dauerte
drei Tage ... fast.
SIR ROBERT CHILTFRN: Warum endete sie?
LORD GORING leichthin: Oh, ich
hab's vergessen. Zumindest spielt es keine Rolle. Hast du es übrigens bei
ihr mit Geld versucht? Sie pflegte mächtig hinter Geld her zu sein.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe ihr jede gewünschte Summe angeboten. Sie
lehnte ab.
LORD GORING: Also versagt mitunter das wunderbare Evangelium des Goldes.
Letzten Endes ist dem Reichen nicht alles möglich.
SIR ROBERT CHILTERN: Nicht alles. Vermutlich hast du recht, Arthur, ich
habe das Gefühl, mir steht öffentliche Schande bevor. Ich bin davon überzeugt.
Nie zuvor wusste ich, was Entsetzen ist. jetzt, weiß ich es. Es ist, als
läge eine eisige Hand auf dem Herzen. Es ist, als poche sich das Herz in
einer leeren Höhle zu Tode.
LORD GORING schlägt auf den Tisch: Robert,
du musst sie bekämpfen. Du musst sie bekämpfen.
SIR ROBERT CHILTFRN: Aber wie?
LORD GORING: Das kann ich dir im Augenblick nicht sagen. Ich habe nicht
die geringste Vorstellung. Aber jeder hat einen schwachen Punkt. In jedem
von uns ist eine brüchige Stelle. Schlendert
zum Kamin und betrachtet sich im Spiegel: Mein Vater sagt mir, dass
sogar ich Fehler besitze. Vielleicht stimmt das. Ich weiß nicht.
SIR ROBERT CHILTERN: Da ich mich gegen Mrs. Cheveley wehren muss, habe ich
das Recht, jede Waffe zu gebrauchen, die ich finden kann, nicht wahr?
LORD GORING immer noch in den
Spiegel blickend: Ich glaube nicht, dass ich an deiner Stelle die
geringsten Bedenken hätte. Sie ist durchaus imstande, für sich selbst zu
sorgen.
SIR ROBERT CHILTERN setzt sich an
den Tisch und nimmt eine
Feder zur Hand: Gut, ich werde
ein chiffriertes Telegramm an die Botschaft in Wien schicken und mich
erkundigen, ob etwas bekannt ist, das gegen sie spricht. Vielleicht gibt
es einen heimlichen Skandal, den sie fürchten mag.
LORD GORING rückt seine
Knopflochblume zurecht: Oh, ich möchte meinen, Mrs. Cheveley gehört
zu den höchst modernen Frauen von heute, die einen neuen Skandal so
kleidsam finden wie einen neuen Hut und beides jeden Nachmittag halb sechs
im Park spazieren führen. Ich bin sicher, dass sie ärgerliches Aufsehen
liebt und dass der Kummer ihres Lebens augenblicklich darin besteht, nicht
genügend erregen zu können.
SIR ROBERT CHILTERN schreibt:
Wie kommst du darauf?
LORD GORING dreht sich um: Sie
hatte gestern Abend viel zuviel Rouge und nicht ganz hinreichend Stoff an
sich. Das ist bei Frauen immer ein Zeichen von Verzweiflung.
SIR ROBERT CHILTERN während er läutet:
Aber es lohnt sich, dass ich nach Wien telegraphiere, oder nicht?
LORD GORING: Es lohnt sich immer, eine Frage zu stellen, wenn es sich auch
nicht immer lohnt, eine Frage zu beantworten.
Mason tritt ein.
SIR ROBERT CHILTERN: Ist Mr. Trafford in seinem Zimmer?
MASON: Ja, Sir Robert.
SIR ROBERT CHILTERN steckt, was er
geschrieben hat, in einen Umschlag,
den er sorgfältig schließt: Sagen Sie ihm, er möchte dies sofort
chiffriert abschicken. Es darf keinen Augenblick aufgeschoben werden.
MASON: Sehr wohl, Sir Robert.
SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Geben Sie es noch einmal her. Schreibt etwas auf den Umschlag. Darauf entfernt sich Mason mit dem
Brief.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie muss eine ungewöhnliche Macht über Baron
Arnheim besessen haben. Ich frage mich, wie.
LORD GORING lächelnd: Das frage
ich mich.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich werde sie auf Leben und Tod bekämpfen, solange
meine Frau nichts erfährt.
LORD GORING mit Nachdruck: Oh, kämpfe
auf jeden Fall - auf jeden Fall.
SIR ROBERT CHILTERN mit einer Gebärde
der Hoffnungslosigkeit: Wenn meine Frau dahinter käme, bliebe wenig,
darum zu kämpfen. Nun ja, sobald ich etwas aus Wien höre, werde ich dich
das Resultat wissen lassen. Es ist eine Möglichkeit, nur eine Möglichkeit,
aber ich glaube an sie. Und wie ich das Jahrhundert mit seinen eigenen
Waffen bekämpfte, werde ich sie mit ihren Waffen bekämpfen. Das ist nur
recht und billig, und sie sieht aus wie eine Frau mit einer Vergangenheit,
nicht wahr?
LORD GORING: Wie die meisten hübschen Frauen. Aber es gibt eine Mode in
Vergangenheiten, wie es eine Mode in Kleidern gibt. Vielleicht ist Mrs.
Cheveleys Vergangenheit eine nur leicht dekolletierte, und die sind
heutzutage ungeheuer beliebt. Außerdem, mein lieber Robert, würde ich
nicht allzu große Hoffnungen darauf setzen, Mrs. Cheveley Angst
einzujagen. Ich würde nicht denken, Mrs. Cheveley sei eine Frau, der man
leicht bange machen kann. Sie hat all ihre Gläubiger überlebt, und sie
beweist eine erstaunliche Geistesgegenwart.
SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Ich lebe jetzt von Hoffnungen. Ich klammere mich
an jede Möglichkeit. Ich fühle mich wie ein Mann auf einem sinkenden
Schiff. Das Wasser strudelt mir schon um die Füße, und selbst in der
Luft liegt ein Ungewitter. Still! Ich höre die Stimme meiner Frau.
Lady
Chiltern, in Straßenkleidung, tritt ein.
LADY
CHILTERN: Guten Tag, Lord Goring.
LORD GORING: Guten Tag, Lady Chiltern! Sind Sie im Park gewesen?
LADY CHILTERN: Nein, ich komme eben aus dem Liberalen Frauenverein, wo übrigens
dein Name, Robert, mit lautem Beifall begrüßt wurde, und jetzt möchte
ich meinen Tee trinken. Zu Lord Goring.
Sie bleiben und trinken mit, nicht wahr?
LORD GORING: Vielen Dank, ein wenig werde ich noch bleiben.
LADY CHILTERN: Ich bin gleich zurück. Ich will nur meinen Hut absetzen.
LORD GORING höchst ernsthaft: Oh,
bitte nicht. Er ist so hübsch. Einer der hübschesten Hüte, die ich je
gesehen habe. Ich hoffe, der Liberale Frauenverein hat ihn mit lautem
Beifall begrüßt.
LADY CHILTERN mit einem Lächeln:
Wir haben viel wichtigere Arbeit zu tun, als unsere Hüte zu betrachten,
Lord Goring.
LORD GORING: Wahrhaftig? Was für Arbeit?
LADY CHILTERN: Ach, lauter langweilige, nützliche und höchst erfreuliche
Dinge: Fabrikgesetze, weibliche Aufseher, das Achtstundengesetz, das
Wahlrecht für das Parlament ... Eigentlich alles, was Sie völlig
uninteressant finden würden.
LORD GORING: Und niemals Hüte?
LADY CHILTERN mit gespielter Entrüstung:
Niemals Hüte, niemals!
Lady
Chiltren geht durch die Tür, die zu ihrem Ankleidezimmer
führt.
SIR
ROBERT CHILTERN ergreift Lord
Gorings Hand: Du bist mir ein guter Freund gewesen, Arthur, ein
wirklich guter Freund.
LORD GORING: Ich wüsste nicht, was ich bisher für dich hätte tun können,
Robert. Soweit ich sehe, habe ich eigentlich überhaupt nichts für dich
tun können. Ich bin gründlich enttäuscht von mir.
SIR ROBERT CHILTERN: Du hast es mir möglich gemacht, dir die Wahrheit zu
erzählen. Das ist sehr viel. Die Wahrheit hat mich immer erstickt.
LORD GORING:
Ach! Die Wahrheit ist etwas, wovon ich mich so bald wie möglich
befreie! Übrigens eine schlechte Angewohnheit. Macht einen im Klub sehr
unbeliebt ... bei den älteren Mitgliedern. Sie nennen es Selbstgefälligkeit.
Vielleicht ist das richtig.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich wünschte zu Gott, ich wäre fähig gewesen, die
Wahrheit zu sagen ... nach der Wahrheit zu leben. Ach! Das ist das
wichtigste im Leben, nach der Wahrheit zu leben. Seufzt
und geht zur Tür. Ich sehe dich bald wieder, Arthur, nicht wahr?
LORD GORING: Natürlich. Wann immer du willst, Ich gehe heute Abend auf
einen Sprung zum Ball im Bachelor-Klub, wenn ich nichts Besseres zu tun
finde. Aber ich komme morgen Vormittag vorbei. Wenn du mich zufällig
heute Abend brauchen solltest, schick eine Nachricht in die Curzon Street.
SIR ROBERT CHILTERN: Danke.
Als er an
der Tür ist, kommt Lady Chiltern aus ihrem Ankleidezimmer.
LADY CHILTERN: Du willst doch nicht gehen, Robert?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe ein paar Briefe zu schreiben, Liebste.
LADY CHILTERN geht zu ihm: Du
arbeitest zu angestrengt, Robert. Nie scheinst du an dich selbst zu
denken, und du siehst so müde aus.
SIR ROBERT CHILTERN: Es ist nichts, Liebste, nichts. Er küsst sie und geht.
LADY CHILTERN zu Lord
Goring: Setzen Sie sich. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Ich
möchte mit Ihnen sprechen, über ... nein, nicht über Hüte oder den
Liberalen Frauenverein. Das erste interessiert Sie viel zu sehr und das
zweite nicht annähernd genug.
LORD GORING: Sie möchten mit mir über Mrs. Cheveley sprechen?
LADY CHILTERN: Ja. Sie haben es erraten. Nachdem Sie gestern Abend fort
waren, erfuhr ich, dass sie mit dem, was sie sagte, wirklich die Wahrheit
gesprochen hatte. Natürlich veranlasste ich Robert, ihr sofort einen
Brief zu schreiben und sein Versprechen zurückzunehmen.
LORD GORING: Das gab er mir zu verstehen.
LADY CHILTERN: Hätte er es gehalten, so wäre das der erste Makel auf
einer stets makellosen Laufbahn gewesen. Robert muss über jeden Vorwurf
erhaben sein. Er ist nicht wie andere Männer. Er kann sich nicht leisten,
was andere Männer tun. Sie sieht Lord Goring an, der schweigt. Sind Sie nicht meiner Ansicht?
Sie sind Roberts bester Freund. Sie sind unser bester Freund, Lord Goring.
Keiner außer mir kennt Robert besser als Sie. Er hat keine Geheimnisse
vor mir, und ich glaube nicht, dass er welche vor Ihnen hat.
LORD GORING: Er hat bestimmt keine Geheimnisse vor mir. Zumindest glaube
ich das.
LADY CHILTERN: Habe ich dann nicht recht mit meiner Meinung von ihm? Ich
weiß, dass ich recht habe. Aber sprechen Sie frei und offen zu mir.
LORD GORING sieht sie geradezu an: Ganz
frei und offen?
LADY CHILTERN: Gewiss. Sie haben doch nichts zu verheimlichen?
LORD GORING: Nein. Aber, meine liebe Lady Chiltern, ich glaube, wenn Sie
mir erlauben, das zu sagen, dass im praktischen Leben.
LADY CHILTERN lächelnd: Von dem Sie so wenig wissen, Lord Goring.
LORD GORING: Von dem ich nichts aus Erfahrung weiß, wenn auch einiges
durch Beobachtung - ich glaube, dass im praktischen Leben der Erfolg, der
wirkliche Erfolg, etwas an sich hat, das ein wenig skrupellos ist, und der
Ehrgeiz stets etwas Skrupelloses. Hat ein Mann erst einmal Herz und Seele
daran gehängt, einen bestimmten Punkt zu erreichen, und muss er dazu eine
Klippe nehmen, dann nimmt er die Klippe, und muss er im Schmutz waten.
LADY CHILTERN: Nun?
LORD GORING: Dann watet er im Schmutz. Natürlich spreche ich nur
allgemein über das Leben.
LADY CHILTERN ernst: Ich hoffe.
Warum sehen Sie mich so merkwürdig an, Lord Goring?
LORD GORING: Lady Chiltern, ich habe mir mitunter gedacht, dass ... Sie
vielleicht ein wenig streng in manchen Lebensanschauungen sind. Ich denke
mir, dass ... Sie häufig nicht genügend Nachsicht üben. In jeder Natur
sind Anlagen zur Schwäche oder Schlimmerem als Schwäche vorhanden.
Nehmen wir zum Beispiel an, dass - irgendein Mann, der in der Öffentlichkeit
steht, mein Vater oder Lord Merton oder sagen wir auch Robert, vorfahren
einen dummen Brief an jemand geschrieben hat ...
LADY CHILTERN: Was meinen Sie mit einem dummen Brief?
LORD GORING: Einen Brief, der die Stellung des Betreffenden ernsthaft gefährdet.
Ich setze nur einen gedachten Fall.
LADY CHILTERN: Robert ist ebenso wenig fähig, etwas Dummes wie etwas
Unrechtes zu tun.
LORD GORING nach einer langen Pause:
Niemand ist unfähig, etwas Dummes zu tun. Niemand ist unfähig, etwas
Unrechtes zu tun.
LADY CHILTERN: Sind Sie ein Pessimist? Was werden die anderen Dandys
sagen? Sie werden alle in Trauer gehen müssen.
LORD GORING steht auf: Nein,
Lady Chiltern, ich bin kein Pessimist. Freilich bin ich nicht ganz sicher,
ob ich genau weiß, was Pessimismus wirklich bedeutet. Ich weiß nur, dass
das Leben nicht ohne barmherzige Nachsicht begriffen, nicht ohne
barmherzige Nachsicht gelebt werden kann. Liebe, nicht deutsche
Philosophie, ist die wahre Auslegung dieser Welt, wie immer auch die
Auslegung der nächsten lauten mag. Und wenn Sie jemals in Verlegenheit
sind, Lady Chiltern, vertrauen Sie mir uneingeschränkt, und ich werde
Ihnen auf jede mir mögliche Weise helfen. Wenn Sie mich jemals brauchen,
kommen Sie zu mir um Beistand, und Sie werden ihn erhalten. Kommen Sie
sofort zu mir.
LADY CHILTERN sieht ihn erstaunt an:
Lord Goring, Sie sprechen ganz ernst. Ich glaube, ich habe Sie noch
nie ernst sprechen hören.
LORD GORING lachend: Sie müssen
mir verzeihen, Lady Chiltern. Es wird nicht wieder vorkommen, wenn ich es
vermeiden kann.
LADY CHILTERN: Aber es gefällt mir, wenn Sie ernst sind.
Mabel
Chiltern erscheint in einem ganz entzückenden Kleid.
MABEL
CHILTERN: Liebe Gertrude, sag Lord Goring nicht so etwas Fürchterliches.
Ernst würde ihm gar nicht stehen. Guten Tag, Lord Goring! Bitte bleiben
Sie so unseriös, wie Sie können.
LORD GORING: Ich würde es gern, Miss Mabel, aber ich fürchte, ich bin
... heute ein wenig aus der Übung, und außerdem muss ich jetzt gehen.
MABEL CHILTERN: Gerade, wenn ich komme! Was für schreckliche Manieren Sie
haben! Ich bin überzeugt, Sie sind sehr schlecht erzogen.
LORD GORING: Das stimmt.
MABEL CHILTERN: Ich wünschte, ich hätte Sie erzogen.
LORD GORING: Ich bedaure sehr, dass Sie es nicht waren.
MABEL CHILTERN: Vermutlich ist es jetzt zu spät?
LORD GORING lächelnd: Ich bin
nicht so sicher.
MABEL CHILTERN: Reiten Sie morgen Vormittag?
LORD GORING: Ja, um zehn.
MABEL CHILTERN: Vergessen Sie's nicht.
LORD GORING: Natürlich nicht. Übrigens, Lady Chiltern, die heutige >Morning
Post< bringt keine Liste Ihrer Gäste. Offenbar ist sie durch den
Grafschaftsrat oder die Lambeth-Beratung oder etwas ebenso Langweiliges
verdrängt worden. Könnten Sie mir eine Liste verschaffen? Ich habe einen
besonderen Grund, Sie darum zu bitten.
LADY CHILTERN: Gewiss kann Ihnen Mr. Trafford eine geben.
LORD GORING: Danke vielmals.
MABEL CHILTERN: Tommy ist der nützlichste Mensch von London.
LORD GORING wendet sich ihr zu:
Und wer ist Londons größte Zierde?
MABEL CHILTERN triumphierend: Ich.
LORD GORING: Wie gescheit von Ihnen, es zu erraten!
Nimmt Hut und Stock. Auf
wiedersehn, Lady Chiltern! Sie werden daran denken, was ich Ihnen gesagt
habe?
LADY CHILTERN: Ja, aber ich weiß nicht, warum Sie es zu mir gesagt haben.
LORD GORING: Das weiß ich selber kaum. Auf wieder sehn, Miss Mabel!
MABEL CHILTERN mit einem
etwas enttäuschten Schmollmund: Ich wünschte, Sie gingen noch nicht.
Ich habe heute Vormittag vier wundervolle Abenteuer erlebt, eigentlich
viereinhalb. Sie könnten bleiben und sich ein paar davon anhören.
LORD GORING: Wie selbstsüchtig von Ihnen, viereinhalb zu erleben! Da
werden für mich keine mehr übrig sein.
MABEL CHILTERN: Ich möchte nicht, dass Sie überhaupt welche erleben. Das
wäre nicht gut für Sie.
LORD GORING: Das ist die erste Unfreundlichkeit, die Sie mir je gesagt
haben. Und wie reizend haben Sie die gesagt! Morgen um zehn.
MABEL CHILTERN: Pünktlich.
LORD GORING: Ganz pünktlich. Aber bringen Sie nicht Mr. Trafford mit.
MABEL CHILTERN wirft ein wenig den
Kopf nach hinten: Natürlich werde ich Tommy Trafford nicht
mitbringen. Tommy Trafford ist tief in Ungnade.
LORD GORING: Das freut mich zu hören. Verbeugt
sich und geht hinaus.
MABEL CHILTERN: Gertrude, ich wünschte, du würdest mit Tommy
Trafford sprechen.
LADY CHILTERN: Was hat denn der arme Mr. Trafford diesmal verbrochen?
Robert sagt, er sei der beste Sekretär, den er je gehabt hat.
MABEL CHILTERN: Tommy hat mir wieder einen Antrag gemacht. Tommy tut
wahrhaftig nichts anderes, als mir Anträge zu machen. Gestern Abend hat
er mir im Musikzimmer einen Antrag gemacht, als ich völlig wehrlos war,
weil da ein hochkünstlerisches Trio spielte. Dass ich nicht wagte, ihm
das mindeste zu entgegnen, brauche ich dir kaum zu erzählen. Es hätte
die Musik sofort zum Schweigen gebracht. Musiker sind so absurd unvernünftig.
Immer wollen sie einen gerade in dem Augenblick völlig stumm haben, wenn
man sich danach sehnt, völlig taub zu sein. Dann hat er mir heute
Vormittag bei hellem Tageslicht und vor dieser grässlichen Achillesstatue
einen Antrag gemacht. Wahrhaftig, es ist einfach schauderhaft, was vor
diesem Kunstwerk stattfindet. Die Polizei sollte eingreifen. Beim Lunch
sah ich an dem Glanz in seinen Augen, dass er wieder einen Antrag machen
wollte, und es gelang mir eben noch, ihn rechtzeitig im Zaum zu halten,
indem ich ihm versicherte, ich sei eine Bimetallistin. Zum Glück weiß
ich nicht, was Bimetallismus bedeutet. Und ich glaube auch nicht, dass es
jemand anders weiß. Aber die Bemerkung schmetterte Tommy für zehn
Minuten nieder. Er sah ganz erschrocken aus. Und außerdem hat Tommy eine
so verdrießliche Art, seine Anträge zu machen. Ich hätte ja nicht so
viel dagegen einzuwenden, wenn er es lauthals täte. Das könnte auf die
Leute Eindruck machen. Aber er redet dann so furchtbar vertraulich. Wenn
Tommy romantisch sein möchte, redet er mit einem wie ein Arzt. Ich mag
Tommy sehr gern, aber seine Methoden, einen Heiratsantrag zu machen, sind
völlig überholt. Ich wünschte, du würdest mit ihm sprechen, Gertrude,
und ihm sagen, dass einmal in der Woche sehr wohl ausreicht, jemand einen
Antrag zu machen, und es sollte stets auf eine Art und Weise geschehen,
die etwas Aufmerksamkeit erregt.
LADY CHILTERN: Liebe Mabel, sprich nicht so. Außerdem hält Robert sehr
viel von Mr. Trafford. Er meint, er habe eine glänzende Zukunft vor sich.
MABEL CHILTERN: Oh! Ich würde um alles unter der Sonne keinen Mann mit
einer Zukunft vor sich heiraten.
LADY CHILTERN:
Mabel!
MABEL CHILTERN: Ich weiß, Liebste. Du
hast einen Mann mit einer Zukunft geheiratet, nicht wahr? Aber schließlich
war Robert ein Genie, und du hast einen edlen, selbstaufopfernden
Charakter. Du bist Genies gewachsen. Ich habe überhaupt keinen Charakter,
und Robert ist das einzige Genie, das ich je ertragen konnte. In der Regel
finde ich sie einfach unmöglich! Genies reden soviel, nicht wahr? Eine so
schlechte Angewohnheit! Und immer denken sie über sich selbst nach, wenn
ich möchte, dass sie an mich denken. Ich muss jetzt gehen, zur Probe bei
Lady Basildon. Du erinnerst dich, wir stellen lebende Bilder. Den Triumph
von irgendwas, ich weiß nicht was! Ich hoffe, es wird mein Triumph sein.
Das ist der einzige Triumph, der mich im Augenblick wirklich interessiert.
Küsst Lady Chiltern und geht
hinaus, kommt dann zurückgelaufen. Oh, Gertrude, weißt du, wer dich
besucht? Diese schreckliche Mrs. Cheveley, in einem ganz bezaubernden
Kleid. Hast du sie eingeladen?
LADY CHILTERN steht auf: Mrs.
Cheveley? Besucht mich? Unmöglich!
MABEL CHILTERN: Ich sage dir, sie kommt die Treppe herauf, in voller Größe
wie das Leben und nicht annähernd so naturgetreu.
LADY CHILTERN: Du brauchst nicht zu warten, Mabel. Vergiss nicht, Lady
Basildon erwartet dich.
MABEL CHILTERN: Oh! Ich muss Lady Markby begrüßen. Sie ist entzückend.
Ich lasse mich so gern von ihr ausschelten.
Mason tritt
ein.
MASON: Lady Markby. Mrs. Cheveley.
Es
erscheinen Lady Markby und Mrs. Cheveley.
LADY
CHILTERN geht ihnen entgegen: Liebe
Lady Markby, wie liebenswürdig von Ihnen, mich zu besuchen! Reicht
ihr die Hand und verneigt sich etwas kühl gegen Mrs. Cheveley. Wollen Sie
sich nicht setzen, Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY:
Danke. Ist das nicht Miss Chiltern? Ich würde sie so gern kennen lernen.
LADY CHILTERN: Mabel, Mrs. Cheveley hat den Wunsch, dich kennen zulernen.
Mabel
Chiltern neigt zur Begrüßung ein wenig den Kopf.
MRS. CHEVELEY setzt sich: Ich
fand Ihr Kleid gestern Abend so bezaubernd, Miss Chiltern. So schlicht und
... angemessen.
MABEL CHILTERN: Wirklich? Das muss ich meiner Schneiderin sagen. Sie wird
staunen. Auf Wiedersehen, Lady Markby!
LADY MARKBY: Sie wollen schon gehen?
MABEL CHILTERN: Es tut mir so leid, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.
Ich bin auf dem Sprung zu einer Probe. Ich muss in irgendwelchen lebenden
Bildern auf dem Kopf stehen.
LADY MARKBY: Auf dem Kopf, Kind? Oh! Das will ich nicht hoffen. Ich
glaube, das ist sehr ungesund. Nimmt
auf dem Sofa neben Lady Chiltern
Platz.
MABEL CHILTERN: Aber es ist für ein vortreffliches Liebeswerk; Hilfe
für die Verdienstlosen, die einzigen Leute, die mich wirklich
interessieren. Ich bin Sekretär, und Tommy Trafford ist Schatzmeister.
MRS. CHEVELEY:
Und was ist Lord Goring?
MABEL CHILTERN: Oh! Lord Goring ist Präsident.
MRS. CHEVELEY: Der Posten müsste wunderbar zu ihm passen, wenn er nicht
verdorben ist, seit ich ihn kennen lernte.
LADY MARKBY nachdenklich: Sie
sind bemerkenswert modern, Mabel. Vielleicht ein wenig zu modern. Nichts
ist so gefährlich, als allzu modern zu sein. Es kann einem passieren,
dass man ganz plötzlich altmodisch wird. Ich habe viele Beispiele dafür
erlebt.
MABEL CHILTERN: Welch eine schreckliche Aussicht!
LADY MARKBY: Ach, meine Liebe, Sie brauchen nicht nervös zu werden. Sie
werden immer denkbar hübsch sein. Das ist die beste Mode, die es gibt,
und die einzige Mode, in der England mit Erfolg tonangebend ist.
MABEL CHILTERN mit einem
Knicks: Haben Sie vielen Dank, Lady Markby, im Namen Englands ... und
in meinem. Geht hinaus.
LADY MARKBY wendet sich an Lady
Chiltern: Liebe Gertrude, wir sind nur vorbeigekommen, um zu erfahren,
ob Mrs. Cheveleys Diamantspange gefunden wurde.
LADY CHILTERN:
Hier?
MRS. CHEVELEY: Ja. Ich vermisste sie, als
ich ins Claridge zurückkam, und ich dachte, ich könnte sie möglicherweise
hier verloren haben.
LADY CHILTERN: Ich habe nichts darüber gehört. Aber ich werde den Butler
kommen lassen und ihn fragen. Läutet.
MRS. CHEVELEY: O bitte bemühen Sie sich nicht, Lady Chiltern. Kann
sein ich habe sie in der Oper verloren, ehe wir herkamen.
LADY MARKBY: Ach ja, wahrscheinlich ist es in der Oper gewesen. Tatsache
ist, dass wir heutzutage alle so hasten und drängen, dass ich staunen
muss, wenn wir nach einem Abend noch etwas an uns zurückbehalten haben.
Ich weiß von mir selbst, wenn ich aus einer Gesellschaft zurückkomme,
habe ich stets das Gefühl, als hätte ich nicht einen Fetzen am Leibe, außer
einem kleinen Anstandsfetzen, gerade genug, die niederen Schichten zu
hindern, dass sie peinliche Bemerkungen durch das Wagenfenster machen.
Unsere Gesellschaft ist in der Tat fürchterlich übervölkert. Jemand
sollte wahrhaftig ein angemessenes System unterstützter Auswanderung
entwerfen. Das würde sehr viel Gutes tun.
MRS. CHEVELEY: Ich bin völlig Ihrer Meinung, Lady Markby. Es ist fast
sechs Jahre her, seit ich zur Saison in London gewesen bin, und ich muss
sagen, die Gesellschaft ist fürchterlich gemischt geworden. Man sieht überall
die merkwürdigsten Leute.
LADY MARKBY: Das ist durchaus richtig, meine Liebe. Aber man braucht sie
nicht kennen zulernen. Ich bin überzeugt, dass ich nicht die Hälfte der
Leute kenne, die in mein Haus kommen. Und nach allem, was ich höre, möchte
ich es auch gar nicht.
Mason tritt
ein.
LADY CHILTFRN: Was für eine Spange war es, die Sie verloren haben,
Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY: Eine diamantne Schlangenspange mit einem Rubin, einem
ziemlich großen Rubin.
LADY MARKBY: Ich dächte, Sie sagten, am Kopf sei ein Saphir, meine Liebe?
MRS. CHEVELEY lächelnd: Nein,
Lady Markby - ein Rubin.
LADY MARKBY nickt: Und sehr
kleidsam, davon bin ich völlig überzeugt.
LADY CHILTERN: Ist eine Rubin- und Diamant-Spange heute morgen in
irgendeinem Zimmer gefunden worden, Mason?
MASON: Nein, Mylady.
MRS. CHEVELEY: Es hat wirklich nichts auf sich, Lady Chiltern. Es tut mir
so leid, Ihnen Ungelegenheit verursacht zu haben.
LADY CHILTERN kühl: Oh, es war
keine Ungelegenheit. Das genügt, Mason. Sie können den Tee bringen.
Mason geht
ab.
LADY MARKBY: Nun, ich muss sagen, es ist höchst verdrießlich,
etwas zu verlieren. Ich erinnere mich, dass ich einmal in Bath vor Jahren
in der Trinkhalle ein ungewöhnlich hübsches Kameenarmband verlor, das
mir Sir John geschenkt hatte. Ich glaube nicht, das muss ich leider sagen,
dass er mir seitdem jemals etwas geschenkt hat. Er ist auf betrübliche
Weise entartet. Wirklich, dieses grässliche Unterhaus macht uns unsere
Ehemänner völlig zuschanden. Ich halte das Abgeordnetenhaus bei weitem für
den größten Schlag gegen ein glückliches Eheleben, den es gab, seit
diese abscheuliche Sache, die höhere Bildung der Frauen, erfunden wurde.
LADY CHILTERN:
Oh! Dergleichen in diesem Hause zu sagen, ist Ketzerei, Lady Markby.
Robert ist ein bedeutender Verfechter der höheren Bildung der Frauen,
und, Verzeihung, ich bin es ebenfalls.
MRS. CHEVELEY: Was ich gern erleben würde, ist die höhere Bildung der Männer.
Die Männer haben sie so überaus nötig.
LADY MARKBY: Allerdings, meine Liebe. Aber ich fürchte, ein solcher Plan
wäre völlig undurchführbar. Ich glaube nicht, dass der Mann sehr befähigt
ist, sich zu entwickeln. Er ist so weit gekommen, wie es ihm möglich ist,
und das ist nicht weit, wie? Was die Frauen betrifft, nun ja, liebe
Gertrude, Sie gehören der jüngeren Generation an, und es ist zweifellos
ganz in Ordnung, wenn Sie dem zustimmen. Zu meiner Zeit wurde uns natürlich
gelehrt, nichts zu verstehen. Das war das alte System, und es war
erstaunlich interessant. Ich versichere Ihnen, die Summe der Dinge, die
man meine arme Schwester und mich nicht zu verstehen lehrte, war ganz außerordentlich.
Die modernen Frauen verstehen dagegen alles, wie ich höre.
MRS. CHEVELEY: Ausgenommen ihre Ehemänner. Die sind das einzige, was die
moderne Frau nie versteht.
LADY MARKBY: Und das ist auch sehr gut, meine Liebe, möchte ich
behaupten. Es könnte so manches glückliche Heim zerstören, wenn es
anders wäre. Nicht das Ihre, Gertrude, das brauche ich kaum zu sagen. Sie
haben einen Mustergatten geheiratet. Ich wünschte, ich könnte von mir
dasselbe behaupten. Aber seit sich Sir John darauf geworfen hat, regelmäßig
den Debatten beizuwohnen, was er in der guten alten Zeit nie zu tun
pflegte, ist seine Ausdrucksweise ganz unmöglich geworden. Er scheint
immer zu glauben, er richte das Wort an das Parlament, und wenn er die
Lage der Landarbeiter oder die walisische Kirchengemeinde oder etwas ähnlich
Unschickliches erörtert, bin ich demzufolge genötigt, alle Bedienten aus
dem Zimmer zu schicken. Es ist nicht angenehm, wenn man sieht, wie der
eigene Butler, den man seit dreiundzwanzig Jahren im Hause hat, wahrhaftig
an der Anrichte errötet und die Diener in den Ecken Verrenkungen machen
wie Leute im Zirkus. Ich versichere Ihnen, mein Leben wird völlig zerrüttet
werden, wenn man John nicht umgehend ins Oberhaus schickt. Dann wird er
sich nicht mehr für Politik interessieren, nicht wahr? Das Oberhaus ist
so verständig. Eine Gesellschaft von Gentlemen. In seinem
augenblicklichen Zustand ist Sir John wirklich eine große Prüfung. Heute
morgen, ehe das Frühstück noch halb vorbei war, stellte er sich auf den
Kaminteppich, steckte die Hände in die Taschen und wandte sich aus vollem
Halse an England. Ich verließ den Tisch, sobald ich meine zweite Tasse
Tee getrunken hatte, das brauche ich wohl kaum zu sagen. Aber seine
heftige Sprache war im ganzen Hause zu hören! Ich hoffe, Gertrude, Sir
Robert ist nicht so?
LADY CHILTERN: Aber mich interessiert die Politik ungemein, Lady Markby.
Ich liebe es, Robert zuzuhören, wenn er darüber spricht.
LADY MARKBY: Nun, hoffentlich widmet er sich den Blaubüchern nicht in dem
Maße wie Sir John. Ich glaube nicht, dass sie für jemand eine
vereitelnde Lektüre sein können.
MRS. CHEVELEY lässig: Ich habe
nie ein Blaubuch gelesen. Ich lese lieber Bücher ... in gelbem Einband.
LADY MARKBY in echter Ahnungslosigkeit: Gelb ist eine fröhlichere Farbe, nicht
wahr? In meiner Jugend habe ich recht viel Gelb getragen und würde es
jetzt noch tun, wenn Sir John mit seinen Bemerkungen nicht so peinlich wäre,
und ein Mann ist in Kleidungsfragen stets lächerlich, nicht wahr?
MRS. CHEVELEY:
O nein! Ich glaube, die Männer sind in bezug auf Kleidung die einzigen
Autoritäten.
LADY MARKBY: Wirklich? Nach den Hüten, die sie tragen, würde man das
nicht meinen. Stimmt's?
Der Butler
tritt ein, gefolgt von dem Diener. Auf einem kleinen
Tisch neben Lady Chiltern wird zum
Tee gedeckt.
LADY CHILTERN: Darf ich Ihnen Tee einschenken, Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY: Vielen Dank.
Der Butler
reicht Mrs. Cheveley eine Tasse Tee auf einem Präsentierteller.
LADY CHILTERN: Etwas Tee, Lady Markby?
LADY MARKBY: Nein, danke, meine Liebe. Die
Bedienten gehen hinaus. Tatsache ist, dass ich versprochen habe, für
zehn Minuten die arme Lady Brancaster zu besuchen, die in sehr großer
Sorge ist. Ihre Tochter, noch dazu ein durchaus wohlerzogenes Mädchen,
hat sich doch wahrhaftig mit einem Hilfsgeistlichen in Shropshire verlobt.
Das ist sehr traurig, wirklich sehr traurig. Ich kann diese moderne Manie
für Hilfsgeistliche nicht begreifen. Zu meiner Zeit haben wir Mädchen
sie natürlich im Ort umherlaufen sehen wie Kaninchen. Aber wir haben
ihnen nie irgendwelche Beachtung geschenkt, das brauche ich wohl kaum zu
sagen. Heutzutage soll jedoch die Gesellschaft auf dem Lande von ihnen
geradezu durchlöchert sein. Das halte ich für im höchsten Grade
gottvergessen. Und außerdem hat der älteste Sohn mit seinem Vater Streit
gehabt, und es heißt, wenn sie sich im Klub begegnen, versteckt sich Lord
Brancaster immer hinter den Finanzberichten in der >Times<.
Allerdings glaube ich, das ist heutzutage ein ganz übliches Vorkommnis,
und in allen Klubs in der St. James Street müssen sie Extraexemplare der
>Times< halten, es gibt so viele Söhne, die mit ihren Vätern
nichts zu tun haben wollen, und so viele Väter, die mit ihren Söhnen
nicht sprechen wollen. Ich für meine Person finde, das ist sehr zu
bedauern.
MRS. CHEVELEY: Das finde ich auch. Väter haben heutzutage so viel von
ihren Söhnen zu lernen.
LADY MARKBY: Wirklich, meine Liebe? Was denn?
MRS. CHEVELEY: Die Lebenskunst. Die einzige wirklich schöne Kunst, die
wir in unserer Zeit hervorgebracht haben.
LADY MARKBY schüttelt den Kopf:
Ach! Ich fürchte, davon verstand Lord Brancaster eine Menge. Mehr als
jemals seine arme Frau. Zu Lady
Chiltern gewandt. Sie kennen doch Lady Brancaster, meine Liebe?
LADY CHILTERN: Nur flüchtig. Sie hielt sich letzten Herbst in Langton
auf, als wir dort waren.
LADY MARKBY: Nun ja, wie alle beleibten Frauen erscheint sie wie ein
wahres Bild der Glückseligkeit, das haben Sie zweifellos bemerkt. Aber es
gibt viele Tragödien in ihrer Familie, abgesehen von dieser Geschichte
mit dem Hilfsgeistlichen. Ihre einzige Schwester, Mrs. Jekyll, hatte ein höchst
unglückliches Leben, nicht durch eigene Schuld, muss ich leider sagen. Am
Ende war ihr Herz so gebrochen, dass sie in ein Kloster ging oder zur
Opernbühne, ich habe vergessen, was es war. Nein, ich glaube, sie wandte
sich der dekorativen Stickkunst zu. Ich weiß, dass sie jedes Gefühl für
Freude im Leben verloren hatte. Steht
auf. Und nun, Gertrude, werde ich, wenn Sie gestatten, Mrs. Cheveley
in Ihrer Obhut lassen und sie in einer Viertelstunde abholen. Oder
vielleicht würde es Ihnen nichts ausmachen, liebe Mrs. Cheveley, im Wagen
zu warten, während ich bei Lady Brancaster bin. Da ich einen
Beileidsbesuch zu machen gedenke, werde ich nicht lange bleiben.
MRS. CHEVELEY steht auf: Es
macht mir überhaupt nichts aus, im Wagen zu warten, vorausgesetzt, es ist
jemand da, der nach mir schaut.
LADY MARKBY: Nun ja, der Hilfsgeistliche soll immer um das Haus
herumstreifen.
MRS. CHEVELEY: Ich fürchte, auf Freunde von Mädchen bin ich nicht sehr
erpicht.
LADY CHILTERN steht auf: Oh, ich
hoffe, Mrs. Cheveley bleibt noch ein wenig. Ich würde mich gern ein paar
Minuten mit ihr unterhalten.
MRS. CHEVELEY: Wie überaus gütig von Ihnen, Lady Chiltern! Glauben Sie
mir, nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten.
LADY MARKBY:
Ah! Zweifellos haben Sie beide viele angenehme Erinnerungen an Ihre
Schulzeit auszutauschen. Auf Wiedersehen, liebe Gertrude! Werde ich Sie
heute Abend bei Lady Bonar sehen? Sie hat ein wundervolles neues Genie
entdeckt. Er beschäftigt sich mit ... überhaupt nichts, glaube ich. Das
ist ein großer Trost, nicht wahr?
LADY CHILTERN: Robert und ich speisen heute allein zu Hause, und ich
glaube nicht, dass ich später noch irgendwohin gehe. Robert muss natürlich
ins Parlament. Aber da geht es um nichts Interessantes.
LADY MARKBY: Allein zu Hause speisen? Ist das sehr klug? Ach, ich vergaß,
Ihr Mann ist ja eine Ausnahme. Meiner ist die allgemeine Regel, und nichts
macht eine Frau so rasch alt wie eine Ehe mit der allgemeinen Regel.
Lady Markby ab.
MRS. CHEVELEY: Erstaunliche Frau, diese Lady Markby, nicht wahr?
Redet mehr und sagt weniger als irgendein Mensch, der mir je begegnet ist.
Sie ist zum öffentlichen Redner geschaffen. Viel mehr als ihr Gatte,
obgleich er ein typischer Engländer ist, immer langweilig und meistens
hitzig.
Lady
Chiltern gibt keine Antwort, sondern bleibt stehen. Pause.
Dann treffen sich die Augen der
beiden Frauen. Lady Chiltern ist ernst
und bleich, Mrs. Cheveley scheint eher belustigt zu sein.
LADY CHILTERN: Mrs. Cheveley, ich halte es für richtig, Ihnen ganz
offen zu sagen, dass ich Sie gestern Abend nicht in mein Haus eingeladen hätte,
wäre mir bekannt gewesen, wer Sie wirklich sind.
MRS. CHEVELEY mit einem
impertinenten Lächeln: Wahrhaftig?
LADY CHILTERN: Ich hätte es nicht tun können.
MRS. CHEVELEY: Ich sehe, dass Sie sich in all diesen Jahren nicht ein
bisschen geändert haben, Gertrude.
LADY CHILTERN: Ich ändere mich nie.
MRS. CHEVELEY zieht die Brauen hoch:
Dann hat Sie das Leben nichts gelehrt?
LADY CHILTERN: Es hat mich gelehrt, dass ein Mensch, der sich einmal einer
ehrlosen und schimpflichen Handlung schuldig gemacht hat, dessen ein
zweites Mal schuldig werden kann, und deshalb sollte man ihn meiden.
MRS. CHEVELEY: Würden Sie diese Regel auf jedermann anwenden?
LADY CHILTERN: Ja, auf jedermann, ohne Ausnahme.
MRS. CHEVELEY: Dann tun Sie mir leid, Gertrude, sehr leid.
LADY CHILTERN: Ich bin überzeugt, Sie sehen jetzt ein, dass während
Ihres Aufenthalts in London ein weiterer Verkehr zwischen uns aus vielen
Gründen völlig unmöglich ist?
MRS. CHEVELEY lehnt sich in ihrem
Sessel zurück: Wissen Sie, Gertrude, Ihr Moralpredigen kümmert mich
nicht ein bisschen. Moral ist einfach die Haltung, die wir gegen Leute
einnehmen, von denen wir persönlich nicht erbaut sind. Sie mögen mich
nicht, dessen bin ich mir völlig bewusst. Und ich habe Sie stets
verabscheut. Und doch bin ich hergekommen, um Ihnen einen Dienst zu
erweisen.
LADY CHILTERN verächtlich: Wie
den Dienst, den Sie gestern Abend meinem Mann erweisen wollten! Gott sei
Dank habe ich ihn davor bewahrt.
MRS. CHEVELEY springt auf: Sie
also haben ihn veranlasst, mir diesen unverschämten Brief zu schreiben?
Sie haben ihn veranlasst, sein Versprechen zurückzunehmen?
LADY CHILTERN:
Ja.
MRS. CHEVELEY: Dann müssen Sie ihn
veranlassen, es zu halten. Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen Vormittag - mehr
nicht. Wenn sich Ihr Mann bis dahin nicht feierlich verpflichtet, mich bei
diesem großen Projekt, an dem ich interessiert bin, zu unterstützen.
LADY CHILTERN: Dieser betrügerischen Spekulation.
MRS. CHEVELEY: Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe Ihren Mann in der
Hand, und wenn Sie klug sind, veranlassen Sie ihn, zu tun, was ich ihm
gesagt habe.
LADY CHILTERN geht auf sie zu:
Sie sind unverschämt. Was hat mein Mann mit Ihnen zu schaffen? Mit einer
Frau wie Ihnen?
MRS. CHEVELEY mit bitterem
Lachen: Auf dieser Welt gesellt sich gleich zu gleich. Weil Ihr Mann
selbst betrügerisch und ehrlos ist, passen wir so gut zusammen. Zwischen
Ihnen und ihm öffnen sich Abgründe. Er und ich sind einander näher als
Freunde. Wir sind aneinandergekettete Feinde. Dieselbe Sünde verbindet
uns.
LADY CHILTERN: Wie können Sie es wagen, meinen Gatten mit sich auf eine
Stufe zu stellen? Wie können Sie es wagen, ihm oder mir zu drohen?
Verlassen Sie mein Haus. Sie taugen nicht, es zu betreten.
Sir Robert
Chiltern kommt von hinten. Er hört die letzten Worte
seiner Frau und sieht, an wen sie
gerichtet sind. Er wird totenbleich.
MRS. CHEVELEY: Ihr Haus! Ein Haus, gekauft für den Preis der
Ehrlosigkeit. Ein Haus, in dem alles und jedes durch Betrug bezahlt wurde.
Dreht sich um und erblickt Sir
Robert Chiltern. Fragen Sie ihn, woher sein Vermögen stammt! Lassen
Sie sich von ihm erzählen, wie er einem Effektenmakler ein
Kabinettsgeheimnis verkaufte. Erfahren Sie von ihm, welchem Umstand Sie
Ihre Stellung verdanken.
LADY CHILTERN: Das ist nicht wahr! Robert! Es ist nicht wahr!
MRS. CHEVELEY zeigt mit
ausgestrecktem Finger auf ihn: Sehen Sie ihn an! Kann er es leugnen?
Wagt er es?
SIR ROBERT CHILTERN: Gehen Sie! Gehen Sie auf der Stelle. Sie haben jetzt
Ihr Schlimmstes getan.
MRS. CHEVELEY: Mein Schlimmstes? Ich bin noch nicht mit Ihnen zu Ende, mit
keinem von Ihnen. Ich gebe Ihnen beiden Zeit bis morgen Mittag. Wenn Sie
bis dahin nicht tun, was ich von Ihnen verlange, wird die ganze Welt
erfahren, wie Robert Chiltern begann.
Sir Robert
Chiltern läutet. Mason tritt ein.
SIR ROBERT CHILTERN: Begleiten Sie Mrs. Cheveley hinaus.
Mrs.
Cheveley zuckt zusammen, verneigt sich dann mit etwas
übertriebener Höflichkeit vor Lady
Chiltern, die den Gruß nicht erwidert.
Als sie an Sir Robert Chiltern vorbeigeht, der dicht an der Tür steht, hält sie einen Augenblick inne und sieht ihm gerade
ins Gesicht. Dann geht sie hinaus,
gefolgt von dem Diener, der die Tür
hinter sich schließt. Das Ehepaar bleibt allein zurück. Lady Chiltern steht wie jemand in einem schrecklichen Traum. Dann dreht
sie sich um und blickt ihren Gatten an. Sie blickt ihn mit sonderbaren
Augen an, als sähe sie ihn zum erstenmal.
LADY CHILTERN: Du hast ein Kabinettsgeheimnis für Geld verkauft?
Du hast dein Leben mit einem Betrug begonnen? Du hast deine Karriere auf
Ehrlosigkeit aufgebaut? Oh, sag mir, dass es nicht wahr ist! Belüge mich!
Belüge mich! Sag mir, dass es nicht wahr ist.
SIR ROBERT CHILTERN: Was diese Frau gesagt hat, ist völlig wahr. Aber hör
mich an, Gertrude. Du machst dir nicht klar, wie groß die Versuchung war.
Lass mich dir die ganze Sache erzählen. Geht
zu ihr.
LADY CHILTERN: Komm mir nicht nahe. Rühr mich nicht an. Ich habe das
Gefühl, als hättest du mich für immer besudelt. Oh! Welch eine Maske
hast du in all diesen Jahren getragen! Eine abscheuliche bemalte Maske! Du
hast dich für Geld verkauft. Oh! Ein gemeiner Dieb wäre besser. Du hast
dich dem Höchstbietenden zum Verkauf angeboten! Du wurdest auf dem Markt
gekauft. Die ganze Welt hast du belogen. Und doch willst du mich nicht belügen.
SIR ROBERT CHILTERN stürzt auf sie
zu: Gertrude! Gertrude!
LADY CHILTERN stößt ihn mit
ausgestreckten Händen zurück: Nein, sprich nicht! Sag nichts! Deine
Stimme weckt furchtbare Erinnerungen - Erinnerungen an Dinge, die mich
dazu brachten, dich zu lieben - Erinnerungen, die mir jetzt entsetzlich
sind. Und wie habe ich dich angebetet. Du warst für mich etwas vom alltäglichen
Leben Abgesondertes, etwas Lauteres, Edles, Redliches, ohne Makel. Die
Welt erschien mir schöner, weil du darin lebtest, und Tugend wirklicher,
weil es dich gab. Und jetzt - oh, wenn ich daran denke, dass ich einen
Mann wie dich zu meinem Ideal machte! Zum Ideal meines Lebens!
SIR ROBERT CHILTERN: Das war dein Fehler. Das war dein Irrtum. Der Irrtum,
den alle Frauen begehen. Warum könnt ihr Frauen uns nicht samt Fehlern
und allem lieben? Warum stellt ihr uns auf monströse Piedestale? Unser
aller Füße sind aus Ton, die der Frauen wie die der Männer, aber wenn
wir Männer Frauen lieben, dann lieben wir sie mit dem Wissen um ihre Schwächen,
ihre Torheiten, ihre Unvollkommenheiten, lieben sie darum vielleicht um so
mehr. Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen brauchen Liebe.
Wenn wir durch eigene Hand oder durch die Hände anderer verwundet sind,
sollte uns Liebe heilen - was hätte Liebe sonst überhaupt für einen
Sinn? Alle Sünden, außer der Sünde gegen sie selbst, sollte die Liebe
vergeben. Jedes Leben, außer dem liebelosen, sollte wahre Liebe
verzeihen. Die Liebe eines Mannes ist so beschaffen. Sie ist umfassender,
größer, menschlicher als die einer Frau. Frauen glauben, aus Männern
Ideale zu machen. Was sie aus uns machen, sind nur falsche Idole. Du hast
mich zu deinem falschen Idol gemacht, und ich besaß nicht den Mut,
hinabzusteigen, dir meine Wunden zu weisen und dir von meinen Schwächen
zu erzählen. Ich fürchtete, ich könnte deine Liebe verlieren, wie ich
sie jetzt verloren habe. Und so hast du heute nacht mein Leben zugrunde
gerichtet - ja, es zugrunde gerichtet! Was diese Frau von mir verlangte,
war nichts im Vergleich zu dem, was sie mir bot. Sie bot mir Sicherheit,
Ruhe, Bestand. Die Sünde meiner Jugend, die ich begraben glaubte, erhob
sich vor mir, grässlich, abscheulich, die Hände an meiner Kehle. Ich hätte
sie für alle Zeit töten, in ihr Grab zurückschicken, ihre Geschichte
vernichten, das einzige Zeugnis gegen mich verbrennen können. Du hast
mich daran gehindert. Niemand anders als du, das weißt du. Und was steht
mir nun anderes bevor als öffentliche Schande, Sturz, furchtbare Schmach,
der Hohn der Welt, ein einsames, entehrtes Leben und eines Tages
vielleicht ein einsamer, entehrter Tod? Sollen doch die Frauen Männer
nicht mehr zu Idealen machen! Sollen sie sie doch nicht auf Altäre
stellen und sich vor ihnen verneigen, sonst vernichten sie womöglich
anderer Leben so vollständig, wie du - du, die ich so glühend liebte -
das meine vernichtet hast!
Er geht aus dem Zimmer. Lady Chiltern eilt zu
ihm, aber als sie die Tür erreicht, hat
sich diese bereits geschlossen. Bleich vor Angst, verwirrt, hilflos,
schwankt sie wie eine Pflanze im Wasser. Ihre ausgestreckten Hände
scheinen in der Luft zu zittern wie Blumen im Wind.
Dann wirft sie sich neben einem Sofa zu Boden und vergräbt ihr Gesicht. Ihr Schluchzen ist wie das Schluchzen eines Kindes.
DRITTER AKT
Bibliothek
in Lord Gorings Haus in Curzon Street. Ein adamkeuscher Junggesellenraum.
Rechts führt eine Tür zur Diele, links die
Tür zum
Rauchzimmer. Eine Flügeltür im Hintergrund öffnet sich zum Salon. Das Feuer ist angezündet. Phipps, der Butler, ordnet
Zeitungen auf dem Schreibtisch. Phipps zeichnet sich durch seine
Ungerührtheit aus. Enthusiasten haben ihn den idealen Butler genannt.
Die Sphinx ist nicht so wenig
mitteilsam. Er ist eine Maske mit Manieren. Von seinem geistigen Wesen oder seinem Gefühlsleben
ist der Geschichte nichts bekannt. Er repräsentiert die Macht
der Form. Lord Goring tritt auf, im Abendanzug, mit Blume
im Knopfloch. Er trägt Zylinder und Inverness-Cape, weiße
Handschuhe und einen Louis-Seize-Stock. Die ganzen köstlichen
Modetorheiten sind ihm geläufig. Man merkt, dass er in unmittelbarer
Beziehung zur modernen Lebensart steht, sie in der Tat bewirkt
und daher beherrscht. Er ist der erste gutegekleidete Philosoph in der
Geschichte des Denkvermögens.
LORD GORING: Haben Sie mir die zweite Blume fürs Knopfloch
beschafft, Phipps?
PHIPPS: Ja, Mylord. Nimmt ihm Hut,
Stock und Cape ab und reicht ihm
auf einem Präsentierteller die neue Knopflochblume.
LORD GORING: Eine ziemlich ausgefallene Sache, Phipps. Ich bin zur
Zeit in London der einzige Mann von zumindest einiger Bedeutung, der eine
Knopflochblume trägt.
PHIPPS: Ja, Mylord. Ich habe es bemerkt.
LORD GORING entfernt die alte
Knopflochblume: Verstehen Sie, Phipps, Mode ist, was man selbst trägt.
Unmodern ist das, was die anderen Leute tragen.
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING: Genauso wie Pöbelhaftigkeit einfach das Benehmen anderer
Leute ist.
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING steckt die neue Blume
ins Knopfloch: Und Falschheit die Treue anderer Leute.
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING: Andere Leute sind einfach schrecklich. Die einzig mögliche
Gesellschaft hat man an sich selbst.
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING: Sich selbst zu lieben ist der Beginn eines lebenslänglichen
Romans, Phipps.
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING betrachtet sich im
Spiegel: Ich glaube nicht, dass mir diese Knopflochblume so recht gefällt,
Phipps. Macht mich etwas zu alt. Sehe damit fast aus wie in der Blüte
meiner Jahre, wie, Phipps?
PHIPPS: Ich bemerke an Euer Lordschaft Äußerem keine Veränderung.
LORD GORING: Wirklich nicht, Phipps?
PHIPPS: Nein, Mylord.
LORD GORING: Ich bin da nicht ganz sicher. Für die Zukunft an
Donnerstagabenden eine etwas trivialere Blume fürs Knopfloch, Phipps.
PHIPPS: Ich werde mit der Blumenhändlerin sprechen, Mylord. Sie hat kürzlich
einen Verlust in der Familie gehabt, was möglicherweise den Mangel an
Trivialität erklärt, über die Euer Lordschaft sich bei der
Knopflochblume beklagen.
LORD GORING: Merkwürdige Sache bei den niederen Schichten in England - ständig
verlieren sie ihre Verwandten.
PHIPPS: Ja, Mylord! In der Hinsicht haben sie sehr großes Glück.
LORD GORING dreht sich um und sieht
ihn an, Phipps bleibt ungerührt: Hm. Briefe, Phipps?
PHIPPS: Drei, Mylord. Reicht ihm die
Briefe auf dem Präsentierteller.
LORD GORING nimmt die Briefe: Meinen
Wagen in zwanzig Minuten.
PHIPPS: Ja, Mylord. Geht zur Tür.
LORD GORING hält einen Brief in
rosa Umschlag hoch: Hm, Phipps, wann kam dieser Brief?
PHIPPS: Er wurde durch Boten abgegeben, als Euer Lordschaft just auf dem
Weg zum Klub waren.
LORD GORING: Das genügt. Phipps ab.
Lady Chilterns Handschrift auf Lady Chilterns rosa Briefpapier. Das
ist doch merkwürdig. Meiner Ansicht nach müsste Robert schreiben. Möchte
wissen, was mir Lady Chiltern zu sagen hat? Setzt
sich an seinen Schreibtisch, öffnet
den Brief und liest ihn. >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich
komme zu Dir. Gertrude.< Legt den
Brief mit verwirrtem Ausdruck
auf den Tisch. Dann nimmt er ihn wieder auf
und liest ihn langsam noch einmal. >Ich brauche Dich. Ich vertraue
Dir. Ich komme zu Dir.< Also hat sie alles entdeckt. Die arme Frau! Die
arme Frau! Zieht seine Uhr und
blickt darauf. Aber welche Zeit für einen Besuch! Zehn Uhr! Ich werde
darauf verzichten müssen, zu den Berkshires zu gehen. Allerdings, es ist
immer angenehm, erwartet zu werden und nicht zu kommen. Im Bachelor-Klub
erwarten sie mich nicht, deshalb werde ich sicherlich dorthin gehen. Nun
ja, ich werde sie dazu bringen, dass sie ihrem Mann beisteht. Das ist das
einzige, was eine Frau zu tun hat. Das wachsende Gefühl für Moral bei
Frauen macht Ehen zu einer so hoffnungslosen, einseitigen Einrichtung.
Zehn Uhr! Sie sollte bald hier sein. Ich muss Phipps sagen, dass ich für
niemand anders zu Hause bin. Geht zur Klingel Phipps tritt
ein.
PHIPPS: Lord Caversham.
LORD GORING: Oh, warum tauchen nur Väter immer zur unrechten Zeit auf.
Vermutlich ein merkwürdiges Versehen der Natur. Lord Caversham tritt ein. Entzückt, dich zu sehen, mein lieber
Vater. Geht ihm entgegen.
LORD CAVFRSHAM: Nimm mir den Mantel ab.
LORD GORING: Lohnt das, Vater?
LORD CAVERSHAM: Natürlich lohnt es. Welches ist der bequemste Sessel?
LORD GORING: Dieser, Vater. Es ist der Sessel, den ich selbst benutze,
wenn ich Besuch habe.
LORD CAVERSHAM:
Danke. Hoffentlich zieht es hier nicht?
LORD GORING: Nein, Vater.
LORD CAVERSHAM setzt sich: Freut
mich zu hören. Kann Zugluft nicht vertragen. Habe zu Hause keine Zugluft.
LORD GORING: Nur ziemlich viel Wind, Vater.
LORD CAVERSHAM: Wie? Wie? Verstehe nicht, was du meinst. Möchte ein
ernsthaftes Gespräch mit dir führen.
LORD GORING: Mein lieber Vater! Zu dieser Stunde?
LORD CAVERSHAM: Es ist erst zehn Uhr. Was hast du gegen die Stunde
einzuwenden? Ich halte die Stunde für vortrefflich.
LORD GORING: Nun, Vater, die Wahrheit ist, heute ist nicht mein Tag für
ernsthafte Gespräche. Es tut mir sehr leid, aber es ist nicht mein Tag.
LORD CAVERSHAM: Was soll das heißen?
LORD GORING: In der Saison, Vater, führe ich ernsthafte Gespräche nur am
ersten Dienstag jeden Monats, von vier bis sieben.
LORD CAVERSHAM: Dann lass es also Dienstag sein, lass es Dienstag sein.
LORD GORING: Aber es ist nach sieben, Vater, und mein Arzt sagt, nach
sieben darf ich keinerlei ernsthaftes Gespräch führen. Ich rede sonst im
Schlaf.
LORD CAVERSHAM: Im Schlaf reden? Was macht das schon aus? Du bist nicht
verheiratet.
LORD GORING: Nein, Vater, ich bin nicht verheiratet.
LORD CAVERSHAM:
Hm! Deswegen bin ich gerade gekommen, um mit dir darüber zu sprechen.
Du musst heiraten, und zwar sofort. Als ich so alt war wie du, mein Sohn,
war ich seit drei Monaten ein untröstlicher Witwer und bewarb mich
bereits um deine bewundernswerte Mutter. Verdammt noch mal, es ist deine
Pflicht zu heiraten. Du kannst nicht immer nur zum Vergnügen leben. Jeder
Mann von Stand ist heutzutage verheiratet. Junggesellen sind nicht mehr
modern. Sie sind ein verfallenes Lotterielos. Zuviel ist über sie
bekannt. Du musst eine Frau haben, mein Herr Sohn. Sieh dir an, wozu es
dein Freund Robert Chiltern durch Rechtschaffenheit, angestrengte Arbeit
und eine vernünftige Ehe mit einer tüchtigen Frau gebracht hat. Warum
machst du's ihm nicht nach? Warum nimmst du ihn dir nicht zum Vorbild?
LORD GORING: Ich glaube, ich werde es tun, Vater.
LORD CAVERSHAM: Ich wünschte, du tätest es. Dann wäre ich glücklich.
jetzt mache ich deinetwegen deiner Mutter das Leben schwer. Du bist
herzlos, einfach herzlos.
LORD GORING: Das will ich nicht hoffen, Vater.
LORD CAVERSHAM: Und es ist hohe Zeit, dass du heiratest. Du bist
vierunddreißig Jahre alt, mein Herr Sohn.
LORD GORING: Ja, Vater, aber ich gebe nur zweiunddreißig zu - einunddreißigeinhalb,
wenn ich eine wirklich passende Blume in Knopfloch habe. Diese hier ist
nicht ... trivial genug.
LORD GAVERSHAM: Ich sage dir, du bist vierunddreißig. Und außerdem zieht
es in deinem Zimmer, was dein Verhalten noch ärger macht. Warum hast du
mir erzählt, hier sei keine Zugluft, ich spüre Zugluft, ich spüre sie
deutlich.
LORD GORING: Ich auch, Vater. Es zieht fürchterlich. Ich werde dich
morgen besuchen, Vater. Dann können wir alles bereden, was du willst. Du
erlaubst, dass ich dir in deinen Mantel helfe, Vater.
LORD CAVERSHAM: Nein, ich bin heute Abend in einer ganz bestimmten Absicht
hergekommen, und die werde ich ausführen, wie sehr es auch meiner
Gesundheit oder deiner schaden mag. Leg meinen Mantel hin.
LORD GORING: Gewiss, Vater. Aber lass uns in ein anderes Zimmer gehn. Läutet.
Hier zieht es fürchterlich. Phipps
tritt ein. Phipps, brennt im Rauchzimmer ein tüchtiges Feuer?
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING: Komm dorthin, Vater. Dein Niesen ist ja herzzerreißend.
LORD CAVERSHAM: Ich nehme an, ich habe ein Recht, zu niesen, wenn mir
danach ist?
LORD GORING entschuldigend: Durchaus,
Vater. Ich habe nur Mitgefühl zum Ausdruck gebracht.
LORD CAVERSHAM: Oh, das verdammte Mitgefühl. Von der Sache gibt es
heutzutage viel zuviel.
LORD GORING: Ich bin völlig deiner Ansicht, Vater. Gäbe es weniger
Mitgefühl auf der Welt, dann gäbe es auch weniger Kummer auf der Welt.
LORD CAVERSHAM geht zum Rauchzimmer:
Das ist ein Paradoxon, Herr, ich hasse Paradoxa.
LORD GORINC: Ich auch, Vater. Jeder, den man heutzutage trifft, ist ein
Paradoxon. Das ist sehr verdrießlich. Es macht die Gesellschaft so
durchsichtig.
LORD CAVERSHAM dreht sich um und
blickt unter seinen buschigen Brauen hervor seinen Sohn an: Verstehst
du eigentlich immer was du sagst?
LORD GORING nach kurzem Zögern: Ja, Vater,
wenn ich aufmerksam zuhöre.
LORD CAVERSHAM entrüstet: Wenn
du aufmerksam zuhörst! ... Eingebildeter junger Laffe!
Geht brummelnd in das Rauchzimmer.
Phipps tritt ein.
LORD GORING: Phipps, eine Dame wird mich heute Abend in einer
besonderen Angelegenheit aufsuchen. Führen Sie sie in den Salon, wenn sie
kommt. Sie verstehen?
PHIPPS: Ja, Mylord.
LORD GORING: Es ist eine Sache von schwerwiegender Bedeutung, Phipps.
PHIPPS: Ich verstehe, Mylord.
LORD GORING: Niemand anders darf eingelassen werden, unter keinen Umständen.
PHIPPS: Ich verstehe, Mylord.
Es läutet.
LORD GORING: Ah! Das ist wahrscheinlich die Dame. Ich werde sie
selbst empfangen.
Gerade als
er zur Tür geht, kommt Lord Caversham aus dem
Rauchzimmer.
LORD CAVERSHAM: Nun? Muss ich dir erst wieder meine Aufwartung
machen?
LORD GORING erheblich verwirrt: Nur
einen Augenblick, Vater. Entschuldige bitte. Lord Caversham geht zurück. Denken Sie an meine Anweisungen, Phipps
- in jenes Zimmer.
PHIPPS: Ja, Mylord.
Lord Goring
geht in das Rauchzimmer. Der Diener Harold
führt Mis. Cheveley herein. Wie
eine Lamie ist sie in Grün und Silber.
Sie trägt einen Mantel aus schwarzem Atlas, der mit stumpfer
Rosenblatt-Seide gefüttert ist.
HAROLD: Ihren Namen, Madam?
MRS. CHEVELEY zu Phipps, der auf sie zukommt: Ist Lord Goring nicht da? Mir wurde
gesagt, er sei zu Hause.
PHIPPS: Seine Lordschaft ist augenblicklich mit Lord Caversham beschäftigt,
Madam.
Wirft einen
kalten, starren Blick auf Harold, der sich sofort zurückzieht.
MRS. CHEVELEY bei sich: Welche
Sohnesliebe!
PHIPPS: Seine Lordschaft trug mir auf, Sie zu bitten, Madam, Sie möchten
so freundlich sein und im Salon auf ihn warten.
MRS. CHEVELEY mit einem Ausdruck der
Überraschung: Lord Goring erwartet mich?
PHIPPS: Ja, Madam.
MRS. CHEVELEY: Sind Sie ganz sicher?
PHIPPS: Seine Lordschaft trug mir auf, wenn eine Dame käme, solle ich sie
bitten, im Salon zu warten. Geht zur
Tür des Salons und öffnet sie.
Seiner Lordschaft Befehle über den Gegenstand waren sehr präzis.
MRS. CHEVELEY bei sich: Wie
aufmerksam von ihm! Das Unerwartete zu erwarten beweist einen durchaus
modernen Intellekt. Geht zu dem Salon und blickt
hinein. Puh! Wie düster der Salon eines Junggesellen stets aussieht!
Ich werde all das ändern müssen. Phipps
bringt die Lampe vom Schreibtisch. Nein,
die Lampe mag ich nicht. Sie ist viel zu hell. Zünden Sie ein paar Kerzen
an.
PHIPPS stellt die Lampe zurück: Gewiss,
Madam.
MRS. CHEVELEY: Ich hoffe, die Kerzen haben recht kleidsame Schirme.
PHIPPS: Wir hörten bis jetzt noch keine Klagen darüber, Madam. Geht
in den Salon und beginnt die Kerzen anzuzünden.
MRS. CHEVELEY bei sich: Ich
möchte wissen, welche Frau er für heute nacht erwartet. Es wird köstlich
sein, ihn zu ertappen. Männer machen immer ein so dummes Gesicht, wenn
sie ertappt werden. Und sie werden stets ertappt. Sieht
sich im Zimmer um und nähert sich dem Schreibtisch. Welch
hochinteressantes Zimmer! Welch hochinteressantes Gemälde! Möchte
wissen, wie seine Korrespondenz beschaffen ist. Nimmt
Briefe auf. Oh, was für eine uninteressante Korrespondenz! Rechnungen
und Einladungskarten, Schulden und Witwen! Wer in aller Welt schreibt ihm
auf rosa Papier? Wie albern, auf rosa Papier zu schreiben! Es sieht aus
wie der Anfang eines Romans der Mittelklasse. Ein Roman sollte nie mit Gefühl
beginnen. Er sollte mit Auskundschaften beginnen und mit einer Versorgung
enden. Legt den Brief hin und nimmt ihn dann wieder auf. Diese Handschrift
kenne ich. Es ist Gertrude Chilterns. Ich erinnere mich genau an sie. Die
zehn Gebote in jedem Federstrich und das Sittengesetz über die ganze
Seite. Möchte wissen, worüber ihm Gertrude schreibt? Vermutlich etwas
Abscheuliches über mich. Wie ich diese Frau hasse! Liest
den Brief. >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu Dir.
Gertrude.< - >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu
Dir.<
Ein
triumphierender Ausdruck breitet sich über ihr Gesicht. Sie
ist im Begriff, den Brief zu
stehlen, als Phipps erscheint.
PHIPPS: Die Kerzen im Salon sind, wie Sie wünschten, angezündet,
Madam.
MRS. CHEVELEY:
Danke. Steht hastig
auf und schiebt den Brief unter eine große Schreibmappe mit silbernem Deckel, die auf dem Tisch
liegt.
PHIPPS: Ich hoffe zuversichtlich, die Schirme werden nach ihrem
Geschmack sein, Madam. Es sind die kleidsamsten, die wir besitzen. Es sind
die gleichen, wie Seine Lordschaft selbst sie benutzt, wenn er sich zum
Dinner ankleidet.
MRS. CHEVELEY mit einem Lächeln: Dann
bin ich überzeugt, dass sie völlig angemessen sind.
PHIPPS ernst: Danke, Madam.
Mrs.
Cheveley geht in den Salon. Phipps schließt die Tür und
zieht sich zurück. Darauf öffnet
sich langsam die Tür, und Mrs. Cheveley
kommt heraus und schleicht verstohlen zum Schreibtisch. Plötzlich
sind Stimmen aus dem Rauchzimmer zu vernehmen.
Mrs. Cheveley erblasst und bleibt stehen. Die Stimmen werden lauter, sie
beißt sich auf die Lippen und geht zurück in den Salon. Lord
Goring und Lord Caversham treten ein.
LORD GORING macht ihm ernste
Vorstellungen: Mein lieber Vater, wenn ich schon heiraten soll, wirst
du mir doch sicherlich gestatten, Zeit, Ort und Person selbst zu wählen.
Vor allem die Person.
LORD CAVERSHAM eigensinnig: Das
ist eine Angelegenheit für mich. Du würdest wahrscheinlich eine sehr
schlechte Wahl treffen. Ich sollte dabei befragt werden, nicht du. Vermögen
steht auf dem Spiel. Es geht nicht um Liebe. Liebe kommt später im
Eheleben.
LORD GORING: Ja. Im Eheleben kommt die Liebe, wenn die Leute einander gründlich
missfallen, nicht wahr, Vater? Hilft
Lord Caversham in den Mantel.
LORD CAVERSHAM: Gewiss. Ich meine natürlich, gewiss nicht. Du redest
heute Abend sehr albern. Was ich sage, ist, dass die Ehe eine Sache des
gesunden Menschenverstands ist.
LORD GORING: Aber Frauen, die gesunden Menschenverstand besitzen, sind
merkwürdigerweise so hässlich, stimmt's Vater? Natürlich sprechen ich
nur vom Hörensagen.
LORD CAVERSHAM: Keine Frau, ob hässlich oder hübsch, besitzt überhaupt
gesunden Menschenverstand. Gesunder Menschenverstand ist der Vorzug
unseres Geschlechts.
LORD GORING: Ganz recht. Und wir Männer sind so selbstaufopfernd, dass
wir ihn nie gebrauchen, oder, Vater?
LORD GAVERSHAM: Ich gebrauche ihn, mein Herr Sohn. Ich gebrauche nichts
anderes.
LORD GORING: So erzählt mir meine Mutter.
LORD CAVERSHAM: Das ist das Geheimnis ihres Glücks. Du bist sehr herzlos,
sehr herzlos.
LORD GORING: Ich hoffe, nicht, Vater.
Begleitet
ihn hinaus. Kehrt einen Augenblick später, ziemlich
fassungslos, mit Sir Robert Chiltern
zurück.
SIR ROBERT CHILTERN: Mein lieber Arthur, welch glücklicher Zufall,
dich an der Haustür zu treffen! Dein Diener hatte mir gerade gesagt, du
seist nicht zu Hause. Wie merkwürdig!
LORD GORING: Tatsache ist, dass ich heute Abend schrecklich beschäftigt
bin, Robert, und Anweisung gab, dass ich für niemand zu Hause sei. Selbst
mein Vater wurde verhältnismäßig kühl empfangen. Er hat sich die ganze
Zeit über Zugluft beklagt.
SIR ROBERT
CHILTERN: Ach! Für mich musst du zu Hause sein,
Arthur. Du bist mein bester Freund. Vielleicht wirst du morgen mein
einziger Freund sein. Meine Frau hat alles entdeckt.
LORD GORING:
Ah! Das habe ich geahnt!
SIR ROBERT CHILTERN sieht ihn an:
Wirklich? Woher?
LORO GORING nach einigem Zögern: Oh,
nur nach irgend etwas im Ausdruck deines Gesichts, als du hereinkamst. Wer
hat es ihr erzählt?
SIR ROBERT
CHILTERN: Mrs. Cheveley selbst. Und die Frau, die
ich liebe, weiß nun, dass ich meine Karriere mit einer Handlung erbärmlichen
Betrugs begann, dass ich mein Leben auf Augenblicke der Schande gründete
- dass ich wie ein gemeiner Höker das Geheimnis verkaufte, das mir als
einem Mann von Ehre anvertraut war. Ich danke dem Himmel, dass der arme
Lord Radley starb, ohne zu erfahren, dass ich ihn hinterging. Ich wünschte
zu Gott, ich wäre gestorben, ehe ich so grauenhaft versucht wurde oder so
tief sank. Vergräbt das Gesicht in den
Händen.
LORD GORING nach einer Pause: Du
hast als Antwort auf dein Telegramm noch nichts aus Wien gehört?
SIR ROBERT CHILTERN blickt hoch: Doch,
heute Abend um acht erhielt ich ein Telegramm von dem Ersten Sekretär.
LORD GORING: Und?
SIR ROBERT CHILTERN: Nichts ist mit Sicherheit gegen sie bekannt. Im
Gegenteil, sie nimmt eine ziemlich hohe Stellung in der Gesellschaft ein.
Es ist so etwas wie ein offenes Geheimnis, dass Baron Arnheim ihr den größeren
Teil seines ungeheuren Vermögens hinterlassen hat. Darüber hinaus kann
ich nichts erfahren.
LORD GORING: Dann entpuppt sie sich also nicht als eine Spionin?
SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Spione sind heutzutage von keinem Nutzen. Mit dem
Beruf ist es vorbei. Ihre Arbeit tun statt dessen die Zeitungen.
LORD GORING: Und verteufelt gut tun sie sie.
SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, ich bin ausgedörrt vor Durst. Darf ich nach
etwas läuten? Ein wenig Hochheimer und Selters?
LORD GORING: Natürlich. Lass mich. Läutet.
SIR ROBERT CHILTERN: Danke! Ich weiß nicht, was ich tun soll, Arthur,
ich weiß nicht, was ich tun soll, und du bist mein einziger Freund. Und
was für ein Freund du bist - der eine Freund, dem ich vertrauen kann. Ich
kann dir doch völlig vertrauen, nicht wahr?
Phipps tritt
ein.
LORD GORING: Natürlich, mein lieber Robert. Zu Phipps. Bringen Sie Hochheimer und Selters.
PHIPPS: Sehr wohl, Mylord.
LORD GORING: Und, Phipps!
PHIPPS: Ja, Mylord?
LORD GORING: Willst du mich einen Augenblick entschuldigen, Robert? Ich möchte
meinem Diener ein paar Anweisungen geben.
SIR ROBERT CHILTERN: Gewiss.
LORD GORING: Wenn die Dame kommt, sagen Sie ihr, dass ich heute Abend
nicht zu Hause erwartet werde. Sagen Sie ihr, ich sei plötzlich aus der
Stadt abberufen worden. Sie verstehen?
PHIPPS: Die Dame befindet sich in jenem Raum, Mylord. Sie sagten mir, ich
solle sie in den Salon führen, Mylord.
LORD GORING: Daran haben Sie völlig recht getan. Phipps geht ab. Jetzt
sitze ich in der Patsche. Nein, ich glaube, ich werde durchkommen. Ich
werde ihr durch die Tür eine Lektion erteilen. Trotzdem ein missliches
Unternehmen.
SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, sag mir, was ich tun soll. Es kommt mir vor,
als sei mein Leben um mich zerfallen. Ich bin ein Schiff ohne Ruder in
einer Nacht ohne Sterne.
LORD GORING: Robert, du liebst deine Frau, nicht wahr?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich liebe sie mehr als irgend etwas auf der Welt. Ich
pflegte Ehrgeiz für das Größte zu halten. Das stimmt nicht. Liebe ist
das Größte auf der Welt. Es gibt nichts als Liebe, und ich liebe sie.
Aber ich bin in ihren Augen entwürdigt. Wertlos bin ich in ihren Augen.
Ein weiter Abgrund klafft jetzt zwischen uns. Sie ist mir auf die Spur
gekommen, Arthur, sie ist mir auf die Spur gekommen.
LORD GORING: Hat sie nie in ihrem Leben etwas Törichtes etwas
Unbesonnenes - getan, dass sie dein Vergehen nicht verzeihen sollte?
SIR ROBERT CHILTERN: Meine Frau? Niemals! Sie kennt weder Schwäche noch
Versuchung. Ich bin aus Ton wie andere Menschen. Sie steht für sich wie
alle tugendhaften Frauen - mitleidslos in ihrer Vollkommenheit - kalt und
streng und ohne Erbarmen. Aber ich liebe sie, Arthur. Wir sind kinderlos,
und ich habe sonst niemanden, den ich lieben kann, niemanden, der mich
liebte. Hätte uns Gott Kinder geschenkt, wäre sie vielleicht gütiger
gegen mich gewesen. Aber Gott hat unser Haus einsam bleiben lassen. Und
sie hat mir das Herz zerschnitten. Reden wir nicht davon. Ich war heute
Abend roh gegen sie. Aber ich nehme an, wenn Sünder zu Heiligen sprechen,
sind sie immer roh. Ich habe ihr Dinge gesagt, die von meiner Seite, von
meinem Standpunkt, vom Standpunkt der Männer aus fürchterlich richtig
waren. Aber reden wir nicht davon.
LORD GORING: Deine Frau wird dir verzeihen. Vielleicht verzeiht sie dir
schon in diesem Augenblick. Sie liebt dich, Robert. Warum sollte sie dir
nicht verzeihen?
SIR ROBERT CHILTERN: Gott gebe es! Gott gebe es! Vergräbt das Gesicht in den Händen.
Aber da ist noch etwas, was ich dir sagen muss, Arthur.
Phipps kommt
mit Getränken.
PHIPPS bedient Sir Robert
Chiltern mit Rheinwein und Selters: Hochheimer und Selters, Sir.
SIR ROBERT CHILTERN: Danke.
LORD GORING: Hast du deinen Wagen unten, Robert?
SIR ROBERT CHILTERN: Nein, ich bin vom Klub zu Fuß gekommen.
LORD GORING: Sir Robert wird meinen Wagen nehmen, Phipps.
PHIPPS: Sehr wohl, Mylord. Geht ab.
LORD GORING: Robert, hast du etwas dagegen, wenn ich dich fortschicke?
SIR ROBERT CHILTERN: Du musst mich noch fünf Minuten bleiben lassen,
Arthur. Ich habe einen Entschluss gefasst, was ich heute nacht im
Parlament tun werde. Die Debatte über den argentinischen Kanal soll um
elf beginnen. Im Salon
fällt ein Stuhl um. Was ist
das?
LORD GORING: Nichts.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe im Nebenzimmer einen Stuhl fallen hören.
jemand hat gelauscht.
LORD GORING: Nein, nein, da ist niemand.
SIR ROBERT CHILTERN: Doch, da ist jemand. Es brennt Licht in dem Zimmer,
und die Tür ist nur angelehnt. jemand hat jedes Geheimnis meines Lebens
belauscht. Arthur, was bedeutet das?
LORD GORING: Du bist erregt, Robert, entnervt. Ich sage dir, es ist
niemand in dem Zimmer. Setz dich, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN: Gibst du mir dein Wort, dass dort niemand ist?
LORD GORING: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Dein Ehrenwort? Setzt
sich.
LORD GORING: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Arthur,
lass mich selbst nachsehen.
LORD GORING: Nein, nein.
SIR ROBERT CHILTERN: Wenn dort niemand ist, warum sollte ich dann nicht in
das Zimmer hineinschauen? Arthur, du musst mich in das Zimmer gehen
lassen, damit ich mich selbst überzeuge. Lass mich untersuchen, ob kein
Horcher meines Lebens Geheimnis vernommen hat. Arthur, du kannst dir nicht
vorstellen, was ich durchmache.
LORD GORING: Robert, das muss aufhören. Ich habe dir gesagt, dass niemand
in dem Zimmer ist - das genügt.
SIR ROBERT CHILTERN stürzt zur
Salontür: Es genügt nicht. Ich bestehe darauf, in dieses Zimmer zu
gehen. Du hast mir gesagt, da sei niemand, welchen Grund kannst du also
haben, es mir zu verweigern?
LORD GORING: Um Gottes willen tu's nicht! Es ist jemand drin, den du nicht
sehen darfst.
SIR ROBERT
CHILTERN: Ah! Dacht ich's doch!
LORD GORING: Ich verbiete dir, das Zimmer zu betreten.
SIR ROBERT CHILTERN: Zurück. Mein Leben steht auf dem Spiel. Und es ist
mir einerlei, wer da ist. Ich will wissen, wem ich mein Geheimnis und
meine Schande erzählt habe. Tritt
in den Salon.
LORD GORING: Du lieber Himmel! Seine eigene Frau!
Sir Robert
Chiltern kommt mit einem Ausdruck der Verachtung
und Wut im Gesicht zurück.
SIR ROBERT CHILTERN: Welche Erklärung hast du mir für die
Anwesenheit dieser Frau hier zu geben?
LORD GORING: Robert, ich schwöre dir bei meiner Ehre, dass die Dame
makellos ist und sich keines Verstoßes gegen dich schuldig gemacht hat.
SIR ROBERT CHILTERN: Sie ist ein gemeines, infames Geschöpf!
LORD GORING: Das darfst du nicht sagen, Robert. Um deinetwillen kam sie
her. Dich zu retten, kam sie her. Sie liebt dich, und sonst niemand.
SIR ROBERT CHILTERN: Du bist wahnsinnig. Was habe ich mit euerm
Liebeshandel zu schaffen? Lass sie deine Geliebte bleiben! Ihr passt gut
zusammen. Sie, verderbt und schändlich und du, falsch als Freund und
sogar hinterlistig als Feind.
LORD GORING: Das ist nicht wahr, Robert. Beim Himmel, das ist nicht wahr.
In ihrer und deiner Gegenwart werde ich alles erklären.
SIR ROBERT CHILTERN: Lassen Sie mich vorbei, Sir. Sie haben genug bei
Ihrem Ehrenwort gelogen.
Sir Robert
Chiltern geht hinaus. Lord Goring eilt zu der Salontür, als Mrs. Cheveley,
strahlend und höchst belustigt, herauskommt.
MRS. CHEVELEY mit spöttischer
Verneigung: Guten Abend, Lord Goring!
LORD GORING:
Mrs. Cheveley! Du lieber Himmel! ... Darf ich fragen,
was Sie in meinem Salon getan haben?
MRS. CHEVELEY: Nur gelauscht. Ich habe eine ausgemachte Leidenschaft,
durch Schlüssellöcher zu lauschen. Man hört dabei stets so erstaunliche
Dinge.
LORD GORING: Heißt das nicht fast, die Vorsehung versuchen?
MRS. CHEVELEY:
Oh! Gewiss kann die Vorsehung jetzt der Versuchung widerstehen. Bedeutet
ihm, ihr den Mantel abzunehmen, was
er tut.
LORD GORING: Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich werde Ihnen
einen guten Rat geben.
MRS. CHEVELEY:
O bitte nicht! Man sollte einer Frau nie etwas geben,
was sie am Abend nicht tragen kann.
LORD GORING: Wie ich sehe, sind Sie noch genauso eigensinnig wie früher.
MRS. CHEVELEY:
Weit mehr! Ich habe mich sehr verbessert. Ich habe
mehr Erfahrungen gemacht.
LORD GORING: Zuviel Erfahrung ist etwas Gefährliches. Bitte nehmen Sie
eine Zigarette. Die Hälfte aller hübschen Frauen in London raucht
Zigaretten. Ich persönlich ziehe die andere Hälfte vor.
MRS. CHEVELEY:
Danke. Ich rauche nie. Meinem Schneider würde es nicht gefallen, und die
erste Pflicht im Leben einer Frau ist die gegen ihren Schneider. Welches
die zweite Pflicht ist, hat bisher noch niemand entdeckt.
LORD GORING: Sie sind hergekommen, um mir Robert Chilterns Brief zu
verkaufen, nicht wahr?
MRS. CHEVELEY: Ihnen den Brief zu gewissen Bedingungen anzubieten! Wie
haben Sie das erraten?
LORD GORING: Weil Sie die Sache nicht erwähnten. Haben Sie ihn
mitgebracht?
MRS. CHEVELEY setzt sich: O
nein! Ein gutgeschneidertes Kleid hat keine Taschen.
LORD GORING: Welchen Preis verlangen Sie dafür?
MPS. CHEVELEY: Wie abgeschmackt ihr Engländer seid! Die Engländer
glauben, ein Scheckbuch könne jedes Problem im Leben lösen. Nun, mein
lieber Arthur, ich besitze sehr viel mehr Geld als Sie und durchaus
soviel, wie Robert Chiltern in die Hände bekommen hat. Nicht Geld ist es,
was ich wünsche.
LORD GORING: Was wünschen Sie dann, Mrs. Cheveley?
MRS. CHEVELEY: Warum nennen Sie mich nicht Laura?
LORD GORING: Ich mag den Namen nicht.
MRS CHEVELEY: Einst vergötterten Sie ihn.
LORD GORING: Ja, eben darum.
Mrs.
Cheveley winkt ihm, sich neben sie zu setzen. Er lächelt
und tut es.
MRS. CHEVELEY: Arthur, Sie haben mich einst geliebt.
LORD GORING:
Ja.
MRS. CHEVELEY: Und Sie baten mich, Ihre Frau
zu werden.
LORD GORING: Das war die natürliche Folge meiner Liebe zu Ihnen.
MRS. CHEVELEY: Und Sie gaben mir den Abschied, weil Sie sahen, oder es
zumindest behaupteten, wie der arme alte Lord Mortlake im Wintergarten von
Tenby einen heftigen Flirt mit mir versuchte.
LORD GORING: Ich habe den Eindruck, mein Anwalt ordnete die Sache mit
Ihnen zu gewissen Bedingungen..., von Ihnen selbst diktierten.
MRS. CHEVELEY: Zu der Zeit war ich arm. Sie waren reich.
LORD GORING: Ganz recht. Deshalb gaben Sie vor, mich zu lieben.
MRS. CHEVELEY zuckt die Achseln: Der
arme alte Lord Mortlake, der nur zwei Gesprächsthemen hatte, seine Gicht
und seine Frau! Niemals konnte ich so recht herausbekommen, über welches
von beiden er sprach. Er führte über beide eine ganz abscheuliche
Sprache. Sie waren albern, Arthur. Lord Mortlake war mir nie mehr als ein
Zeitvertreib. Einer von diesen im höchsten Grade langweiligen
Zeitvertreiben, wie man sie nur in einem englischen Landhaus an einem
englischen Sonntag auf dem Lande findet. Meiner Ansicht nach kann überhaupt
niemand moralisch verantwortlich gemacht werden für das, was er oder sie
in einem englischen Landhaus tut.
LORD GORING: Ja. Ich kenne eine Menge Leute, die so denken.
MRS. CHEVELEY: Ich liebte Sie, Arthur.
LORD GORING: Meine liebe Mrs. Cheveley, Sie sind stets viel zu gescheit
gewesen, um etwas von Liebe zu verstehen.
MRS. CHEVELEY: Ich habe Sie wirklich geliebt. Und Sie liebten mich. Sie
wissen, dass Sie mich liebten, und Liebe ist etwas ganz Wunderbares. Ich
nehme an, wenn ein Mann einmal eine Frau geliebt hat, wird er alles für
sie tun, ausgenommen sie weiterzulieben? Legt
ihre Hand auf die seine.
LORD GORING zieht seine Hand
gelassen fort: Ja, das
ausgenommen.
MRS. CHEVELEY nach einer Pause: Ich
bin es überdrüssig, im Ausland zu leben. Ich möchte nach London zurückkehren.
Ich möchte hier ein bezauberndes Haus haben. Ich möchte einen Salon führen.
Wenn man nur den Engländern das Reden und den Iren das Zuhören
beibringen könnte, wäre die Gesellschaft hier recht zivilisiert. Außerdem
habe ich das romantische Stadium erreicht. Als ich Sie gestern Abend bei
den Chilterns sah, wusste ich, dass Sie der einzige Mensch sind, aus dem
ich mir je etwas gemacht habe, wenn mir überhaupt je etwas an einem
Menschen gelegen war, Arthur. Und deshalb werde ich Ihnen am Morgen des
Tages, an dem Sie mich heiraten, Robert Chilterns Brief geben. Das ist
mein Angebot. Ich werde Ihnen den Brief jetzt geben, wenn Sie versprechen,
mich zu heiraten.
LORD GORING: Jetzt?
MRS. CHEVELEY lächelnd: Morgen.
LORD GORING: Ist das wirklich Ihr Ernst?
MRS. CHEVELEY: Ja, mein völliger Ernst.
LORD GORING: Ich würde Ihnen einen sehr schlechten Ehemann abgeben.
MRS. CHEVELEY: Ich habe nichts gegen schlechte Ehemänner einzuwenden. Ich
habe zwei gehabt. Sie amüsierten mich ungeheuer.
LORD GORING: Sie meinen, dass Sie selbst sich ungeheuer amüsiert haben,
nicht wahr?
MRS. CHEVELEY: Was wissen Sie von meinem Eheleben?
LORD GORING: Nichts, aber ich kann es lesen wie ein Buch.
MRS. CHEVELEY: Was für ein Buch?
LORD GORING: Das vierte Buch Mosis.
MRS. CHEVELEY: Halten Sie es für sehr charmant, in Ihrem eigenen Hause so
ungezogen gegen eine Frau zu sein?
LORD GORING: Bei sehr bestrickenden Frauen ist das Geschlecht eine
Herausforderung, kein Schutz.
MRS. CHEVELEY: Das soll vermutlich ein Kompliment sein. Mein lieber
Arthur, Frauen werden nie durch Komplimente entwaffnet. Männer stets. Das
ist der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern.
LORD GORING: Frauen werden, soweit ich sie kenne, nie durch etwas
entwaffnet.
MRS. CHEVELEY nach einer Pause: Dann
wollen Sie also lieber zulassen, dass Ihr bester Freund, Robert Chiltern,
zugrunde gerichtet wird, als jemanden zu heiraten, der wirklich noch
erhebliche Reize übrigbehalten hat. Ich dachte, Sie würden sich zu einem
hohen Gipfel der Selbstaufopferung aufschwingen, Arthur. Ich meine, Sie
sollten es. Und den Rest Ihres Lebens könnten Sie verbringen,
Betrachtungen über Ihre Vollkommenheiten anzustellen.
LORD GORING:
Oh! Das tu ich jetzt schon. Und Selbstaufopferung ist etwas, das durch
ein Gesetz abgeschafft werden sollte. Sie ist so demoralisierend für die
Leute, für die man sich aufopfert. Sie geraten immer auf einen schlechten
Weg.
MRS. CHEVELEY: Als ob irgend etwas Robert Chiltern demoralisieren könnte!
Sie scheinen zu vergessen, dass ich seinen wahren Charakter kenne.
LORD GORING: Was Sie von ihm kennen, ist nicht sein wahrer Charakter. Es
war eine in seiner Jugend begangene unsinnige Tat, schimpflich zugegeben,
schmachvoll, zugegeben, seiner unwürdig, das gebe ich zu, und daher ...
nicht sein wahrer Charakter.
MRS. CHEVELEY: Wie ihr Männer füreinander eintratet!
LORD GORING: Wie ihr Frauen einander bekriegt!
MRS. CHEVELEY bitter: Ich führe
nur Krieg gegen eine Frau, gegen Gertrude Chiltern. Ich hasse sie. Ich
hasse sie jetzt mehr denn je.
LORD GORING: Vermutlich weil Sie eine echte Tragödie in ihr Leben
gebracht haben.
MRS. CHEVELEY mit höhnischem Lächeln:
Oh, es gibt nur eine einzige echte Tragödie im Leben einer Frau. Die
Tatsache, dass ihre Vergangenheit stets ihr Liebhaber und ihre Zukunft
unweigerlich ihr Ehemann ist.
LORD GORING: Lady Chiltern weiß nichts von einem derartigen Leben, auf
das Sie anspielen.
MRS. CHEVELEY: Eine Frau, deren Handschuhgröße siebendreiviertel ist,
weiß nie viel von etwas. Es ist Ihnen doch bekannt, dass Gertrude stets
siebendreiviertel getragen hat? Das ist einer der Gründe, warum nie
irgendeine innere Übereinstimmung zwischen uns bestand ... Nun ja,
Arthur, ich nehme an, dass wir dieses romantische Gespräch als beendet
ansehen können. Sie geben zu, dass es romantisch war, nicht wahr? Für
den Vorzug, Ihre Frau zu werden, war ich bereit, auf einen bedeutenden
Gewinn zu verzichten, den Höhepunkt meiner diplomatischen Karriere. Sie
lehnen ab. Sehr gut. Wenn Sir Robert mein argentinisches Projekt nicht
unterstützt, stelle ich ihn bloß. Voilà
tout.
LORD GORING: Das dürfen Sie nicht. Es wäre niederträchtig,
abscheulich, infam.
MRS. CHEVELEY zuckt die Achseln: Oh!
Nicht so große Worte. Sie besagen so wenig. Es ist eine geschäftliche
Verhandlung. Weiter nichts. Es taugt nicht, Sentimentalität damit zu
verquicken. Ich habe Robert Chiltern etwas Bestimmtes zum Kauf angeboten.
Wenn er meinen Preis nicht zahlen will, wird er der Welt einen höheren
Preis zahlen müssen. Mehr ist darüber nicht zu sagen. Ich muss gehen.
Leben Sie wohl. Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?
LORD GORING: Ihnen? Nein. Ihre Verhandlung mit Robert Chiltern mag als
eine ekelhafte geschäftliche Verhandlung in einem ekelhaften Geschäftszeitalter
hingehen, aber Sie scheinen vergessen zu haben, dass Sie heute Abend
herkamen, um von Liebe zu reden; Sie, deren Lippen das Wort Liebe
entweihten. Sie, der sie ein Buch mit sieben Siegeln ist, sind heute
Nachmittag in das Haus einer der erhabensten und edelsten Frauen gegangen,
um ihren Mann in ihren Augen zu erniedrigen, ihre Liebe zu ihm zu morden,
Gift in ihr Herz zu träufeln und Bitternis in ihr Leben zu bringen, ihr
Idol zu zertrümmern und vielleicht ihre Seele zu zerstören. Das kann ich
Ihnen nicht verzeihen. Das war entsetzlich. Dafür kann es kein Verzeihen
geben.
MRS. CHEVELEY: Sie sind ungerecht gegen mich, Arthur. Glauben Sie mir, Sie
sind sehr ungerecht gegen mich. Ich ging keineswegs hin, um Gertrude zu
verhöhnen. Ich hatte nichts dergleichen im Sinn, als ich eintrat. Ich
sprach nur mit Lady Markby vor, um zu fragen, ob ein Schmuckstück, ein
Kleinod, das ich gestern Abend irgendwo verloren habe, bei den Chilterns
gefunden worden sei. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie Lady Markby
fragen. Sie wird Ihnen sagen, dass es wahr ist. Der Auftritt, zu dem es
dann kam, spielte sich ab, als Lady Markby gegangen war, und wurde mir
wahrhaftig durch Gertrudes Ungezogenheit und durch ihre Sticheleien
aufgezwungen. Ich ging hin, oh! - auch ein wenig aus Bosheit, wenn Sie so
wollen -, aber in Wirklichkeit, um zu fragen, ob man meine Diamantspange
gefunden habe. So ist es überhaupt dazu gekommen.
LORD GORING: Eine diamantene Schlangenspange mit einem Rubin?
MRS. CHEVELEY:
Ja. Woher wissen Sie es?
LORD GORING: Weil sie gefunden wurde. Tatsächlich habe ich selbst sie
gefunden und vergaß dummerweise, dem Butler etwas davon zu sagen, als ich
das Haus verließ. Geht zu dem Schreibtisch
und zieht Schubladen heraus. In diesem Schubfach ist sie nicht. Nein,
hier. Dies ist die Spange, nicht wahr? Hält
sie hoch.
MRS.
CHEVELEY: Ja. Ich freue mich so,
sie wiederzuhaben. Sie war ... ein Geschenk.
LORD GORING: Wollen Sie sie nicht tragen?
MRS. CHEVELEY: Natürlich, wenn Sie sie mir anstecken. Lord Goring schließt sie ihr
unvermutet um den Arm. Warum
legen Sie mir die Spange als Armband um? Ich habe nie gewusst, dass man
sie als Armband tragen könnte.
LORD GORING: Wirklich nicht?
MRS. CHEVELEY streckt ihren schönen
Arm aus: Nein, aber sie sieht als Armband sehr gut an mir aus, nicht
wahr?
LORD GORING: Ja, viel besser als damals, da ich es zuletzt sah.
MRS. CHEVELEY: Wann haben Sie es zuletzt gesehen?
LORD GORING gelassen: Oh, vor
zehn Jahren, an Lady Berkshire, der Sie es gestohlen haben.
MRS. CHEVELEY erschrickt: Was
wollen Sie damit sagen?
LORD GORING: Ich will damit sagen, dass Sie diesen Schmuck meiner Kusine,
Mary Berkshire, stahlen, den ich ihr zur Hochzeit schenkte. Der Verdacht
fiel auf ein unglückliches Dienstmädchen, das in Schande davon gejagt
wurde. Ich erkannte ihn gestern Abend. Ich beschloss, nichts davon zu
sagen, bis ich den Dieb gefunden hätte. Jetzt habe ich die Diebin
gefunden, und ich habe ihr eigenes Geständnis gehört.
MRS. CHEVELEY wirft den Kopf zurück:
Das ist nicht wahr.
LORD GORING: Sie wissen, dass es wahr ist. Diebin steht in diesem
Augenblick auf Ihrem Gesicht geschrieben.
MRS. CHEVELEY: Ich werde die ganze Geschichte von Anfang bis Ende
abstreiten. Ich werde sagen, dass ich dieses abscheuliche Ding nie gesehen
habe, dass es nie in meinem Besitz war.
Mrs.
Cheveley versucht, das Armband zu
entfernen, aber es gelingt ihr
nicht. Lord Goring sieht ihr belustigt zu. Ihre schlanken Finger
zerren vergeblich an dem Schmuck. Ein Fluch entfährt ihr.
LORD GORING: Der Nachteil, wenn man etwas stiehlt, Mrs. Cheveley,
ist, dass man nie weiß, wie wundervoll das Gestohlene ist. Sie können
das Armband nicht ablegen, wenn Sie nicht wissen, wo sich die Feder
befindet. Sie ist ziemlich schwer zu finden.
MRS. CHEVELEY:
Sie Scheusal! Sie Feigling! Sie versucht abermals, das Armband zu öffnen, was ihr nicht glückt.
LORD
GORING: Oh! Nicht so große Worte. Sie besagen so
wenig.
MRS. CHEVELEY zerrt wieder
in einem Wutanfall mit unartikulierten Lauten an dem Armband. Dann hält
sie inne und sieht Lord Goring
an: Was werden Sie tun?
LORD GORING: Ich werde nach meinem Diener läuten. Ein bewundernswerter
Diener. Kommt stets denselben Augenblick, da man nach ihm läutet. Wenn er
kommt, werde ich ihm auftragen, die Polizei zu holen.
MRS. CHEVELEY zitternd: Die
Polizei? Weswegen?
LORD GORING: Morgen werden die Berkshires gegen Sie Klage erheben. Daher
die Polizei.
MRS. CHEVELEY befindet sich nun in
der heftigen Pein physischen Entsetzens.
Ihr Gesicht ist verzerrt. Ihr Mund schief. Eine Maske ist von ihr abgefallen. Sie ist im Augenblick schrecklich anzusehen:
Nein, das nicht! Ich will alles tun, was Sie wollen. Alles auf der Welt,
was Sie wollen.
LORD GORING: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief.
MRS. CHEVELEY:
Halt! Halt! Lassen Sie mir Zeit zum Nachdenken.
LORD GORING: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief.
MRS. CHEVELEY: Ich habe ihn nicht bei mir. Morgen werde ich Ihnen den
Brief geben.
LORD GORING: Sie wissen, dass Sie lügen. Geben Sie mir sofort den Brief. Mrs.
Cheveley holt den Brief hervor und gibt ihn ihm. Sie
ist erschreckend bleich. Das ist er?
MRS. CHEVELY mit heiserer Stimme: Ja.
LORD GORING nimmt den
Brief, prüft ihn, seufzt und verbrennt ihn
über der Lampe: Für eine so gutgekleidete Frau, Mrs. Cheveley, haben
Sie Augenblicke von bewundernswert gesundem Menschenverstand. Ich
gratuliere Ihnen.
MRS. CHEVELEY erblickt Lady
Chilterns Brief, dessen Umschlag unter
der Schreibmappe ein wenig hervorragt: Bitte holen Sie mir ein Glas
Wasser.
LORD GORING: Gewiss.
Geht in die
Zimmerecke und füllt ein Glas mit Wasser. Während er Mrs. Cheveley den Rücken
kehrt, stiehlt sie Lady Chilterns
Brief. Als Lord Goring mit dem Glas
zurückkommt, weist sie es mit
einer Handbewegung von sich.
MRS. CHEVELEY: Danke. Wollen Sie mir in meinen Mantel helfen?
LORD GORING: Mit Vergnügen. Legt
ihr den Mantel um.
MRS.
CHEVELEY: Danke. Ich werde nie
wieder versuchen, Robert Chiltern zu schaden.
LORD GORING: Zum Glück haben Sie nicht die Möglichkeit, Mrs. Cheveley.
MRS. CHEVELEY: Selbst wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich es
nicht tun. Im Gegenteil, ich werde ihm einen großen Dienst erweisen.
LORD GORING: Ich bin entzückt, das zu hören. Es ist ein Zeichen der
Besserung.
MRS. CHEVELEY:
Ja. Ich kann es nicht ertragen, dass ein so rechtschaffener Gentleman,
ein so ehrenwerter englischer Gentleman so schändlich hintergangen wird
und -
LORD GORING: Und?
MRS. CHEVELEY: Ich stelle fest, dass sich Gertrude Chilterns
Schwanengesang und Sterbensbekenntnis irgendwie in meine Tasche verirrt
hat.
LORD GORING: Was soll das heißen?
MRS. CHEVELEY mit einem schneidend
triumphierenden Ton in der Stimme:
Es soll heißen, dass ich Robert Chiltern den Liebesbrief zusenden werde,
den seine Frau Ihnen heute Abend schrieb.
LORD GORING: Liebesbrief?
MRS. CHEVELEY lachend: >Ich
brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu Dir. Gertrude.<
Lord Goring
stürzt zum Schreibtisch, nimmt den Umschlag auf,
findet ihn leer und dreht sich um.
LORD GORING: Sie nichtswürdiges Weib, müssen Sie denn immer stehlen?
Geben Sie mir den Brief zurück. Ich werde Ihnen den Brief mit Gewalt
entreißen. Sie werden mein Zimmer nicht verlassen, ehe ich ihn habe.
Er stürzt
auf sie, aber Mrs. Cheveley legt sofort die Hand auf die elektrische
Klingel, die sich auf dem Tisch befindet. Sie läutet
mit schrillem Widerhall, und Phipps
tritt ein.
MRS. CHEVELEY nach einer
Pause: Lord Gering hat nur geläutet, damit Sie mich hinausgeleiten.
Guten Abend, Lord Goring!
Geht von Phipps gefolgt, hinaus. Ihr Gesicht
erstrahlt in boshaftem Triumph. Entzücken leuchtet aus ihren Augen.
Jugend scheint
wieder über sie zu kommen. Ihr
letzter Blick ist wie ein geschwinder Pfeil. Lord Goring beißt sich auf
die Lippe und zündet eine Zigarette an.
VIERTER
AKT
Schauplatz
wie im zweiten Akt. Lord Goring steht, die Hände in
den Taschen, am Kamin. Er sieht
etwas gelangweilt aus.
LORD GORING zieht seine Uhr,
befragt sie und läutet: Es ist doch zu dumm. Ich finde in diesem Haus
niemand, mit dem ich reden kann. Dabei bin ich voll interessanter
Nachrichten. Ich fühle mich wie die letzte Ausgabe von irgendwas.
Diener tritt
ein.
JAMES: Sir Robert ist noch im Außenministerium, Mylord.
LORD GORING: Lady Chiltern ist noch nicht unten?
JAMES: Ihre Gnaden hat ihr Zimmer noch nicht verlassen. Miss Chiltern ist
soeben vom Reiten zurückgekehrt.
LORD GORING bei sich: Das ist
immerhin etwas.
JAMES: Lord Caversham wartet seit einiger Zeit in der Bibliothek auf Sir
Robert. Ich habe ihm gesagt, Eure Lordschaft seien hier.
LORD GORING: Danke. Würden Sie ihm freundlicherweise sagen, ich sei
gegangen?
JAMES verbeugt sich: Ich werde
es ausrichten, Mylord. Geht ab.
LORD GORING: Ich möchte meinem Vater wahrhaftig nicht drei Tage
hintereinander begegnen. Das ist für jeden Sohn etwas zuviel der
Aufregung. Ich hoffe zu Gott, er kommt nicht herauf. Von Vätern sollte
man weder etwas sehen noch hören. Das ist die einzig angemessene Basis für
ein Familienleben. Mütter sind anders. Mütter sind liebe Geschöpfe. Wirft
sich in einen Sessel, nimmt eine
Zeitung auf und beginnt zu lesen.
Lord
Caversham tritt ein.
LORD CAVERSHAM: Nun, mein Herr Sohn, was machst du hier? Vergeudest
wie üblich deine Zeit, nehme ich an?
LORD GORING wirft die Zeitung hin
und steht auf. Mein lieber Vater, wenn man einen Besuch macht, dann
geschieht das, um andrer Leute Zeit zu vergeuden, nicht die eigene.
LORD CAVERSHAM: Hast du darüber nachgedacht, was ich dir gestern Abend
gesagt habe?
LORD GORING: Ich habe an nichts anderes gedacht.
LORD CAVERSHAM: Schon verlobt?
LORD GORING munter: Noch nicht,
aber ich hoffe es vor dem Lunch zu sein.
LORD CAVERSHAM bissig: Du kannst
dir bis zum Dinner Zeit lassen, wenn es dir angemessener erscheint.
LORD GORING: Tausend Dank, aber ich glaube, ich möchte mich lieber vor
dem Lunch verloben.
LORD CAVERSHAM:
Hm! Weiß nie, wann es dir Ernst ist und wann nicht.
LORD GORING: Geht mir ebenso, Vater.
Pause.
LORD CAVERSHAM: Nehme an, du hast heute morgen die >Times<
gelesen?
LORD GORING leichthin: Die
>Times<? Natürlich nicht. Ich lese nur die >Morning Post<.
Vom heutigen Leben sollte man nur wissen, wo sich die Herzoginnen
befinden, alles andere ist in hohem Grade demoralisierend.
LORD CAVERSHAM: Willst du damit sagen, dass du nicht den Leitartikel über
Robert Chilterns Karriere in der >Times< gelesen hast?
LORD GORING: Gütiger Himmel! Nein. Was steht denn drin?
LORD CAVERSHAM: Was soll schon drinstehen? Natürlich lauter Komplimente.
Chilterns Rede heute nacht über dieses argentinische Kanalprojekt war
eins der vortrefflichsten Beispiele von Rhetorik, die seit Canning je im
Parlament zum besten gegeben wurden.
LORD GORING:
Ach! Nie von Canning gehört. Nie das Bedürfnis gehabt. Und hat ... hat
Chiltern das Projekt unterstützt?
LORD CAVERSHAM: Unterstützt? Wie wenig du ihn kennst! Er hat es nachdrücklich
gebrandmarkt, ebenso wie das ganze System der modernen politischen
Finanzwissenschaft. Diese Rede ist der Wendepunkt in seiner Laufbahn, wie
die >Times< betont. Du solltest diesen Artikel lesen, mein Herr
Sohn. Schlägt die >Times<
auf. >Sir Robert Chiltern ... der Erste unter den aufsteigenden jungen
Staatsmännern ... Glänzender Redner... Makellose Karriere ...
Allbekannte Lauterkeit des Charakters... Repräsentiert das Beste im öffentlichen
Leben Englands ... Herrlicher Gegensatz zu der unter ausländischen
Politikern so verbreiteten laxen Moral.< Von dir werden sie das nie
sagen, mein Herr Sohn.
LORD GORING: Das hoffe ich aufrichtig, Vater. Aber es freut mich, was du
mir über Robert erzählst, freut mich durchaus. Es beweist, dass er Mut
hat.
LORD CAVERSHAM: Er besitzt mehr als Mut, er besitzt Genie.
LORD GORING:
Ach! Ich ziehe Mut vor. Der ist heutzutage nicht so häufig wie Genie.
LORD CAVERSHAM: Ich wünschte, du gingest ins Parlament.
LORD GORING: Mein lieber Vater, nur Leute, die langweilig aussehen,
gelangen jemals ins Unterhaus, und nur Leute, die langweilig sind, haben
dort jemals Erfolg.
LORD CAVERSHAM: Warum versuchst du nicht, etwas Nützliches im Leben zu
tun?
LORD GORING: Ich bin viel zu jung.
LORD CAVERSHAM mürrisch: Ich
hasse dieses Jugendgetue. Es ist heutzutage allzu sehr verbreitet.
LORD GORING: Jugend ist kein Getue. Jugend ist eine Kunst.
LORD CAVERSHAM: Warum hältst du nicht um diese hübsche Miss Chiltern an?
LORD GORING: Ich habe ein sehr schüchternes Gemüt, besonders am
Vormittag.
LORD CAVERSHAM: Vermutlich besteht nicht die geringste Aussicht, dass sie
dich nimmt.
LORD GORING: Ich weiß nicht, wie die Wette heute steht.
LORD CAVERSHAM: Wenn sie dich nähme, wäre sie die hübscheste Närrin in
England.
LORD GORING: Genau das, was ich gern heiraten würde. Eine von Grund auf
vernünftige Frau würde mich in weniger als sechs Monaten in einen
Zustand völliger Idiotie versetzen.
LORD CAVERSHAM: Du verdienst sie nicht, mein Herr Sohn.
LORD GORING: Mein lieber Vater, wenn wir Männer die Frauen heirateten,
die wir verdienen, wäre uns eine sehr schlimme Zeit beschieden. Mabel Chiltern tritt ein.
MABEL CHILTERN: Oh! ... Guten Tag, Lord Caversham. Ich hoffe, Lady
Caversham befindet sich ganz wohl?
LORD CAVERSHAM: Lady Caversham befindet sich wie üblich, wie üblich.
LORD GORING: Guten Morgen, Miss Mabel!
MABEL CHILTERN beachtet Lord Goring
überhaupt nicht und wendet sich
ausschließlich an Lord Caversham: Und Lady Cavershams Hüte. . .,
haben sie sich gebessert?
LORD CAVERSHAM: Sie haben einen bedenklichen Rückfall erlitten, wie ich
leider sagen muss.
LORD GORING: Guten Morgen, Miss Mabel.
MABEL CHILTERN zu Lord
Caversham: Hoffentlich ist keine Operation vonnöten.
LORD CAVERSHAM über ihre Keckheit lächelnd:
Wenn der Fall eintreten sollte, werden wir Lady Caversham ein Betäubungsmittel
geben müssen. Andernfalls würde sie niemals zulassen, dass auch nur eine
Feder angetastet wird.
LORD GORING mit wachsendem
Nachdruck: Guten Morgen, Miss Mabel.
MABEL CHILTERN dreht sich mit
gespielter Überraschung um: Oh, Sie hier? Sie begreifen natürlich,
dass ich nie wieder mit Ihnen sprechen werde, nachdem Sie unsere
Verabredung nicht eingehalten haben.
LORD GORING: O bitte, sagen Sie nicht so etwas. Sie sind der einzige
Mensch in London, von dem ich wirklich gern möchte, dass er mir zuhört.
MABEL CHILTERN: Lord Goring, ich glaube nie auch nur ein einziges Wort,
das Sie oder ich einander sagen.
LORD CAVERSHAM: Da haben Sie völlig recht, meine Liebe, völlig recht,
soweit es ihn betrifft, meine ich.
MABEL CHILTERN: Glauben Sie, Sie könnten Ihren Sohn möglicherweise dazu
bringen, dass er sich hin und wieder ein wenig besser benimmt? Nur zur
Abwechslung.
LORD CAVERSHAM: Leider muss ich Ihnen sagen, Miss Chiltern, dass ich überhaupt
keinen Einfluss auf meinen Sohn habe. Ich wünschte, es wäre so. Wenn es
so wäre, dann wüsste ich schon, wozu ich ihn bringen würde.
MABEL CHILTERN: Ich fürchte, er gehört zu diesen fürchterlich schlappen
Naturen, die für Einfluss nicht empfänglich sind.
LORD CAVERSHAM: Er ist sehr herzlos, sehr herzlos.
LORD GORING: Mit scheint, ich störe hier etwas.
MABEL CHILTERN: Es ist sehr gut für Sie, zu stören und zu erfahren, was
die Leute hinter Ihrem Rücken sagen.
LORD GORING: Mir liegt überhaupt nichts daran, zu erfahren, was die Leute
hinter meinem Rücken sagen. Das macht mich viel zu eingebildet.
LORD CAVERSHAM: Nach dem, meine Liebe, muss ich mich wirklich von Ihnen
verabschieden.
MABEL CHILTERN: Oh! Sie werden mich doch hoffentlich nicht mit Lord Goring
allein lassen? Vor allem nicht zu einer so frühen Stunde am Tag?
LORD CAVERSHAM: Leider kann ich ihn nicht in die Downing Street mitnehmen.
Heute ist nicht der Tag des Premierministers, die Arbeitslosen zu
empfangen. Verabschiedet sich mit Händedruck
von Mabel Chiltern, nimmt Hut und
Stock und geht hinaus, nach einem durchdringend entrüsteten
Abschiedsblick auf Lord Goring.
MABEL CHILTERN nimmt Rosen
auf und beginnt sie in einem Gefäß auf dem Tisch zu ordnen: Leute,
die ihre Verabredungen im Park nicht einhalten, sind grässlich.
LORD GORING: Abscheulich.
MABEL CHILTERN: Ich freue mich, dass Sie es zugeben. Aber ich wünschte,
Sie sähen nicht so vergnügt darüber aus.
LORD GORING: Dafür kann ich nichts. Ich sehe immer vergnügt aus, wenn
ich mit Ihnen zusammen bin.
MABEL CHILTERN düster: Dann ist
es vermutlich meine Pflicht, bei Ihnen zu bleiben?
LORD GORING: Natürlich.
MABEL CHILTERN: Nein, meine Pflicht ist etwas, das ich grundsätzlich
nicht tue. Es deprimiert mich immer so. Deshalb muss ich Sie leider
verlassen.
LORD GORING: Bitte nicht, Miss Mabel. Ich habe Ihnen etwas ganz Besonderes
zu sagen.
MABEL CHILTERN entzückt: Oh!
Ist es ein Antrag?
LORD GORING etwas verblüfft: Nun
ja, ja - ich muss sagen, so ist es.
MABEL CHILTERN mit einem Seufzer der
Befriedigung: Wie schön! Das ist heute der zweite.
LORD GORING entrüstet: Heute
der zweite? Welcher eingebildete Esel ist so unverschämt gewesen und hat
gewagt, Ihnen einen Antrag zu machen, ehe ich Ihnen einen machte?
MABEL CHILTERN: Tommy Trafford natürlich. Heute ist einer von Tommys
Antragstagen. In der Saison macht er mir stets an Dienstagen und
Donnerstagen einen Heiratsantrag.
LORD GORING: Sie haben ihn doch hoffentlich nicht erhört?
MABEL CHILTERN: Ich mache es mir zur Regel, Tommy nie zu erhören. Deshalb
fährt er ja mit seinen Anträgen fort. Natürlich war ich heute morgen,
als Sie sich nicht blicken ließen, sehr nahe daran, ja zu sagen. Es wäre
für ihn und für Sie eine vortreffliche Lektion gewesen. Es hätte Sie
beide bessere Manieren gelehrt.
LORD GORING:
Oh! Zum Henker mit Tommy Trafford! Tommy ist ein alberner kleiner Esel.
Ich liebe Sie.
MABEL CHILTERN: Ich weiß. Und ich finde, Sie hätten es schon früher erwähnen
können. Ich habe Ihnen bestimmt massenhaft Gelegenheit gegeben.
LORD GORING: Mabel, seien Sie ernst. Bitte, seien Sie ernst.
MABEL CHILTERN: Ach! So redet ein Mann stets zu einem Mädchen, ehe er mit
ihr verheiratet ist. Hinterher sagt er es nie.
LORD GORING ergreift ihre Hand: Mabel,
ich habe Ihnen gesagt, dass ich Sie liebe. Können Sie mich nicht ein
wenig wiederlieben?
MABEL CHILTERN: Dummer Arthur! Wenn Sie etwas davon wüssten ... etwas,
wovon Sie keine Ahnung haben, dann wüssten Sie, dass ich Sie anbete.
Jeder in London weiß es - außer Ihnen. Es ist ein öffentlicher Skandal,
wie ich Sie anbete. Ich bin in den letzten sechs Monaten herumgegangen und
habe überall in der Gesellschaft erzählt, dass ich Sie anbete. Ich bin
neugierig, ob Sie zugeben, dass Sie mir etwas zu sagen haben. Ich habe überhaupt
keinen Charakter mehr. Zumindest fühle ich mich so glücklich, dass ich völlig
überzeugt bin, keinen Charakter mehr zu haben.
LORD GORING nimmt sie
in die Arme und küsst sie. Dann folgt eine
Pause des Entzückens: Liebste! Weißt du, ich hatte schreckliche
Angst, einen Korb zu bekommen!
MABEL CHILTERN blickt zu ihm empor:
Aber du hast doch noch nie von jemand einen Korb bekommen, nicht wahr,
Arthur? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich jemand abweist.
LORD GORING nachdem er sie wieder
geküsst hat: Natürlich bin ich nicht annähernd gut genug für dich,
Mabel.
MABEL CHILTERN schmiegt sich eng an
ihn: Ich bin so froh darüber, Liebling. Ich fürchtete schon, du wärest
es.
LORD GORING nach einigem Zögern: Und
ich bin ... ich bin etwas über dreißig.
MABEL CHILTFRN: Du siehst Wochen jünger aus, Liebster.
LORD GORING begeistert: Wie süß
von dir, das zu sagen!... Und es ist nur anständig, dir offen zu sagen,
dass ich schrecklich extravagant bin.
MABEL CHILTERN: Aber das bin ich auch, Arthur. Deshalb werden wir uns
bestimmt vertragen. Und jetzt muss ich zu Gertrude gehen.
LORD GORING: Musst du wirklich? Küsst
sie.
MABEL CHILTERN: Ja.
LORD GORING: Dann sag ihr, dass ich unbedingt mit ihr sprechen möchte.
Ich habe hier den ganzen Vormittag gewartet, um sie oder Robert zu
sprechen.
MABEL CHILTERN: Willst du damit sagen, dass du nicht ausdrücklich deshalb
gekommen bist, um mir einen Antrag zu machen?
LORD GORING triumphierend: Nein,
das war ein Geistesblitz.
MABEL CHILTERN: Dein erster.
LORD GORING mit Entschiedenheit: Mein letzter.
MABEL CHILTERN: Das freut mich zu hören. Und nun rühr dich nicht von der
Stelle. In fünf Minuten bin ich zurück. Und dass du mir nicht
irgendwelchen Versuchungen erliegst, während ich fort bin.
LORD GORING: Liebe Mabel, es gibt keine, wenn du fort bist. Das macht mich
furchtbar abhängig von dir.
Lady
Chiltern tritt ein.
LADY CHILTERN: Guten Morgen, Liebes! Wie hübsch du aussiehst!
MABEL CHILTERN: Wie blass du aussiehst, Gertrude! Es steht dir sehr gut!
LADY CHILTERN: Guten Morgen, Lord Goring!
LORD GORINC, verneigt sich: Guten
Morgen, Lady Chiltern!
MABEL CHILTERN beiseite zu Lord
Goring: Ich bin im Wintergarten, unter der zweiten Palme links.
LORD GORING: Zweiten links?
MABEL CHILTERN mit einem Ausdruck
gespielter Überraschung: Ja, der üblichen Palme. Wirft ihm, von Lady Chiltern
unbemerkt, eine Kusshand zu und
geht hinaus.
LORD GORING: Lady Chiltern, ich habe Ihnen eine ganze Menge sehr guter
Neuigkeiten zu erzählen. Mrs. Cheveley hat mir heute nacht Roberts Brief
gegeben, und ich habe ihn verbrannt. Robert ist in Sicherheit.
LADY CHILTERN sinkt auf das Sofa: In
Sicherheit! Oh! Ich bin so froh darüber. Welch ein guter Freund sind Sie
ihm - sind Sie uns!
LORD GORING: Es gibt jetzt nur einen Menschen, von dem man sagen könnte,
dass er sich in Gefahr befindet.
LADY CHILTERN: Wer ist das?
LORD GORING setzt sich neben sie: Sie
selbst.
LADY CHILTIERN: Ich? In Gefahr? Was meinen Sie damit?
LORD GORING: Gefahr ist ein zu gewaltiges Wort. Ich hätte es nicht
gebrauchen sollen. Aber ich gebe zu, dass ich Ihnen etwas zu sagen habe,
das Ihnen vielleicht Sorge bereitet, das mir schreckliche Sorgen macht.
Gestern Abend schrieben Sie mir einen sehr schönen, sehr weiblichen
Brief, in dem Sie um meine Hilfe baten. Sie schrieben mir als einem Ihrer
ältesten Freunde, als einem der ältesten Freunde Ihres Mannes. Mrs.
Cheveley stahl den Brief aus meiner Wohnung.
LADY CHILTERN: Ja und? Was nützt er ihr? Warum sollte sie ihn nicht
haben?
LORD GORING steht auf: Lady
Chiltern, ich will ganz offen gegen Sie sein. Mrs. Cheveley legt diesen
Brief auf eine bestimmte Weise aus und hat die Absicht, ihn Ihrem Mann zu
schicken.
LADY CHILTERN: Aber wie könnte sie ihn denn auslegen? ... Oh! Nicht so!
Nicht so! Wenn ich in - in Bedrängnis bin und Ihre Hilfe brauche, Ihnen
vertraue, zu Ihnen kommen will ... damit Sie mir raten ... mir beistehen
... Oh! Gibt es Frauen, die so abscheulich sind ... ? Und sie hat die
Absicht, ihn meinem Mann zu schicken? Erzählen Sie mir, was geschah. Erzählen
Sie mir alles, was geschah.
LORD GORING: Mrs. Cheveley war ohne mein Wissen in einem neben meiner
Bibliothek gelegenen Raum verborgen. Ich glaubte, die Person, die in jenem
Raum auf mich wartete, seien Sie selbst. Unerwartet kam Robert. Ein Stuhl
oder sonst was fiel in dem Raum. Er drang mit Gewalt ein und entdeckte
sie. Es kam zu einem fürchterlichen Auftritt zwischen uns. Ich glaubte
immer noch, Sie seien dort. Zornig verließ er mich. Am Ende bemächtigte
sich Mrs. Cheveley Ihres Briefes - sie stahl ihn, wann oder wie, weiß ich
nicht.
LADY CHILTERN: Zu welcher Zeit geschah das?
LORD GORING: Um halb elf Und jetzt schlage ich vor, dass wir Robert sofort
die ganze Sache erzählen.
LADY CHILTERN sieht ihn mit
einem Erstaunen an, das fast an Entsetzen
grenzt: Sie wollen, dass ich Robert erzähle, die Frau, die Sie
erwarteten, sei nicht Mrs. Cheveley, sondern ich selbst gewesen? Ich sei
es gewesen, die Sie um halb elf Uhr nachts in einem Zimmer Ihres Hauses
verborgen glaubten? Sie wollen, dass ich ihm das erzähle?
LORD GORING: Ich halte es für besser, wenn er die volle Wahrheit erfährt.
LADY CHILTERN steht auf: Oh, ich
könnte es nicht, ich könnte es nicht!
LORD GORING: Darf ich es tun?
LADY CHILTERN: Nein.
LORD GORING ernst: Sie haben
unrecht, Lady Chiltern.
LADY CHILTERN: Nein. Der Brief muss abgefangen werden. Das ist alles. Aber
wie kann ich es tun? jeden Augenblick am Tag kommen Briefe für ihn. Seine
Sekretäre öffnen sie und übergeben sie ihm. Ich wage nicht, die Diener
zu bitten, dass sie mir seine Briefe bringen. Das wäre unmöglich. Oh!
Warum sagen Sie mir nicht, was ich tun soll?
LORD GORING: Bitte beruhigen Sie sich, Lady Chiltern, und beantworten Sie
die Fragen, die ich Ihnen stellen werde. Sie sagten, seine Sekretäre öffnen
seine Briefe.
LADY CHILTERN: Ja.
LORD GORING: Wer ist heute bei ihm? Mr. Trafford, nicht wahr?
LADY CHILTERN: Nein. Ich glaube, Mr. Montford.
LORD GORING: Können Sie ihm vertrauen?
LADY CHILTERN mit einer Gebärde der
Verzweiflung: Oh! Wie soll ich das wissen?
LORD GORING: Er würde doch tun, worum Sie ihn bäten?
LADY CHILTERN: Ich glaube.
LORD CHILTERN: Ihr Brief war auf rosa Papier geschrieben. Er könnte ihn
erkennen, ohne ihn zu lesen, nicht wahr? An der Farbe?
LADY CHILTERN: Ich denke, ja.
LORD GORING: Ist er jetzt im Hause?
LADY CHILTERN: Ja.
LORD GORING: Dann werde ich selbst zu ihm gehen und ihm sagen, dass heute
ein bestimmter Brief, auf rosa Papier geschrieben, an Robert geschickt
werden soll und dass er ihn um keinen Preis erreichen darf. Geht zur Tür und öffnet Sie. Oh! Robert kommt mit dem Brief in der
Hand herauf Er hat ihn bereits erreicht.
LADY CHILTERN mit einem
Schmerzensschrei: Oh! Sein Leben haben Sie gerettet; was haben Sie mit
meinem getan?
Sir Robert
Chiltern tritt ein. Er hat den Brief in der Hand und
liest ihn. Er geht auf seine Frau
zu, ohne Lord Gorings Anwesenheit zu bemerken.
SIR ROBERT CHILTERN: >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich
komme zu Dir. Gertrude.< Oh, Liebste! Ist das wahr? Du vertraust mir
wirklich und brauchst mich? Wenn es so ist, dann wäre es an mir, zu dir
zu kommen, nicht an dir, mir zu schreiben, dass du zu mir kommen willst.
Dieser Brief von dir, Gertrude, gibt mir das Gefühl, dass mich jetzt
nichts, was die Welt tun mag, verletzen kann. Du brauchst mich, Gertrude.
Lord Goring
bedeutet Lady Chiltern, von Sir Robert Chiltern
ungesehen durch eine bittende Gebärde,
die Situation und Sir Roberts Irrtum gelten zu lassen.
LADY CHILTERN: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Du vertraust mir, Gertrude?
LADY CHILTERN: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN: Ach! Warum hast du nicht hinzugefügt, dass du mich
liebst?
LADY CHILTERN nimmt seine
Hand: Weil ich dich liebe.
Lord Goring
entfernt sich in den Wintergarten.
SIR ROBERT CHILTERN küsst
sie: Gertrude, du weißt nicht, was ich empfinde. Als mir Montford
deinen Brief über den Tisch reichte - ich nehme an, er hat ihn irrtümlich
geöffnet, ohne sich die Handschrift auf dem Umschlag anzusehen - und als
ich las - oh! Da war mir einerlei, welche Schande oder Strafe mich
erwartet, ich dachte nur daran, dass du mich noch liebst.
LADY CHILTERN: Es erwartet dich keine Schande oder öffentlicher Schimpf.
Mrs. Cheveley hat den Beweis, der sich in ihrem Besitz befand, Lord Goring
übergeben, und er hat ihn vernichtet.
SIR ROBERT CHILTERN: Weißt du das genau, Gertrude?
LADY CHILTERN: Ja, Lord Goring hat es mir eben erzählt.
SIR ROBERT CHILTERN: Dann bin ich in Sicherheit! Oh, wie wunderbar, sich
sicher zu fühlen! Zwei Tage des Schreckens liegen hinter mir. Jetzt bin
ich in Sicherheit. Wie hat Arthur meinen Brief vernichtet? Erzähl es mir.
LADY CHILTERN: Er hat ihn verbrannt.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich wünschte, ich hätte diese meine einzige Jugendsünde
zu Asche verbrennen sehen. Wie viele Menschen gibt es in unserm heutigen
Leben, die gern ihre Vergangenheit vor sich zu weißer Asche verbrennen sähen!
Ist Arthur noch da?
LADY CHILTERN: Ja, er ist im Wintergarten.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich bin jetzt so froh, dass ich heute nacht im
Parlament diese Rede- gehalten habe, so froh. Ich hielt sie in dem
Gedanken, dass vielleicht öffentliche Schande folgen würde. Aber es kam
anders.
LADY CHILTERN: Öffentliche Ehre war der Erfolg.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich glaube, ja. Ich fürchte es fast. Denn obgleich
ich vor Entdeckung sicher bin, obgleich jeder Beweis gegen mich vernichtet
ist, sollte ich ... sollte ich mich wohl vom öffentlichen Leben zurückziehen,
Gertrude? Er blickt seine Frau beklommen an.
LADY CHILTERN eifrig: O
ja, Robert, das solltest du tun. Es ist deine Pflicht.
SIR ROBERT CHILTERN: Das bedeutet, viel aufzugeben.
LADY CHILTERN: Nein, es wird bedeuten, viel zu gewinnen.
Sir Robert
Chiltern geht mit gequältem Ausdruck im Zimmer
auf und ab. Dann tritt er zu seiner
Frau und legt ihr die Hand auf
die Schulter.
SIR ROBERT CHILTERN: Und du würdest glücklich sein, irgendwo
allein mit mir zu leben, vielleicht im Ausland oder, fern von London, fern
vom öffentlichen Leben, auf dem Lande? Du würdest nichts vermissen?
LADY CHILTERN:
Oh! Nichts, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN traurig: Und
dein Ehrgeiz für mich? Du warst immer ehrgeizig für mich.
LADY CHILTERN: Ach, mein Ehrgeiz! Ich habe jetzt keinen außer dem, dass
wir beide einander lieben mögen. Es war dein Ehrgeiz, der dich vom
rechten Wege führte. Lass uns nicht von Ehrgeiz sprechen.
Lord Goring
kommt aus dem Wintergarten, sehr zufrieden mit
sich und mit einem völlig neuen
Knopflochschmuck, den jemand für
ihn ausgesucht hat.
SIR ROBERT CHILTERN geht ihm
entgegen: Arthur, ich muss dir danken für das, was du für mich getan
hast. Ich weiß nicht, wie ich's dir vergelten kann. Drückt ihm die Hand.
LORD GORING: Mein lieber Junge, das werde ich dir gleich sagen. In
diesem Augenblick, unter der üblichen Palme ... im Wintergarten, meine
ich ...
Mason tritt
ein.
MASON: Lord Caversham.
LORD GORING: Mein bewundernswerter Vater macht es sich wahrhaftig zur
Gewohnheit, im unrechten Augenblick zu erscheinen. Das ist sehr herzlos
von ihm, wirklich sehr herzlos.
Lord
Caversham tritt ein. Mason entfernt sich.
LORD CAVERSHAM: Guten Morgen, Lady Chiltern! Ihnen, Chiltern,
innigste Glückwünsche zu Ihrer glänzenden Rede heute nacht. Ich komme
soeben vom Premierminister, und Sie sollen den vakanten Sitz im Kabinett
erhalten.
SIR ROBERT CHILTERN mit einem
Ausdruck der Freude und des Triumphes:
Einen Sitz im Kabinett?
LORD CAVERSHAM: Ja, hier ist das Schreiben des Premierministers.
Übergibt es
ihm.
SIR ROBERT CHILTERN nimmt
das Schreiben und liest es: Einen
Sitz im Kabinett!
LORD CAVERSHAM: Gewiss, und den verdienen Sie auch. Sie haben das, was wir
heutzutage im politischen Leben so dringend brauchen - erhabenen
Charakter, erhabene Moral, erhabene Prinzipien. Zu
Lord Goring. Alles, mein
Herr Sohn, was du nicht besitzt und nie besitzen wirst.
LORD GORING: Ich bin nicht für Prinzipien, Vater. Ich bin mehr für
Vorurteile.
Sir Robert
Chiltern ist im Begriff, das Angebot des Premierministers anzunehmen, als
er merkt, dass ihn seine Frau mit ihren klaren, ehrlichen Augen ansieht.
Da wird ihm bewusst, dass es unmöglich ist.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich kann dieses Angebot nicht annehmen, Lord
Caversham. Ich habe mich entschieden, es abzulehnen.
LORD CAVERSHAM: Es abzulehnen?
SIR ROBERT CHILTERN: Ich gedenke mich unverzüglich vom öffentlichen
Leben zurückzuziehen.
LORD CAVERSHAM aufgebracht:
Einen Sitz im Kabinett ablehnen und vom öffentlichen Leben zurückziehen?
Einen solchen verdammten Unsinn habe ich im Laufe meines ganzen Lebens
nicht gehört. Bitte um Verzeihung, Lady Chiltern. Verzeihen Sie, Chiltern.
Zu Lord Goring. Grinse nicht so,
mein Herr Sohn.
LORD GORING: Nein, Vater.
LORD CAVERSHAM: Lady Chiltern, Sie sind eine vernünftige Frau, die vernünftigste
Frau in London, die vernünftigste Frau, die ich kenne. Wollen Sie gütigst
Ihren Gatten davor bewahren, einen solchen ... so zu reden? ... Wollen Sie
die Güte haben, das zu tun, Lady Chiltern?
LADY CHILTERN: Ich denke, mein Mann hat recht mit seinem Entschluss, Lord
Caversham. Ich heiße ihn gut.
LORD CAVERSHAM: Sie heißen ihn gut? Du lieber Himmel!
LADY CHILTERN ergreift die Hand
ihres Gatten: Ich bewundere ihn deswegen. Ich bewundere ihn deswegen
ungeheuer. Nie zuvor habe ich ihn so bewundert. Er ist lauterer, als
selbst ich es glaubte. Zu Sir Robert
Chiltern. Du wirst jetzt den Brief an den Premierminister schreiben,
nicht wahr? Schiebe es nicht auf, Robert.
SIR ROBERT CHILTERN mit einem
Anflug von Bitterkeit: Ich denke auch, ich sollte ihm sofort
schreiben. Dergleichen Angebote werden nicht wiederholt. Ich bitte Sie,
mich einen Augenblick zu entschuldigen, Lord Caversham.
LADY CHILTERN: Ich darf doch mitkommen, Robert?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja, Gertrude.
Lady
Chiltern geht mit ihm hinaus.
LORD CAVERSHAM: Was ist mit dieser Familie los. Was nicht in
Ordnung hier, wie? Klopft sich an
die Stirn. Schwachsinn? Vermutlich geerbt. Noch dazu beide. Frau wie
Mann. Sehr betrüblich. In der Tat sehr betrüblich! Und dabei gehören
sie keiner der alten Familien an. Kann es nicht begreifen.
LORD GORING: Es ist kein Schwachsinn, Vater, ich versichere es dir.
LORD CAVERSHAM: Was dann, Herr Sohn?
LORD GORING nach kurzem Zögern: Nun
ja, was man heutzutage hohe Moral nennt, Vater. Weiter nichts.
LORD CAVERSHAM: Hasse diese neumodischen Bezeichnungen. Ist dasselbe, was
wir vor fünfzig Jahren Schwachsinn nannten. Werde in diesem Hause nicht
mehr bleiben.
LORD GORING fasst ihn am Arm:
Oh! Geh nur einen Augenblick da hinein Vater. Dritte Palme links, die übliche
Palme.
LORD CAVERSHAM: Wie?
LORD GORING: Verzeihung, Vater, ich vergaß. Im Wintergarten, Vater, im
Wintergarten - da ist jemand, und ich möchte dass du mit dem jemand
sprichst.
LORD CAVERSHAM: Worüber?
LORD GORING: Über mich, Vater.
LORD CAVEHSHAM grimmig: Kein
Gegenstand, der große Beredsamkeit ermöglicht.
LORD GORING: Nein, Vater, aber die Dame ist wie ich. Sie hält nicht viel
von Beredsamkeit bei anderen. Sie findet sie etwas geräuschvoll.
Lord
Caversham geht in den Wintergarten. Lady Chiltern tritt
ein.
LORD GORING: Lady Chiltern, warum spielen Sie mit Mrs. Cheveleys
Karten?
LADY CHILTERN fährt zusammen: Ich verstehe Sie nicht.
LORD GORING: Mrs. Cheveley hat versucht, Ihren Mann zugrunde zu richten.
Ihn entweder aus dem öffentlichen Leben zu jagen oder ihn in eine
schimpfliche Position zu bringen. Vor der letztgenannten Tragödie haben
sie ihn bewahrt. In die andere treiben Sie ihn nun. Warum wollen Sie ihm
den Schaden zufügen, den Mrs. Cheveley ihm vergeblich anzutun versuchte?
LADY CHILTERN:
Lord Goring?
LORD GORING rafft
sich zu einer großen Anstrengung auf und lässt den Philosophen erkennen, der unter dem Dandy verborgen ist:
Erlauben Sie, Lady Chiltern. Sie schrieben mir gestern Abend einen Brief,
in dem Sie sagten, Sie hätten Vertrauen zu mir und brauchten meine Hilfe.
Jetzt ist der Augenblick, da Sie wirklich meine Hilfe brauchen, jetzt ist
der Zeitpunkt, da Sie mir vertrauen müssen, meinem Rat und Urteil
vertrauen müssen. Sie lieben Robert. Wollen Sie seine Liebe zu Ihnen töten?
Welch ein Dasein wird er haben, wenn Sie ihn der Früchte seines Ehrgeizes
berauben, wenn Sie ihn aus dem Glanz einer großen politischen Karriere
reißen, wenn Sie ihm die Türen zum öffentlichen Leben verschließen,
wenn Sie ihn zu sterilem Nichtstun verdammen, ihn, der für Triumph und
Erfolg geschaffen ist? Die Bestimmung der Frauen ist nicht, uns zu
richten, sondern uns zu vergeben, wenn wir Vergebung brauchen. Verzeihung,
nicht Strafe ist ihre Aufgabe. Warum sollten Sie ihn mit Ruten geißeln für
eine in seiner Jugend begangene Sünde, ehe er Sie, ehe er sich selbst
kannte? Das Leben eines Mannes wiegt schwerer als das einer Frau. Es hat
größere Wirkungen, einen weiteren Horizont, erhabenere Bestrebungen des
Ehrgeizes. Das Leben einer Frau bewegt sich in Gefühlskurven. Auf Linien
des Verstandes verläuft das Leben eines Mannes. Begehen Sie nicht einen
furchtbaren Fehler, Lady Chiltern. Eine Frau, die eines Mannes Liebe
aufrechterhalten und ihn wiederlieben kann, hat alles getan, was die Welt
von Frauen verlangt oder von ihnen verlangen sollte.
LADY CHILTERN gequält und zögernd:
Aber mein Mann selbst wünscht, sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen.
Er fühlt, dass es seine Pflicht ist. Er hat es als erster gesagt.
LORD GORING: Eher, als Ihre Liebe zu verlieren, würde Robert alles tun,
seine ganze Karriere preisgeben, was er jetzt zu tun im Begriff ist. Er
bringt Ihnen ein ungeheures Opfer. Lassen Sie sich von mir raten, Lady
Chiltern, und nehmen Sie ein so großes Opfer nicht an. Wenn Sie es tun,
werden Sie es später bitter bereuen. Wir Männer und Frauen sind nicht
dafür geschaffen, dergleichen Opfer voneinander anzunehmen. Wir sind
ihrer nicht würdig. Außerdem ist Robert schon genug bestraft worden.
LADY CHILTERN: Wir sind beide bestraft worden. Ich habe ihn zu hoch
erhoben.
LORD GORING Mit tiefem Gefühl in
der Stimme: Setzen Sie ihn aus diesem Grunde nicht zu tief herab. Wenn
er von seinem Altar gestürzt ist, werfen Sie ihn nicht in den Schmutz.
Nichtstun wäre für Robert wahrhaftig der Schmutz der Schmach. Macht ist
seine Leidenschaft. Er würde alles verlieren, selbst sein Vermögen,
Liebe zu fühlen. Das Leben Ihres Mannes liegt in diesem Augenblick in
Ihrer Hand, die Liebe Ihres Mannes liegt in Ihrer Hand. Zerstören Sie ihm
nicht beides.
Sir Robert
Chiltern tritt ein.
SIR ROBERT CHILTERN: Hier ist der Entwurf meines Briefes, Gertrude.
Soll ich ihn dir vorlesen?
LADY CHILTERN: Lass mich sehen.
Sir Robert
gibt ihr den Brief. Sie liest ihn und zerreißt ihn dann mit leidenschaftlicher Gebärde.
SIR ROBERT CHILTERN: Was tust du?
LADY CHILTERN: Das Leben eines Mannes wiegt schwerer als das einer Frau.
Es hat größere Wirkungen, einen weiteren Horizont, erhabenere
Bestrebungen des Ehrgeizes. Das Leben einer Frau bewegt sich in Gefühlskurven.
Auf Linien des Verstandes verläuft das Leben eines Mannes. Das und noch
viel mehr habe ich soeben von Lord Goring gelernt. Und ich werde dir nicht
dein Leben zerstören noch zusehen, wie du es als ein Opfer für mich
zerstörst, ein unnutzes Opfer!
SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude! Gertrude!
LADY CHILTERN: Du kannst vergessen. Männer vergessen leicht. Und ich
verzeihen. Auf diese Weise helfen die Frauen den Menschen. Das sehe ich
jetzt ein.
SIR ROBERT CHILTERN umarmt sie,
übermannt von Gefühl: Mein Weib! Mein Weib! Zu
Lord Goring. Arthur, ich scheine immer in deiner Schuld zu stehen.
LORD GORING: O Himmel, nein, Robert. In Lady Chilterns Schuld stehst du,
nicht in meiner.
SIR ROBERT CHILTERN: Ich verdanke dir viel. Und jetzt erzähl mir, was du
mich fragen wolltest, als Lord Caversham hereinkam.
LORD GORING: Robert, du bist der Vormund deiner Schwester, und ich möchte
deine Einwilligung, sie zu heiraten. Das ist alles.
LADY CHILTERN: Oh, ich freue mich so! Ich freue mich so! Drückt Lord Goring die Hand.
LORD GORING: Ich danke Ihnen, Lady Chiltern.
SIR ROBERT CHILTERN mit besorgtem
Ausdruck: Meine Schwester soll deine Frau werden?
LORD GORING: Ja.
SIR ROBERT CHILTERN spricht mit großer
Entschiedenheit: Arthur, es tut mir sehr leid, aber die Sache kommt überhaupt
nicht in Frage. Ich muss an Mabels künftiges Glück denken. Und ich
glaube nicht, dass ihr Glück in deinen Händen gesichert wäre. Ich kann
nicht zulassen, dass sie geopfert wird.
LORD GORING: Geopfert?
SIR ROBERT CHILTERN: Ja, entschieden geopfert. Ehen ohne Liebe sind
abscheulich. Aber es gibt etwas noch Schlimmeres als eine völlig
liebelose Ehe: eine Ehe, in der Liebe ist, aber nur auf einer Seite;
Treue, aber nur auf einer Seite; Hingabe, aber nur auf einer Seite, und in
der von den beiden Herzen das eine mit Gewissheit brechen muss.
LORD GORING: Aber ich liebe Mabel. Keine andere Frau hat einen Platz in
meinem Leben.
LADY CHILTERN: Robert, wenn sie einander lieben, warum sollten sie dann
nicht heiraten?
SIR ROBERT CHILTERN: Arthur kann Mabel nicht die Liebe entgegenbringen,
die sie verdient.
LORD GORING: Welchen Grund hast du, das zu behaupten?
SIR ROBERT CHILTERN nach einer
Pause: Verlangst du wirklich von mir, dass ich ihn dir sage?
LORD GORING: Aber natürlich.
SIR ROBERT CHILTERN: Wie du willst. Als ich gestern Abend zu dir kam, fand
ich Mrs. Cheveley in deinen Räumen verborgen. Es war zwischen zehn und
elf Uhr nachts. Mehr wünsche ich nicht zu sagen. Deine Beziehungen zu
Mrs. Cheveley gehen mich, wie ich dir heute nacht sagte, nicht das
geringste an. Ich weiß, dass du einmal mit ihr verlobt warst. Der Zauber,
den sie auf dich ausübte, scheint zurückgekehrt zu sein. Du hast heute
nacht von ihr als einer lauteren und makellosen Frau zu mir gesprochen,
einer Frau, die du achtest und ehrst. Das mag sein. Aber ich kann das
Leben meiner Schwester nicht in deine Hände geben. Es wäre unrecht von
mir. Es wäre ein Unrecht, ein schändliches Unrecht gegen sie.
LORD GORING: Ich habe nichts weiter zu sagen.
LADY CHILTERN: Robert, es war nicht Mrs. Cheveley, die Lord Goring heute
nacht erwartete.
SIR ROBERT
CHILTERN: Nicht Mrs. Cheveley! Wer dann?
LORD GORING: Lady Chiltern!
LADY CHILTERN: Es war deine eigene Frau. Robert, gestern Nachmittag sagte
mir Lord Goring, wenn ich je in Not sei, könnte ich um Hilfe zu ihm
kommen, da er unser ältester und bester Freund sei. Später, nach dem
furchtbaren Auftritt in diesem Zimmer, schrieb ich ihm, dass ich ihm
vertraue, dass ich ihn brauche, dass ich um Hilfe und Rat zu ihm käme. Sir
Robert Chiltern zieht den Brief
aus der Tasche. Ja, diesen
Brief. Ich ging schließlich doch nicht zu Lord Goring. Ich spürte, dass
wir uns allein helfen müssten. Stolz ließ mich so denken. Mrs. Cheveley ging. Sie stahl meinen Brief und schickte ihn dir heute morgen anonym zu,
damit du glauben solltest ... Oh! Robert, ich kann dir nicht sagen, auf
welchen Gedanken sie dich bringen wollte ...
SIR ROBERT CHILTERN: Wie? War ich in deinen Augen so tief gesunken, dass
du glaubtest, ich könnte auch nur eine Sekunde an deiner Lauterkeit
zweifeln? Gertrude, Gertrude, du bist für mich das makellose Bild all
dessen, was gut ist, und nie kann Sünde dich erreichen. Arthur, du kannst
zu Mabel gehen, und du hast meine besten Wünsche! Oh! Wart noch einen
Augenblick. Der Brief enthält keine Anrede. Das scheint die vortreffliche
Mrs. Cheveley nicht bemerkt zu haben. Es sollte dort ein Name stehen.
LADY CHILTERN: Lass mich deinen hinschreiben. Du bist es, dem ich vertraue
und den ich brauche. Du und kein anderer.
LORD GORING: Also wirklich, Lady Chiltern, ich meine, ich sollte meinen
Brief zurückbekommen.
LADY CHILTERN lächelnd: Nein,
Sie sollen Mabel bekommen. Nimmt den
Brief und schreibt den Namen ihres Mannes darauf.
LORD GORING: Ich hoffe, sie hat ihren Entschluss nicht geändert. Es
ist beinahe zwanzig Minuten her, seit ich sie zuletzt sah.
Mabel
Chiltern und Lord Caversham treten ein.
MABEL CHILTERN: Lord Goring, ich finde Gespräche mit Ihrem Vater
viel vereitelnder als mit Ihnen. Ich werde mich in Zukunft nur noch mit
Lord Caversham unterhalten, und stets unter der üblichen Palme.
LORD GORING: Liebling! Küsst sie.
LORD CAVERSHAM nicht wenig verblüfft:
Was hat das zu bedeuten, mein Herr Sohn? Du willst doch wohl nicht
behaupten, dass diese bezaubernde, gescheite junge Dame so töricht
gewesen ist, dich zu erhören?
LORD GORING: Natürlich, Vater! Und Chiltern ist so vernünftig, den Sitz
im Kabinett anzunehmen.
LORD CAVERSHAM: Das freut mich aber sehr zu hören, Chiltern ... Ich
gratuliere Ihnen. Wenn England nicht vor die Hunde oder die Radikalen
geht, werden wir Sie eines Tages als Premierminister haben.
Mason tritt
ein.
MASON: Es ist zum Lunch gedeckt, Mylady. Er geht hinaus.
MABEL CHILTERN: Sie bleiben doch zum Lunch, nicht wahr, Lord Caversham?
LORD CAVERSHAM: Mit Vergnügen, und danach fahre ich Sie zur Downing
Street, Chiltern. Sie haben eine große Zukunft vor sich, eine große
Zukunft. Zu Lord Goring. Wünschte,
ich könnte von dir dasselbe sagen, mein Herr Sohn. Aber deine Karriere
wird unweigerlich ganz und gar häuslich sein.
LORD GORING: Ja, Vater, ich ziehe eine häusliche vor.
LORD CAVERSHAM: Und wenn du dieser jungen Dame nicht ein idealer Gatte
wirst, dann enterbe ich dich bis auf einen Schilling.
MABEL CHILTERN: Ein idealer Gatte? Oh, ich glaube nicht, dass mir das
gefallen würde. Es klingt wie etwas im Jenseits.
LORD CAVERSHAM: Wie möchten Sie ihn dann haben, Liebes?
MABEL CHILTERN: Er kann sein, wie er will. Ich möchte weiter nichts, als
... als... oh! als ihm eine wirkliche Frau sein.
LORD CAVERSHAM: Auf mein Wort, darin liegt eine Menge gesunder Verstand,
Lady Chiltern.
Alle, außer
Sir Robert Chiltern, gehen hinaus. Er lässt sich in
Gedanken verloren in einen
Sesselfallen. Nach einer kleinen Weile kommt
Lady Chiltern zurück, auf der Suche nach ihm.
LADY
CHILTERN beugt sich über die
Sessellehne: Kommst du nicht, Robert?
SIR ROBERT CHILTERN nimmt ihre Hand: Gertrude, ist es Liebe, was du für
mich empfindest, oder ist es nur Mitleid?
LADY CHILTERN küsst ihn: Es ist
Liebe, Robert. Liebe, und nur Liebe. Für uns beide beginnt ein neues
Leben.
Ende
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