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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried 

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Drittes Buch

IV

Von den Trieben der Tiere

Wir haben über die Triebe der Tiere ein vortreffliches Buch des seligen Reimarus [20] , das, so wie sein  andres über die natürliche Religion, ein bleibendes  Denkmal seines forschenden Geistes und seiner  gründlichen Wahrheitsliebe sein wird. Nach gelehrten und ordnungsvollen Betrachtungen über die mancherlei Arten der tierischen Triebe sucht er dieselbe aus  Vorzügen ihres Mechanismus, ihrer Sinne und ihrer  inneren Empfindung zu erklären, glaubt aber noch,  insonderheit bei den Kunsttrieben, besondere determinierte Naturkräfte und natürlich angeborne Fertigkeiten annehmen zu müssen, die weiter keine Erklärung leiden. Ich glaube das letzte nicht; denn die  Zusammensetzung der ganzen Maschine mit solchen  und keinen andern Kräften, Sinnen, Vorstellungen  und Empfindungen, kurz, die Organisation des Geschöpfs selbst war die gewisseste Richtung, die vollkommenste Determination, die die Natur ihrem Werk eindrücken konnte.

Als der Schöpfer die Pflanze baute und dieselbe  mit solchen Teilen, mit solchen Anziehungs- und Verwandlungskräften des Lichts, der Luft und andrer  feinen Wesen, die sich aus Luft und Wasser zu ihr  drängen, begabte, da er sie endlich in ihr Element  pflanzte, wo jeder Teil die ihm wesentlichen Kräfte  natürlich äußert, so hatte er, dünkt mich, keinen neuen und blinden Trieb zur Vegetation dem Geschöpf anzuschaffen nötig. Jeder Teil mit seiner lebendigen  Kraft tut das Seine, und so wird bei der ganzen Erscheinung das Resultat von Kräften sichtbar, das sich  in solcher und keiner andern Zusammensetzung offenbaren konnte. Wirkende Kräfte der Natur sind alle,  jede in ihrer Art, lebendig: in ihrem Innern muß ein  Etwas sein, das ihren Wirkungen von außen entspricht, wie es auch Leibniz annahm und uns die  ganze Analogie zu lehren scheinet. Daß wir für diesen innern Zustand der Pflanze oder der noch unter ihr  wirkenden Kräfte keinen Namen haben, ist Mangel  unsrer Sprache; denn Empfindung wird allerdings nur von dem innern Zustande gebraucht, den uns das Nervensystem gewähret. Ein dunkles Analogon indessen  mag dasein; und wenn es nicht da wäre, so würde uns  ein neuer Trieb, eine dem Ganzen zugegebne Kraft  der Vegetation nichts lehren.

Zwei Triebe der Natur werden also schon bei der  Pflanze sichtbar, der Trieb der Nahrung und Fortpflanzung; und das Resultat derselben sind Kunstwerke, an welche schwerlich das Geschäft irgendeines lebendigen Kunstinsekts reichet: es ist der Keim und  die Blume. Sobald die Natur die Pflanze oder den  Stein ins Tierreich überführet, zeigt sie uns deutlicher, was es mit den Trieben organischer Kräfte sei. Der  Polyp scheint wie die Pflanze zu blühen und ist Tier;  er sucht und genießet seine Speise tierartig; er treibt  Schößlinge, und es sind lebendige Tiere; er erstattet  sich, wo er sich erstatten kann - das größeste Kunstwerk, das je ein Geschöpf vollführte. Gehet etwas  über die Künstlichkeit eines Schneckenhauses? Die  Zelle der Biene muß ihm nachstehn; das Gespinst der  Raupe und des Seidenwurms muß der künstlichen  Blume weichen. Und wodurch arbeitete die Natur  jenes aus?

Durch innere organische Kräfte, die, noch wenig in  Glieder geteilt, in einem Klumpen lagen und deren  Windungen sich meistens dem Gange der Sonne  gemäß dies regelmäßige Gebilde formten. Teile von  innen heraus gaben die Grundlage her, wie die Spinne den Faden aus ihrem Unterteile ziehet, und die Luft  mußte nur härtere oder gröbere Teile hinzubilden.  Mich dünkt, diese Übergänge lehren uns genugsam,  worauf alle, auch die Kunsttriebe des künstlichsten  Tiers, beruhen; nämlich auf organischen Kräften, die in dieser und keiner andern Masse, nach solchen  und keinen andern Gliedern wirken. Ob mit mehr  oder weniger Empfindung, kommt auf die Nerven des  Geschöpfs an; es gibt aber außer diesen noch regsame Muskelkräfte und Fibern voll wachsenden und sich  wiederherstellenden Pflanzenlebens, welche zwei von  den Nerven unabhängige Gattungen der Kräfte dem  Geschöpf genugsam ersetzen, was ihm an Gehirn und  Nerven abgeht.

Und so führet uns die Natur selbst auf die Kunsttriebe, die man vorzüglich einigen Insekten zu geben  gewohnt ist; aus keiner andern Ursache, als weil uns  ihr Kunstwerk enger ins Auge fällt und wir dasselbe  schon mit unsern Werken vergleichen. Je mehr die  Werkzeuge in einem Geschöpf zerlegt sind, je lebendiger und feiner seine Reize werden, desto weniger  kann es uns fremde dünken, Wirkungen wahrzunehmen, zu denen Tiere von gröberm Bau und von einer  stumpferen Reizbarkeit einzelner Teile nicht mehr  tüchtig sind, soviel andre Vorzüge sie übrigens haben mögen. Eben die Kleinheit des Geschöpfs und seine  Feinheit wirkte zur Kunst, da diese nichts anders sein  kann als das Resultat aller seiner Empfindungen, Tätigkeiten und Reize.

Beispiele werden auch hier das Beste sagen; und  der treue Fleiß eines Swammerdam, Réaumur, Lyonnet, Rösels u. a. haben uns die Beispiele aufs schönste vors Auge gemalet. Das Einspinnen der Raupe,  was ist es anders, als was soviel andre Geschöpfe unkünstlicher tun, indem sie sich häuten? Die Schlange  wirft ihre Haut ab, der Vogel seine Federn, viele  Landtiere ändern ihre Haare; sie verjüngen sich damit  und erstatten ihre Kräfte. Die Raupe verjünget sich  auch, nur auf eine härtere, feinere, künstlichere  Weise; sie streift ihre Dornhülle ab, daß einige ihrer  Füße daran hangenbleiben, und tritt durch langsame  und schnellere Übergänge in einen ganz neuen Zustand. Kräfte hiezu verlieh ihr ihr erstes Lebensalter,  da sie als Raupe nur der Nahrung diente; jetzt soll sie  auch der Erhaltung ihres Geschlechts dienen, und zur  Gestalt hiezu arbeiten ihre Ringe und gebären sich  ihre Glieder. Die Natur hat also bei der Organisation  dieses Geschöpfs Lebensalter und Triebe nur weiter  auseinander gelegt und läßt sich dieselbe in eignen  Übergängen organisch bereiten - dem Geschöpf so  unwillkürlich als der Schlange, wenn sie sich häutet. 

Das Gewebe der Spinne, was ist's anders als der  Spinne verlängertes Selbst, ihren Raub zu erhalten?  Wie der Polyp die Arme ausstreckt, ihn zu fassen, wie sie die Krallen bekam, ihn festzuhalten, so erhielt sie  auch die Warzen, zwischen welchen sie das Gespinst  hervorzieht, den Raub zu erjagen. Sie bekam diesen  Saft ungefähr zu so vielen Gespinsten, als auf ihr  Leben hinreichen, und ist sie darin unglücklich, so  muß sie entweder zu gewaltsamen Mitteln Zuflucht  nehmen oder sterben. Der ihren ganzen Körper und  alle demselben einwohnende Kräfte organisierte, bildete sie also zu diesem Gewebe organisch.

Die Republik der Biene sagt nichts anders. Die verschiedenen Gattungen derselben sind jede zu ihrem  Zwecke gebildet, und sie sind in Gemeinschaft, weil  keine Gattung ohne die andre leben könnte. Die Arbeitsbienen sind zum Honigsammlen und zum Bau  der Zellen organisieret. Sie sammlen jenen, wie jedes  Tier seine Speise sucht, ja wenn es seine Lebensart  fordert, sie sich zum Vorrat zusammenträgt und ordnet. Sie bauen die Zellen, wie soviel andre Tiere sich  ihre Wohnungen bauen, jedes auf seine Weise. Sie  nähren, da sie geschlechtlos sind, die Jungen des Bienenstockes, wie andre ihre eignen Jungen nähren, und  töten die Drohnen, wie jedes Tier ein andres tötet, das ihm seinen Vorrat raubt und seinem Hause zur Last  fällt. Wie dies alles nicht ohne Sinn und Gefühl geschehen kann, so ist es indessen doch nur Bienensinn, Bienengefühl: weder der bloße Mechanismus, den  Buffon, noch die entwickelte mathematisch-politische Vernunft, die andre ihnen angedichtet haben. Ihre  Seele ist in diese Organisation eingeschlossen und mit ihr innig verwebet. Sie wirkt also derselben gemäß:  künstlich und fein, aber enge und in einem sehr kleinen Kreise. Der Bienenstock ist ihre Welt, und das  Geschäft desselben hat der Schöpfer noch durch eine  dreifache Organisation dreifach verteilet.

Auch das Wort Fertigkeit müssen wir uns also  nicht irremachen lassen, wenn wir diese organische  Kunst bei manchen Geschöpfen sogleich nach ihrer  Geburt bemerken. Unsre Fertigkeit entstehet aus  Übungen, die ihrige nicht. Ist ihre Organisation ausgebildet, so sind auch die Kräfte derselben in vollem  Spiel. Wer hat die größeste Fertigkeit auf der Welt?  Der fallende Stein, die blühende Blume: er fällt, sie  blühet ihrer Natur nach. Der Kristall schießt fertiger  und regelmäßiger zusammen, als die Biene bauet und  als die Spinne webet. In jenem ist es nur noch organischer blinder Trieb, der nie fehlen kann; in diesen ist  er schon zum Gebrauch mehrerer Werkzeuge und  Glieder hinauforganisieret, und diese können fehlen.  Das gesunde, mächtige Zusammenstimmen derselben  zu einem Zweck macht Fertigkeit, sobald das ausgebildete Geschöpf da ist.

Wir sehen also auch, warum, je höher die Geschöpfe steigen, der unaufhaltbare Trieb sowie die irrtumfreie Fertigkeit abnehme. Je mehr nämlich das eine  organische Principium der Natur, das wir jetzt bildend, jetzt treibend, jetzt empfindend, jetzt künstlich  bauend nennen und im Grunde nur eine und dieselbe  organische Kraft ist, in mehr Werkzeuge und verschiedenartige Glieder verteilt ist, je mehr es in jedem derselben eine eigne Welt hat, also auch eignen Hindernissen und Irrungen ausgesetzt ist, desto schwächer wird der Trieb desto mehr kömmt er unter den  Befehl der Willkür, mithin auch des Irrtums. Die  verschiednen Empfindungen wollen gegeneinander  gewogen und dann erst miteinander vereinigt sein;  lebe wohl also, hinreißender Instinkt, unfehlbarer  Führer. Der dunkle Reiz, der in einem gewissen Kreise, abgeschlossen von allem andern, eine Art Allwissenheit und Allmacht in sich schloß, ist jetzt in Äste  und Zweige gesondert. Das des Lernens fähige Geschöpf muß lernen, weil es weniger von Natur weiß;  es muß sich üben, weil es weniger von Natur kann; es hat aber auch durch seine Fortrückung, durch die Verfeinerung und Verteilung seiner Kräfte neue Mittel  der Wirksamkeit, mehrere und feinere Werkzeuge erhalten, die Empfindungen gegeneinander zu bestimmen und die bessere zu wählen. Was ihm an Intensität des Triebes abgeht, hat es durch Ausbreitung und feinere Zusammenstimmung ersetzt bekommen, es ist  eines feinern Selbstgenusses, eines freiern und vielfachern Gebrauchs seiner Kräfte und Glieder fähig worden, und alle dies, weil, wenn ich so sagen darf, seine  organische Seele in ihren Werkzeugen vielfacher und  feiner auseinandergelegt ist. Lasset uns einige wunderbar schöne und weise Gesetze dieser allmählichen  Fortbildung der Geschöpfe betrachten, wie der Schöpfer sie Schritt vor Schritt immer mehr an eine Verbindung mehrerer Begriffe oder Gefühle sowie an einen  eignen freiern Gebrauch mehrerer Sinne und Glieder gewöhnte.

 

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