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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zehntes Buch

II

Wo war die Bildungsstätte und der älteste Wohnsitz der Menschen?

Daß er an keinem spät entstandenen Erdrande gewesen sein kann, bedarf keines Erweises, und so treten wir sogleich auf die Höhen der ewigen Urgebirge  und der an sie allmählich gelagerten Länder. Entstanden überall Menschen, wie überall Schalentiere entstanden? Gebar das Mondsgebirge den Neger, wie  etwa die Andes den Amerikaner, der Ural den Asiaten, die europäischen Alpen den Europäer gebaren?  Und hat jedes Hauptgebirge der Welt etwa seinen  eignen Strich der Menschheit? Warum, da jeder Weltteil seine eigne Tierarten hat, die anderswo nicht  leben können und also auf und zu ihm geboren sein  müssen, sollte er nicht auch seine eigne Menschengattung haben? Und wären die verschiednen Nationalbildungen, Sitten und Charaktere, insonderheit die so  unterschiedne Sprachen der Völker, nicht davon Erweise? Jedermann meiner Leser weiß, wie blendend  diese Gründe von mehrern gelehrten und scharfsinnigen Geschichtforschern ausgeführt sind, so daß man's  zuletzt als die gezwungenste Hypothese ansah, daß  die Natur zwar überall Affen und Bären, aber nicht  Menschen habe erschaffen können und also, dem Lauf ihrer andern Wirkungen ganz zuwider, eben ihr zartestes Geschlecht, wenn sie es nur in einem Paar hervorbrachte, durch diese ihr fremde Sparsamkeit tausendfacher Gefahr bloßstellte. »Schauet noch jetzt«,  sagt man, »die vielsamige Natur an, wie sie verschwendet, wie sie nicht nur Pflanzen und Gewächse,  sondern auch Tiere und Menschen in ungezählten  Keimen dem Untergange in den Schoß wirft! Und  eben auf dem Punkt, da das menschliche Geschlecht  zu gründen war, da sollte die gebärende, die in ihrer  jungfräulichen Jugend an Samen aller Wesen und Gestalten so reiche Mutter, die, wie der Bau der Erde  zeigt, Millionen lebendiger Geschöpfe in einer Revolution aufopfern konnte, um neue Geschlechter zu gebären: sie sollte damals an niedern Wesen sich erschöpft und ihr wildes Labyrinth voll Leben mit zwei  schwachen Menschen vollendet haben?« Lasset uns  sehen, wiefern auch diese glänzend-scheinbare Hypothese dem Gange der Kultur und Geschichte unsres  Geschlechts entsprechen oder nach seiner Bildung,  seinem Charakter und Verhältnis zu den andern Lebendigen der Erde bestehen möge.

Zuerst ist's offenbar der Natur entgegen, daß sie  alles Lebendige in gleicher Anzahl oder auf einmal  belebt habe: der Bau der Erde und die innere Beschaffenheit der Geschöpfe selbst macht dies unmöglich.  Elefanten und Würmer, Löwen und Infusionstiere  sind nicht in gleicher Zahl da; sie konnten auch uranfangs ihrem Wesen nach weder in gleichem Verhältnis noch auf einmal erschaffen werden. Millionen Muschelgeschöpfe mußten untergehen, ehe auf unserm  Erdenfels Gartenbeete zu feinerm Leben wurden; eine  Welt von Pflanzen geht jährlich unter, damit sie höheren Wesen das Leben nähre. Wenn man also auch von den Endursachen der Schöpfung ganz abstrahieret, so  lag es schon im Stoff der Natur selbst, daß sie aus  vielem ein Eins machen und durch das kreisende Rad  der Schöpfung Zahlloses zerstören mußte, damit sie  ein Minderes, aber Edleres belebte. So fuhr sie von  unten hinauf, und indem sie allenthalben gnug des Samens nachließ, Geschlechter, die sie dauren lassen  wollte, zu erhalten, bahnte sie sich den Weg zu auserlesneren, feinern, höheren Geschlechtern. Sollte der  Mensch die Krone der Schöpfung sein, so konnte er  mit dem Fisch oder dem Meerschleim nicht eine  Masse, einen Tag der Geburt, einen Ort und Aufenthalt haben. Sein Blut sollte kein Wasser werden; die  Lebenswärme der Natur mußte also so weit hinaufgeläutert, so fein essentiiert sein, daß sie Menschenblut  rötete. Alle seine Gefäße und Fibern, sein Knochengebäude selbst sollte von dem feinsten Ton gebildet  werden, und da die Allmächtige nie ohne zweite Ursachen handelt, so mußte sie sich dazu den Stoff in die  Hand gearbeitet haben. Selbst die gröbere Tierschöpfung war sie durchgangen; wie und wenn jedes entstehen konnte, entstand es; durch alle Pforten drangen  die Kräfte und arbeiteten sich zum Leben. Das Ammonshorn war eher da als der Fisch; die Pflanze ging  dem Tier voran, das ohne sie auch nicht leben konnte; der Krokodil und Kaiman schlich eher daher, als der  weise Elefant Kräuter las und seinen Rüssel schwenkte. Die fleischfressenden Tiere setzten eine zahlreiche, schon sehr vermehrte Familie derer voraus, von denen sie sich nähren sollten; sie konnten also auch mit diesen nicht auf einmal und in gleicher Anzahl da sein.  Der Mensch also, wenn er der Bewohner der Erde und ein Gebieter der Schöpfung sein sollte, mußte sein  Reich und Wohnhaus fertig finden; notwendig mußte  er also auch spät und in geringerer Anzahl erscheinen  als die, so er beherrschen sollte. Hätte die Natur aus  dem Stoff ihrer Werkstätte auf Erden etwas Höheres,  Reineres und Schöneres, als der Mensch ist, hervorbringen können, warum sollte sie es nicht getan  haben? Und daß sie es nicht getan hat, zeigt, daß sie  mit dem Menschen die Werkstätte schloß und ihre  Gebilde, die sie im Boden des Meers mit dem reichsten Überfluß angefangen hatte, jetzt in der erlesensten Sparsamkeit vollführte. »Gott schuf den Menschen«, sagt die älteste schriftliche Tradition der Völker, »in seinem Gebilde; ein Gleichnis Gottes schuf er in ihm, einen Mann und ein Weib, nach dem Unzähligen, das er geschaffen hatte, die kleinste Zahl; da ruhete er und schuf nicht fürder.« Die lebendige Pyramide war hier bei ihrem Gipfel vollendet.

Wo konnte dieser Gipfel nun stattfinden? Wo erzeugte sich die Perle der vollendeten Erde? Notwendig im Mittelpunkt der regsten organischen Kräfte,  wo, wenn ich so sagen darf, die Schöpfung am weitsten gediehen, am längsten und feinsten ausgearbeitet  war; und wo war dieses, als etwa in Asien, wie schon  der Bau der Erde mutmaßlich saget. In Asien nämlich  hatte unsre Kugel jene große und weite Höhe, die, nie  vom Wasser bedeckt, ihren Felsenrücken in die Länge und Breite vielarmig hinzog. Hier also war die meiste  Anziehung wirkender Kräfte, hier rieb und kreisete  sich der elektrische Strom, hier setzten sich die Materien des fruchtreichen Chaos in größester Fülle nieder. Um diese Gebirge entstand der größeste Weltteil, wie seine Gestalt zeiget; auf und an diesen Gebirgen lebt  die größeste Menge aller Arten lebendiger Tierschöpfung, die wahrscheinlich hier schon streiften  und ihres Daseins sich freuten, als andre Erdstrecken  noch unter dem Wasser lagen und kaum mit Wäldern  oder mit nackten Bergspitzen emporblickten. Der  Berg, den Linneus [157] sich als das Gebirge der  Schöpfung gedacht hat, ist in der Natur; nur nicht als  Berg, sondern als ein weites Amphitheater, ein Stern  von Gebirgen, die ihre Arme in mancherlei Klimate  verteilen. »Ich muß anmerken«, sagt Pallas [158], »daß  alle Tiere, die in den Nord- und Südländern zahm geworden sind, sich in dem gemäßigten Klima der Mitte Asiens wild finden (den Dromedar ausgenommen,  dessen beide Arten nicht wohl außerhalb Afrika fortkommen und sich schwer an das Klima von Asien gewöhnen). Der Stammort des wilden Ochsen, des Büffels, des Mufflon, von welchem unsre Schafe kommen, des Bezoartiers und des Steinbocks, aus deren  Vermischung die so fruchtbare Rasse unsrer zahmen  Ziegen entstanden ist, finden sich in den gebirgigen  Ketten, die das mittlere Asien und einen Teil von Europa einnehmen. Das Renntier ist auf den hohen Bergen, die Siberien begrenzen und sein östliches Ende  bedecken, häufig und dient daselbst als Last- und  Zugvieh. Auch findet es sich auf der uralischen Kette  und hat von da aus die nordischen Länder besetzt.  Das Kamel mit zwei Buckeln findet sich wild in den  großen Wüsten zwischen Tibet und China. Das wilde  Schwein hält sich in den Wäldern und Morästen des  ganzen gemäßigten Asiens auf. Die wilde Katze, von  der unsre Hauskatze abstammet, ist bekannt genug.  Endlich stammt die Hauptrasse unsrer Haushunde zuverlässig vom Schakal her, ob ich dieselbe gleich  nicht für ganz unverfälscht halte, sondern glaube, daß  sie sich vor undenklicher Zeit mit dem gemeinen  Wolf, dem Fuchs und selbst mit der Hyäne vermischt  habe, welches die ungemeine Verschiedenheit der Gestalt und Größe der Hunde verursacht hat« u. f. So  Pallas. Und wem ist der Reichtum Asiens, insonderheit seiner mittägigen Länder, an Naturprodukten unbekannt? Es ist, als ob um diese erhabenste Höhe der  Welt sich nicht nur das breitste, sondern auch das  reichste Land gesetzt habe, das von Anfange her die  meiste organische Wärme in sich gezogen. Die weisesten Elefanten, die klügsten Affen, die lebhaftesten  Tiere nährt Asien; ja vielleicht hat es, seines Verfalls  ungeachtet, der genetischen Anlage nach die geistreichsten und erhabensten Menschen.

Wie aber die andern Weltteile? Daß Europa sowohl an Menschen als Tieren meistens aus Asien besetzt sei und wahrscheinlich einem großen Teil nach  noch mit Wasser oder mit Wald und Morästen bedeckt gewesen, als das höhere Asien schon kultiviert  war, ist sogar aus der Geschichte erweislich. Das innere Afrika kennen wir zwar noch wenig; die Höhe  und Gestalt seines mittleren Bergrückens insonderheit ist uns ganz fremde; indessen wird aus mehreren  Gründen wahrscheinlich, daß dieser wasserarme und  große Strecken hinein niedrige Weltteil mit seinem  Erdrücken schwerlich an die Höhe und Breite Asiens  reiche. Auch er ist also vielleicht länger bedeckt gewesen; und obwohl der warme Erdgürtel sowohl der  Pflanzen- als Tierschöpfung daselbst ein eignes kräftiges Gepräge nicht versagte, so scheinet es doch, daß Afrika und Europa nur wie Kinder sind, an den Schoß der Mutter, Asien, gelehnet. Die meisten Tiere haben  diese drei Weltteile gemein und sind im ganzen nur  ein Weltteil.

Amerika endlich: sowohl der Strich seiner steilen,  unbewohnbar-hohen Gebirge als deren noch tobende  Vulkane und ihnen zu Füßen das niedrige, in großen  Strecken meerflache Land samt der lebendigen Schöpfung desselben, die sich vorzüglich in der Vegetation, den Amphibien, Insekten, Vögeln und dagegen in weniger Gattungen vollkommner und so lebhafter Land- tiere freuet, als in denen sich die Alte Welt fühlet: alle diese Gründe, zu denen die junge und rohe Verfassung seiner gesamten Völkerschaften mitgehöret, machen diesen Weltteil schwerlich als den ältestbewohnten kennbar. Vielmehr ist er, gegen die andre Erdhälfte betrachtet, dem Naturforscher ein reiches Problem der Verschiedenheit zweier entgegengesetzten  Hemisphäre. Schwerlich also dürfte auch das schöne  Tal Quito der Geburtsort eines ursprünglichen Menschenpaars gewesen sein, so gern ich ihm und den  Mondgebirgen Afrikas die Ehre gönne und niemanden widersprechen mag, der hiezu Beweistümer  fände.

Aber genug der bloßen Mutmaßungen, die ich nicht  dazu gemißbraucht wünsche, daß man dem Allmächtigen die Kraft und den Stoff, Menschen, wo er will,  zu schaffen, abspräche. Die Stimme, die allenthalben  Meer und Land mit eignen Bewohnern bepflanzte,  konnte auch jedem Weltteil seine eingebornen Beherrscher geben, wenn sie es für gut fand. Ließe sich nicht aber in dem bisher entwickelten Charakter der  Menschheit die Ursache finden, warum sie es nicht  beliebte? Wir sahen, daß die Vernunft und Humanität der Menschen von Erziehung, Sprache und Tradition  abhange und daß unser Geschlecht hierin völlig vom  Tier unterschieden sei, das seinen unfehlbaren Instinkt auf die Welt mitbringt. Ist dies, so konnte, schon seinem spezifischen Charakter nach, der Mensch nicht  Tieren gleich überall in die wilde Wüste geworfen  werden. Der Baum, der allenthalben nur künstlich  fortkommen konnte, sollte vielmehr aus einer Wurzel  an einem Ort wachsen, wo er am besten gedeihen, wo  der, der ihn gepflanzt hatte, ihn selbst warten konnte.  Das Menschengeschlecht, das zur Humanität bestimmt war, sollte von seinem Ursprunge an ein Brudergeschlecht aus einem Blut, am Leitbande einer bildenden Tradition werden, und so entstand das Ganze,  wie noch jetzt jede Familie entspringt, Zweige von  einem Stamm, Sprossen aus einem ursprünglichen  Garten. Mich dünkt, jedem, der das Charakteristische  unsrer Natur, die Beschaffenheit und Art unsrer  Vernunft, die Weise, wie wir zu Begriffen kommen  und die Humanität in uns bilden, erwägt, ihm müsse  dieser auszeichnende Plan Gottes über unser Geschlecht, der uns auch dem Ursprunge nach vom Tier  unterscheidet, als der angemessenste, schönste und  würdigste erscheinen. Mit diesem Entwurf wurden wir Lieblinge der Natur, die sie als Früchte ihres reifsten  Fleißes oder, wenn man will, als Söhne ihres hohen  Alters auf der Stelle hervorbrachte, die sich am besten für diese zarten Spätlinge geziemte. Hier erzog sie  solche mit mütterlicher Hand und hatte um sie gelegt,  was vom ersten Anfange an die Bildung ihren künstlichen Menschencharakters erleichtern konnte. So wie  nur eine Menschenvernunft auf der Erde möglich war  und die Natur daher auch nur eine Gattung vernunftfähiger Geschöpfe hervorbrachte, so ließ sie diese  Vernunftfähigen auch in einer Schule der Sprache und Tradition erzogen werden und übernahm selbst diese  Erziehung durch eine Folge von Generationen aus  einem Ursprung.

 

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