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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried 

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Drittes Buch

III

Beispiele vom physiologischen Bau einiger Tiere

Der Elefant [17], so unförmlich er scheinet, gibt physiologische Gründe genug von seinem dem Menschen  so ähnlichen Vorzuge vor allen lebenden Tieren. Zwar ist sein Gehirn, der Größe des Tiers nach, nicht übermäßig; die Höhlen desselben aber und sein ganzer  Bau ist dem menschlichen sehr ähnlich. »Ich war erstaunt«, sagt Camper, »eine solche Ähnlichkeit zwischen der glandula pinealis, den nates und testes dieses Tiers mit denen in unserm Gehirn zu finden; wenn irgendwo ein sensorium commune statthaben kann, so muß es hier gesucht werden.« Die Hirnschale ist im  Verhältnis des Kopfs klein, weil die Nasenhöhle weit  oberhalb dem Gehirn läuft und nicht nur die Stirn-,  sondern auch andre Höhlen [18] mit Luft anfüllet; denn  um die schweren Kinnladen zu bewegen, wurden starke Muskeln und große Oberflächen erfordert, die die  bildende Mutter also, um dem Geschöpf eine untragbare Schwere zu ersparen, mit Luft anfüllte. Das  große Gehirn liegt nicht oberhalb dem kleinen und  drücket dasselbe nicht durch seine Schwere; die trennende Membrane steht senkrecht. Die zahlreichen  Nerven des Tiers wenden sich großenteils zu den  feinern Sinnen, und der Rüssel allein empfängt derselben soviel als sein ganzer ungeheurer Körper. Die  Muskeln, die ihn bewegen, entspringen an der Stirn;  er ist ganz ohne Knorpel, das Werkzeug eines zarten  Gefühls, eines feinen Geruchs und der leichtesten Bewegung. In ihm also vereinigen sich mehrere Sinne  und berichtigen einander. Das geistvolle Auge des  Elefanten (das auch am untern Augenlide, dem Menschen und sonst keinem Tier gleich, Haare und eine  zarte Muskelbewegung hat) hat also die feinern fühlenden Sinne zu Nachbarn, und diese sind vom Geschmack, der sonst das Tier hinreißt, gesondert. Was  bei andern, zumal fleischfressenden Tieren der herrschende Teil des Gesichts zu sein pflegt, der Mund,  ist hier unter die hervorragende Stirn, unter den erhöheten Rüssel tief herunter gesetzt und beinah verborgen. Noch kleiner ist seine Zunge; die Waffen der  Verteidigung, die er im Munde trägt, sind von den  Werkzeugen der Nahrung unterschieden: zur wilden  Freßgier ist er also nicht gebildet. Sein Magen ist einfach und klein, so groß die Eingeweide sein mußten;  ihn kann also wahrscheinlich nicht, wie das Raubtier,  der wütende Hunger quälen. Friedlich und reinlich  lieset er die Kräuter, und weil Geruch und Mund voneinander getrennt sind, brauchet er dazu mehr Behutsamkeit und Zeit. Zu eben der Behutsamkeit hat ihn  die Natur im Trinken und in seinem ganzen schweren  Körperbau gebildet, so daß diese ihn eben aus dem  Grunde bis zur Begattung begleitet. Kein Trieb des  Geschlechts verwildert ihn; denn die Elefantin trägt  neun Monate, wie der Mensch, und säuget ihr Junges  an Vorderbrüsten. Dem Menschen gleich sind die  Verhältnisse seiner Lebensalter, zu wachsen, zu  blühn, zu sterben. Wie edel hat die Natur die tierischen Schneidezähne in Hauzähne verwandelt, und  wie fein muß das Organ seines Gehörs sein, da er die  menschliche Rede in feinen Unterscheidungen des Befehls und der Affekten verstehet. Seine Ohren sind  größer als bei einem andern Tier, dabei dünne und  nach allen Seiten gebreitet; ihre Öffnung liegt hoch,  und der ganze, dennoch kleine Hinterkopf des Tiers  ist eine Höhle des Widerhalls, mit Luft erfüllet. So  wußte die Natur die Schwere des Geschöpfs zu erleichtern und die stärkste Muskelkraft mit der feinsten Ökonomie der Nerven zu paaren. Ein König der Tiere an weiser Ruhe und verständiger Sinnesreinheit. 

Der Löwe dagegen [19], welch ein andrer König der  Tiere! Auf Muskeln hat es die Natur bei ihm gerichtet, auf Sanftmut und feine Verständigkeit nicht. Sein  Gehirn machte sie klein und seine Nerven so  schwach, als es dem Verhältnis nach selbst die Nerven der Katze nicht sind, die Muskeln dagegen dick  und stark, und setzte sie an ihren Knochen in eine solche Lage, daß aus ihnen zwar nicht die vielfachste  und feinste Bewegung, aber desto mehr Kraft entstehen sollte. Ein eigner großer Muskel, der den Hals erhebt, ein Muskel des Vorderfußes, der zum Festhalten dient, ein Fußgelenk dicht an der Klaue, diese groß  und krumm, daß ihre Spitze nie stumpf werden kann,  weil sie nie die Erde berührt: solche wurden des  Löwen Gaben. Sein Magen ist lang und stark gebogen; das Reiben desselben, und also sein Hunger,  muß fürchterlich sein. Klein ist sein Herz, aber zart  und weit die Höhlen desselben, viel länger und weiter  als beim Menschen. Auch die Wände seines Herzens  sind doppelt so dünn und die Pulsadern doppelt so  klein, daß das Blut des Löwen, sobald es aus dem  Herzen tritt, schon viermal und in den Zweigen der  15. Abteilung hundermal schneller läuft als im Menschen. Das Herz des Elefanten dagegen schlägt ruhig,  beinah wie bei kaltblütigen Tieren. Auch die Galle  des Löwen ist groß und schwärzlich. Seine breite  Zunge läuft vorn rund zu, mit Stacheln besetzt, die,  anderthalb Zoll lang, mitten auf dem Vorderteil liegen und ihre Spitzen hinterwärts richten. Daher sein gefährliches Lecken der Haut, das sogleich Blut hervortreibt und bei dem ihn Blutdurst befällt, wütender  Durst auch nach dem Blut seines Wohltäters und  Freundes. Ein Löwe, der einmal Menschenblut gekostet hat, läßt nicht leicht von dieser Beute, weil sein  durchfurchter Gaum nach dieser Erquickung lechzet.  Dabei gebiert die Löwin mehrere Junge, die langsam  wachsen; sie muß sie also lange nähren, und ihr mütterlicher Trieb nebst eignem Hunger reizt ihre Raubgier. Da die Zunge des Löwen scharf leckt und sein  heißer Hunger ein Durst ist, so ist's natürlich, daß ihn faules Aas nicht reize. Das eigne Würgen und Aussaugen des frischen Bluts ist sein Königsgeschmack,  und sein befremdendes Anstaunen oft seine ganze Königsgroßmut. Leise ist sein Schlaf, weil sein Blut  warm und schnell ist; feige wird er, wenn er satt ist,  weil er faulen Vorrat nicht brauchen kann, auch nicht  an ihn denket und ihn also nur der gegenwärtige Hunger zur Tapferkeit treibet. Wohltätig hat die Natur  seine Sinne gestumpft: sein Gesicht fürchtet das  Feuer, da es auch den Glanz der Sonne nicht erträgt;  er wittert nicht scharf, weil er auch der Lage seiner  Muskeln nach nur zum mächtigen Sprunge, nicht zum Lauf gemacht ist und keine Fäulung ihn reizt. Die  überdeckte, gefurchte Stirn ist klein gegen den Unterteil des Gesichts, die Raubknochen und Freßmuskeln  Plump und lang ist seine Nase, eisern sein Nacken  und Vorderfuß, ansehnlich seine Mähne und Schweifmuskeln; der Hinterleib hingegen ist schwächer und  feiner. Die Natur hatte ihre furchtbare Kräfte verbraucht und machte ihn im Geschlecht, auch sonst,  wenn ihn sein Blutdurst nicht quält, zu einem sanften  und edlen Tiere. So physiologisch ist also auch dieses Geschöpfs Art und Seele.

Ein drittes Beispiel mag der Unau sein, dem An- sehn nach das letzte und ungebildetste der vierfüßigen Tiere, ein Klumpe des Schlammes, der sich zur tierischen Organisation erhoben. Klein ist sein Kopf und  rund, auch alle Glieder desselben rund und dick, unausgebildet und wulstig. Sein Hals ist ungelenk,  gleichsam ein Stück mit dem Kopf. Die Haare desselben begegnen sich mit dem Rückenhaar, als ob die  Natur das Tier in zweierlei Richtungen formiert habe,  ungewiß, welche sie wählen sollte. Sie wählte endlich den Bauch und Hintern zum Hauptteil, dem auch in  der Stellung, Gestalt und ganzen Lebensweise der  elende Kopf nur dienet. Der Wurf liegt am After;  Magen und Gedärm füllen sein Inneres; Herz, Lunge,  Leber sind schlecht gebildet, und die Galle scheint  ihm noch gar zu fehlen. Sein Blut ist so kalt, daß es  an die Amphibien grenzet; daher sein ausgerissenes  Herz und sein Eingeweide noch lange schlägt und das Tier, auch ohne Herz, die Beine zuckt, als ob es in  einem Schlummer läge. Auch hier bemerken wir also  die Kompensation der Natur, daß, wo sie empfindsame Nerven, selbst rege Muskelkräfte versagen  mußte, sie desto inniger den zähen Reiz ausbreitete  und mitteilte. Dies vornehme Tier also mag unglücklicher scheinen, als es ist. Es liebt die Wärme, es liebt  die schlaffe Ruhe und befindet sich in beiden  schlammartig wohl. Wenn es nicht Wärme hat, schläft es; ja, als ob ihm auch das Liegen schmerzte, hängt es sich mit der Kralle an den Baum, frißt mit der andern  Kralle und genießt wie ein hangender Sack im warmen Sonnenschein sein raupenartiges Leben. Die Unförmlichkeit seiner Füße ist auch Wohltat. Das weiche Tier darf sich vermittelst ihres sonderbaren Baues nicht einmal auf die Ballen, sondern nur auf die Konvexität der Klaue wie auf Räder des Wagens stützen  und schiebet sich also langsam und gemächlich weiter. Seine sechsundvierzig Rippen, dergleichen kein  andres vierfüßiges Tier hat, sind ein langes Gewölbe  seines Speisemagazins und, wenn ich so sagen darf,  die zu Wirbeln verhärteten Ringe eines fressenden  Blättersacks, einer Raupe.

Genug der Beispiele. Es erhellet, wohin der Begriff  einer Tierseele und eines Tierinstinkts zu setzen sei,  wenn wir der Physiologie und Erfahrung folgen. Jene  nämlich ist die Summe und das Resultat aller in einer Organisation wirkenden lebendigen Kräfte. Dieser  ist die Richtung, die die Natur jenen sämtlichen  Kräften dadurch gab, daß sie sie in eine solche und  keine andre Temperatur stellte, daß sie sie zu diesem und keinem andern Bau organisierte.

 

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