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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zehntes Buch

III

Der Gang der Kultur und Geschichte gibt historische Beweise, daß das Menschengeschlecht in Asien entstanden sei

Alle Völker Europens, woher sind sie? Aus Asien.  Von den meisten wissen wir's gewiß: wir kennen den  Ursprung der Lappen, der Finnen, der Germanier und  Goten, der Gallier, Slawen, Kelten, Cimbern u. f.  Teils aus ihren Sprachen oder Sprachresten, teils aus  Nachrichten ihrer alten Sitze können wir sie ziemlich  weit ans Schwarze Meer oder in die Tatarei verfolgen, wo zum Teil noch ihre Sprachreste leben. Von der  Abkunft anderer Völker wissen wir weniger, weil wir  die älteste Geschichte derselben weniger kennen; denn bloß die Unkunde voriger Zeiten macht Autochthonen. Ein seltnes Verdienst um die Menschheit wäre  es, wenn der sprachgelehrteste Geschichtsforscher der  alten und neuen Völker, Büttner, uns die Schätze seiner zusammenhaltenden Belesenheit auftäte und, wie  er's tun könnte, einer Reihe von Völkern ihren ihnen  selbst unbekannten Stammbaum gäbe. [159]

Die Abkunft der Afrikaner und Amerikaner ist uns  freilich dunkler; soweit wir aber den obern Rand des  erstgenannten Weltteils kennen und die ältesten  Traditionen über ihn zusammenhalten, ist er asiatisch. Weiter hinab müssen wir uns begnügen, in der Negergestalt und Farbe wenigstens nichts Widersprechendes gegen diese Abkunft, vielmehr ein fortgehendes  Gemälde klimatischer Nationalbildungen zu finden,  wie das sechste Buch dieser Schrift zu zeigen versucht hat. Ein gleiches ist's mit dem später bevölkerten  Amerika, dessen Bepflanzung aus dem östlichen  Asien schon der einförmige Anblick der Völker wahrscheinlich machte.

Mehr als die Bildungen aber sagen uns die Sprachen der Völker; und wo auf der ganzen Erde gibt es  die ältest-kultivierten Sprachen? In Asien Wollt ihr  das Wunderding sehen, daß Völker Tausende von  Meilen hin in die Länge und Breite lauter einsilbige  Sprachen reden, sehet nach Asien. Die Strecke jenseit  des Ganges, Tibet und Sina, Pegu, Ava, Arrakan und  Brema, Tonquin, Laos, Koschin-Sina, Kambodscha  und Siam sprechen lauter unbiegsam-einsilbige  Worte. Wahrscheinlich hat die frühe Regel ihrer  Sprachkultur und Schrift sie dabei erhalten; denn in  dieser Ecke Asiens sind die ältesten Einrichtungen  beinah in allem unverändert geblieben. Wollet ihr  Sprachen, deren großer, fast überfließender Reichtum  auf sehr wenige Wurzeln zusammengeht, so daß sie  mit einer sonderbaren Regelmäßigkeit und dem fast  kindischen Kunstwerk, durch eine kleine Veränderung des Stammworts einen neuen Begriff zu sagen, Mannigfaltigkeit und Armut verbinden, so sehet den Umfang Südasiens von Indien bis nach Syrien, Arabien  und Äthiopien hin. Die bengalische Sprache hat 700  Wurzeln, gleichsam die Elemente der Vernunft, aus  denen sie Zeitwörter, Nennwörter und alle andre Redeteile bildet. Die ebräische und die ihr verwandten  Sprachen, so ganz andrer Art sie sind, erregen Erstaunen, wenn man ihren Bau selbst noch in den ältesten  Schriften betrachtet. Alle ihre Worte gehen an Wurzeln von drei Buchstaben zusammen, die anfangs  vielleicht auch einsilbig waren, nachher aber, wahrscheinlich durch das ihnen eigne Buchstabenalphabet, frühzeitig in diese Form gebracht wurden und in ihr  vermittelst sehr einfacher Zusätze und Biegungen die  ganze Sprache bauten. Ein unermeßlicher Reichtum  von Begriffen geht z. B. in der fortgebildeten arabischen Sprache an wenige Wurzeln zusammen, so daß  das Flickwerk der meisten europäischen Sprachen mit ihren unnützen Hülfsworten und langweiligen Flexionen sich nie mehr verrät, als wenn man sie mit den  Sprachen Asiens wergleichet. Daher fallen diese auch, je älter sie sind, dem Europäer zu lernen schwer; denn er muß den nutzlosen Reichtum seiner Zunge aufgeben und kommt in ihnen wie zu einer feindurchdachten, leisegeregelten Hieroglyphik der unsichtbaren  Gedankensprache.

Das gewisseste Zeichen der Kultur einer Sprache  ist ihre Schrift: je älter, künstlicher, durchdachter  diese war, desto mehr ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht etwa die Scythen ausnäh- me, die auch ein asiatisches Volk waren, keine  europäische Nation sich eines selbsterfundenen Alphabets rühmen; sie stehen hierin als Barbaren den  Negern und Amerikanern zur Seite. Asien allein hatte  Schrift, und zwar schon in den ältesten Zeiten. Die  erste gebildete Nation Europas, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von einem Morgenländer, und daß  alle andre Buchstabencharaktere der Europäer abgeleitete oder verdorbne Züge der Griechend sind, zeigen die Büttnerschen Tafeln. [160] Auch der Ägypter  älteste Buchstabenschrift auf ihren Mumien ist phönicisch und so wie das koptische Alphabet verdorben-griechisch ist. Unter den Negern und Amerikanern ist an keine selbsterfundene Schrift zu gedenken; denn unter diesen stiegen die Mexikaner über ihre  rohen Hieroglyphen und die Peruaner über ihre Knotenstricke nicht auf. Asien dagegen hat die Schrift in  Buchstaben und Kunsthieroglyphen gleichsam erschöpfet, so daß man unter seinen Schriftzügen beinah alle Gattungen findet, wie die Rede der Menschen gefesselt werden konnte. Die bengalische Sprache hat  50 Buchstaben und 12 Vokale; die sinesische hat aus  ihrem Walde von Zügen nicht minder als 112 zu  Lautbuchstaben und 36 zu Mitlautern erwählet. So  geht es durch die tibetanische, singalesische, marattische, mandschurische Alphabete sogar mit verschiednen Richtungen der Zeichen. Einige der asiatischen  Schriftarten sind offenbar so alt, daß man bemerkt,  wie sich die Sprache selbst mit und zu ihnen gebildet  habe; und die einfach-schöne Schrift auf den Ruinen  von Persepolis verstehen wir noch gar nicht.

Treten wir von dem Werkzeuge der Kultur zur Kultur selbst: wo wäre dieselbe früher entstanden, ja, wo  hätte sie früher entstehen können als in Asien? von da sie sich auf bekannten Wegen weiter umhergebreitet.  Die Herrschaft über die Tiere war dazu einer der ersten Schritte, und sie steigt in diesem Weltteil über  alle Revolutionen der Geschichte hinauf. Nicht nur,  daß, wie wir gesehen haben, dies Urgebirge der Welt  die meisten und zähmbarsten Tiere hatte, die Gesellschaft der Menschen hat dieselben auch so frühe gezähmet, daß unsre nutzbarsten Tiergeschlechter,  Schaf, Hund und Ziege, gleichsam nur aus dieser Bezähmung entstanden und eigentlich also neue Tiergattungen der asiatischen Kunst sind. Will man sich in  den Mittelpunkt der Verteilung gezähmter Tiere stellen, so trete man auf die Höhe von Asien; je entfernter von ihm (im Großen der Natur gerechnet), desto minder gezähmte Tiere. In Asien bis auf seine Süd-Inseln  ist alles voll derselben; in Neuguinea und Neuseeland  fand sich nur der Hund und das Schwein, in Neukaledonien der Hund allein, und in dem ganzen weiten  Amerika waren das Guaniko und Lacma die einzigen  gezähmten Tiere. Auch sind die besten Gattungen  derselben in Asien und Afrika von der schönsten,  edelsten Art. Der Dschiggetai und das arabische  Pferd, der wilde und zahme Esel, der Argali und das  Schaf? der wilde Bock und die Angoraziege sind der  Stolz ihres Geschlechts; der klügste Elefant ist in  Asien von frühen Zeiten an aufs künstlichste gebrauchet, und das Kamel war diesem Weltteil unentbehrlich. In der Schönheit einiger dieser Tiere tritt Afrika  zunächst an Asiens Seite; im Gebrauch derselben aber stehet's ihm noch jetzt weit nach. Alle seine gezähmten Tiere hat Europa Asien zu danken; was unserm  Weltteil eigen ist, sind 15 bis 16 Arten, größtenteils  Mäuse und Fledermäuse. [161]

Mit der Kultur der Erde und ihrer Gewächse war's  nicht anders, da ein großer Teil von Europa noch in  sehr späten Zeiten ein Wald war und seine Einwohner, wenn sie von Vegetabilien leben sollten, wohl  nicht anders als mit Wurzeln und wilden Kräutern,  mit Eicheln und Holzäpfeln nähren konnte. In manchen Erdstrichen Asiens, von denen wir reden, wächst das Getreide wild, und der Ackerbau ist in ihm von  undenklichem Alter. Die schönsten Früchte der Erde,  den Weinstock und die Olive, Zitronen und Feigen,  Pomeranzen und alle unser Obst. Kastanien, Mandeln, Nüsse u. f. hat Asien zuerst nach Griechenland  und Afrika, sodann fernerhin verpflanzet; einige andere Gewächse hat uns Amerika gegeben, und bei den  meisten wissen wir sogar den Ort der Herkunft sowie  die Zeit der Wanderung und Verpflanzung. Also auch diese Geschenke der Natur waren dem Menschengeschlecht nicht anders als durch den Weg der Tradition beschieden. Amerika bauete keinen Wein; auch in  Afrika haben ihn nur europäische Hände gepflanzet. Daß Wissenschaften und Künste zuerst in Asien  und seinem Grenzlande Ägypten gepflegt sind, bedarf keiner weitläuftigen Erweise; Denkmale und die Geschichte der Völker sagen es, und Goguets [162] zeugnisführendes Werk ist in aller Händen. Nützliche und  schöne Künste hat dieser Weltteil, hie oder da, allenthalben aber nach seinem ausgezeichneten asiatischen  Geschmack frühe getrieben, wie die Ruinen Persepolis und der indischen Tempel, die Pyramiden Ägyptens und soviel andre Werke, von denen wir Reste  oder Sagen haben, beweisen; fast alle reichen sie weit  über die europäische Kultur hinaus und haben in Afrika und Amerika nichts ihresgleichen. Die hohe Poesie mehrerer südasiatischen Völker ist weltbekannt [163],  und je älter hinauf, desto mehr erscheint sie in einer  Würde und Einfalt, die durch sich selbst den Namen  der Göttlichen verdienet. Welcher scharfsinnige  Gedanke, ja, ich möchte sagen, welche dichterische  Hypothese ist in eines späten Abendländers Seele gekommen, zu welcher sich nicht der Keim in eines früheren Morgenländers Ausspruch oder Einkleidung  fände, sobald nur irgend der Anlaß dazu in seinem  Gesichtskreise lag? Der Handel der Asiaten ist der älteste auf der Erde, und die wichtigsten Erfindungen  darin sind die ihre. So auch die Astronomie und Zeitrechnung; wer ist, der auch ohne die mindeste Teilnehmung an Baillys Hypothesen nicht über die frühe  und weite Verbreitung mancher astronomischen Bemerkungen, Einteilungen und Handgriffe erstaunte,  die man den ältesten Völkern Asiens schwerlich ableugnen könnte? [164] Es ist, als ob ihre ältesten Weisen vorzüglich die Weisen des Himmels, Bemerker  der stille fortschreitenden Zeit gewesen, wie denn  auch noch jetzt, im tiefen Verfall mancher Nationen,  dieser rechnende, zählende Geist unter ihnen seine  Wirkung äußert. [165] Der Bramin rechnet ungeheure  Summen im Gedächtnis; die Einteilungen der Zeit  sind ihm vom kleinsten Maß bis zu großen Himmelsrevolutionen gegenwärtig, und er trügt sich, ohne alle  europäische Hilfsmittel, darin nur wenig. Die Vorwelt hat ihm in Formeln hinterlassen, was er jetzt nur  anwendet; denn auch unsre Jahrrechnung ist ja asiatisch, unsre Ziffern und Sternbilder sind ägyptischen  oder indischen Ursprungs.

Wenn endlich die Regierungsformen die schwerste  Kunst der Kultur sind, wo hat es die älteste, größeste  Monarchien gegeben? Wo haben die Reiche der Welt  den festesten Bau gefunden? Seit Jahrtausenden behauptet Sina noch seine alte Verfassung, und ohngeachtet das unkriegerische Volk von tatarischen Horden mehrmals überschwemmt worden, so haben die  Besiegten dennoch immer die Sieger bezähmt und sie  in die Fesseln ihrer alten Verfassung geschmiedet.  Welche Regierungsform Europens könnte sich dessen rühmen? Auf den tibetanischen Bergen herrscht die  älteste Hierokratie der Erde, und die Kasten der Hindus verraten durch die eingewurzelte Macht, die dem  sanftesten Volk seit Jahrtausenden zur Natur geworden ist, ihre uralte Einrichtung. Am Euphrat und Tigris sowie am Nilstrom und an den medischen Bergen greifen schon in den ältesten Zeiten gebildete kriegerische oder friedliche Monarchien in die Geschichte der westlichen Völker; sogar auf den tatarischen Höhen  hat sich die ungebundne Freiheit der Horden mit  einem Despotismus der Khane zusammengewebt, der  manchen europäischen Regierungsformen die Grundlage gegeben. Von allen Seiten der Welt, je mehr man sich Asien nahet, desto mehr nahet man festgegründeten Reichen, deren unumschränkte Gewalt seit Jahrtausenden sich in die Denkart der Völker so eingeprägt, daß der König von Siam über eine Nation, die  keinen König hätte, als über eine hauptlose Mißgeburt lachte. In Afrika sind die festesten Despotien  Asien nahe; je weiter hinab, desto mehr ist die Tyrannei noch im rohen Zustande, bis sie sich endlich unter den Kaffern in den patriarchalischen Hirtenzustand  verlieret. Auf dem südlichen Meer, je näher Asien,  desto mehr sind Künste, Handwerke, Pracht und der  Gemahl der Pracht, der königliche Despotismus, in  alter Übung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent- legnen Inseln, in Amerika oder gar am dürren Rande  der Südwelt, kommt in einem rohern Zustande die  einfachere Verfassung des Menschengeschlechts, die  Freiheit der Stämme und Familien wieder, so daß einige Geschichtforscher selbst die beiden Monarchien  Amerikas, Mexiko und Peru, aus der Nachbarschaft  despotischer Reiche Asiens hergeleitet haben. Der  ganze Anblick des Weltteils verrät also, zumal um die Gebirge, die älteste Bewohnung, und die Traditionen  dieser Völker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie bekannt ist, in die Jahrtausende der  Vorwelt. Alle Sagen der Europäer und Afrikaner (bei  welchen ich immer Ägypten ausnehme), noch mehr  der Amerikaner und der westlichen Südsee-Inseln  sind nichts als verlorne Bruchstücke junger Märchen  gegen jene Riesengebäude alter Kosmogonien in Indien, Tibet, dem alten Chaldäa und selbst dem niedrigern Ägypten: zerstreute Laute der verirreten Echo  gegen die Stimme der asiatischen Urwelt, die sich in  die Fabel verlieret.

Wie also, wenn wir dieser Stimme nachgingen und, da die Menschheit kein Mittel der Bildung als die  Tradition hat, diese bis zum Urquell zu verfolgen  suchten? Freilich ein trüglicher Weg, wie wenn man  dem Regenbogen und der Echo nachliefe; denn sowenig ein Kind, ob es gleich bei seiner Geburt war, dieselbe zu erzählen weiß, sowenig dürfen wir hoffen,  daß uns das Menschengeschlecht von seiner Schöpfung und ersten Lehre, von der Erfindung der Sprache und seinem ersten Wohnsitz historisch strenge Nachrichten zu geben vermöge. Indessen erinnert sich doch ein Kind aus seiner späteren Jugend wenigstens einige Züge; und wenn mehrere Kinder, die zusammen erzogen, hernach getrennt wurden, dasselbe oder ein ähnliches erzählen, warum sollte man sie nicht hören,  warum nicht über das, was sie sagen oder zurückträumen, wenigstens nachsinnen wollen, zumal wenn man keine andern Dokumente haben könnte. Und da es der unverkennbare Entwurf der Vorsehung ist, Menschen  durch Menschen, d. i. durch eine fortwirkende Tradition, zu lehren, so lasset uns nicht zweifeln, daß sie uns auch hierin soviel werde gegönnet haben, als wir zu  wissen bedürfen.

 

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