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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Dreizehntes Buch

VII

Allgemeine Betrachtungen über die Geschichte Griechenlandes

Wir haben die Geschichte dieses merkwürdigen Erdstrichs von mehreren Seiten betrachtet, weil sie zur Philosophie der Geschichte gewissermaßen ein einziges Datum ist unter allen Völkern der Erde. Nicht nur sind die Griechen von der Zumischung fremder Nationen befreit und in ihrer ganzen Bildung sich eigen geblieben, sondern sie haben auch ihre Perioden so ganz durchlebt und von den kleinsten Anfängen der Bildung die ganze Laufbahn derselben so vollständig durchschritten als sonst kein anderes Volk der Geschichte. Entweder sind die Nationen des festen Landes bei den ersten Anfängen der Kultur stehengeblieben und haben solche in Gesetzen und Gebräuchen unnatürlich verewigt, oder sie wurden, ehe sie sich auslebten, eine Beute der Eroberung: die Blume wurde abgemäht, ehe sie zum Flor kam. Dagegen genoß Griechenland ganz seiner Zeiten; es bildete an sich aus, was es ausbilden konnte, zu welcher Vollkommenheit ihm abermals das Glück seiner Umstände half. Auf dem festen Lande wäre es gewiß bald die Beute eines Eroberers worden, wie seine asiatischen Brüder; hätten Darius und Xerxes ihre Absichten an ihm erreicht, so wäre keine Zeit des Perikles erschienen. Oder hätte ein Despot über die Griechen geherrscht, er wäre nach dem Geschmack aller Despoten bald selbst ein Eroberer worden und hätte, wie Alexander es tat, mit dem Blut seiner Griechen ferne Flüsse gefärbet. Auswärtige Völker wären in ihr Land gemischt, sie in auswärtigen Ländern sieghaft umhergestreut worden u. f. Gegen das alles schützte sie nun ihre mäßige Macht, selbst ihr eingeschränkter Handel, der sich nie über die Säulen Herkules' und des Glückes hinausgewaget. Wie also der Naturlehrer seine Pflanze nur dann vollständig betrachten kann, wenn er sie von ihrem Samen und Keim aus bis zur Blüte und Abblüte kennt, so wäre uns die griechische Geschichte eine solche Pflanze; schade nur, daß nach dem gewohnten Gange dieselbe bisher noch lange nicht wie die römische ist bearbeitet worden. Meines Orts ist's jetzo, aus dem, was gesagt worden, einige Gesichtspunkte auszuzeichnen, die aus diesem wichtigen Beitrage für die gesamte Menschengeschichte dem Auge des Betrachters zunächst vorliegen; und da wiederhole ich zuerst den großen Grundsatz:

Erstlich. Was im Reich der Menschheit nach dem Umfange gegebner National-, Zeit- und Ortumstände geschehen kann, geschieht in ihm wirklich; Griechenland gibt hievon die reichsten und schönsten Erweise.

In der physischen Natur zählen wir nie auf Wunder: wir bemerken Gesetze, die wir allenthalben gleich wirksam, unwandelbar und regelmäßig finden; wie? und das Reich der Menschheit mit seinen Kräften, Veränderungen und Leidenschaften sollte sich dieser Naturkette entwinden? Setzt Sinesen nach Griechenland, und es wäre unser Griechenland nie entstanden; setzt unsere Griechen dahin, wohin Darius die gefangenen Eretrier führte, sie werden kein Sparta und Athen bilden. Betrachtet Griechenland jetzt; ihr findet die alten Griechen, ja oft ihr Land nicht mehr. Sprächen sie nicht noch einen Rest ihrer Sprache, säht ihr nicht noch Trümmern ihrer Denkart, ihrer Kunst, ihrer Städte oder wenigstens ihrer alten Flüsse und Berge, so müßtet ihr glauben, das alte Griechenland sei euch als eine Insel der Kalypso oder des Alkinous vorgedichtet worden. Wie nun diese neuern Griechen nur durch die Zeitfolge in einer gegebenen Reihe von Ursachen und Wirkungen das worden sind, was sie wurden, nicht minder jene alten, nicht minder jede Nation der Erde. Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit.

So einfach dieser Grundsatz ist, so aufklärend und nützlich wird er in Behandlung der Geschichte der Völker. Jeder Geschichtforscher ist mit mir einig, daß ein nutzloses Anstaunen und Lernen derselben den Namen der Geschichte nicht verdiene; und ist dies, so muß bei jeder ihrer Erscheinungen, wie bei einer Naturbegebenheit, der überlegende Verstand mit seiner ganzen Schärfe wirken. Im Erzählen der Geschichte wird dieser also die größeste Wahrheit, im Fassen und Beurteilen den vollständigsten Zusammenhang suchen und nie eine Sache, die ist oder geschieht, durch eine andere, die nicht ist, zu erklären streben. Mit diesem strengen Grundsatz verschwinden alle Ideale, alle Phantome eines Zauberfeldes; überall sucht man, rein zu sehen, was da ist, und sobald man dies sah, fällt meistens auch die Ursache in die Augen, warum es nicht anders als also sein konnte. Sobald das Gemüt an der Geschichte sich diese Gewohnheit eigen gemacht hat, hat es den Weg der gesunderen Philosophie gefunden, den es außer der Naturgeschichte und Mathematik schwerlich anderswo finden konnte.

Eben dieser Philosophie zufolge werden wir uns also zuerst und vorzüglich hüten, den Taterscheinungen der Geschichte verborgne einzelne Absichten eines uns unbekannten Entwurfs der Dinge oder gar die magische Einwirkung unsichtbarer Dämonen anzudichten, deren Namen man bei Naturerscheinungen auch nur zu nennen sich nicht getraute. Das Schicksal offenbart seine Absichten durch das, was geschieht und wie es geschieht; also entwickelt der Betrachter der Geschichte diese Absichten bloß aus dem, was da ist und sich in seinem ganzen Umfange zeigt. Warum waren die aufgeklärten Griechen in der Welt? Weil sie da waren und unter solchen Umständen nicht anders als aufgeklärte Griechen sein konnten. Warum zog Alexander nach Indien? Weil er Philipps Sohn Alexander war und nach den Anstalten seines Vaters, nach den Taten seiner Nation, nach seinem Alter und Charakter, nach seinem Lesen Homers u. f. nichts Bessers zu tun wußte. Legten wir seinem raschen Entschluß verborgene Absichten einer höheren Macht und seinen kühnen Taten eine eigne Glücksgöttin unter, so liefen wir Gefahr, dort seine schwärzesten Unbesonnenheiten zu göttlichen Endzwecken zu machen, hier seinen persönlichen Mut und seine Kriegsklugheit zu schmälern, überall aber der ganzen Begebenheit ihre natürliche Gestalt zu rauben. Wer in der Naturgeschichte den Feenglauben hätte, daß unsichtbare Geister die Rose schminken oder den silbernen Tau in ihren Kelch tröpfeln; wer den Glauben hätte, daß kleine Lichtgeister den Leib des Nachtwurms zu ihrer Hülle nehmen oder auf dem Schweif des Pfauen spielen, der mag ein sinnreicher Dichter sein, nie wird er als Natur- oder als Geschichtforscher glänzen. Geschichte ist die Wissenschaft dessen, was da ist, nicht dessen, was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wohl sein könnte.

Zweitens. Was von einem Volk gilt, gilt auch von der Verbindung mehrerer Völker untereinander: sie stehen zusammen, wie Zeit und Ort sie band; sie wirken aufeinander, wie der Zusammenhang lebendiger Kräfte es bewirkte.

Auf die Griechen haben Asiaten und sie auf jene zurückgewirkt. Römer, Goten, Türken, Christen übermanneten sie, und Römer, Goten, Christen haben von ihnen mancherlei Mittel der Aufklärung erhalten; wie hangen diese Dinge zusammen? Durch Ort, Zeit und die natürliche Wirkung lebendiger Kräfte. Die Phönicier brachten ihnen Buchstaben; sie hatten aber diese Buchstaben nicht für sie erfunden; sie brachten ihnen solche, weil sie eine Kolonie zu ihnen schickten. So war's mit den Hellenen und Ägyptern, so mit den Griechen, da sie gen Baktra zogen; so ist's mit allen Geschenken der Muse, die wir von ihnen erhielten. Homer sang, aber nicht für uns; nur weil er zu uns kam, haben wir ihn und dürfen von ihm lernen. Hätte ihn uns ein Umstand der Zeitenfolge geraubt, wie soviel andere vortreffliche Werke; wer wollte mit der Absicht eines geheimen Schicksals rechten, wenn er die natürlichen Ursachen seines Unterganges vor sich sieht? Man gehe die verlornen und erhaltenen Schriften, die verschwundenen und übriggebliebenen Werke der Kunst samt den Nachrichten über ihre Erhaltung und Zerstörung durch und wage es, die Regel anzuzeigen, nach welcher in einzelnen Fällen das Schicksal erhielt oder zerstörte. Aristoteles wurde in einem Exemplar unter der Erde, andere Schriften als verworfne Pergamente in Kellern und Kisten, der Spötter Aristophanes unter dem Kopfkissen des H. Chrysostomus erhalten, damit dieser aus ihm predigen lernte; und so sind die verworfensten kleinsten Wege gerade diejenigen gewesen, von denen unsere ganze Aufklärung abhing. Nun ist unsere Aufklärung unstreitig ein großes Ding in der Weltgeschichte: sie hat fast alle Völker in Aufruhr gebracht und legt jetzt mit Herschel die Milchstraßen des Himmels wie Strata auseinander. Und dennoch von welchen kleinen Umständen hing sie ab, die uns das Glas und einige Bücher brachten, so daß wir ohne diese Kleinigkeiten vielleicht noch wie unsere alten Brüder, die unsterblichen Scythen, mit Weibern und Kindern auf Wagenhäusern führen. Hätte die Reihe der Begebenheiten es gewollt, daß wir statt griechischer mongolische Buchstaben erhalten sollten, so schrieben wir jetzt mongolisch, und die Erde ging deshalb mit ihren Jahren und Jahrszeiten ihren großen Gang fort, eine Ernährerin alles dessen, was nach göttlichen Naturgesetzen auf ihr lebt und wirkt.

Drittens. Die Kultur eines Volks ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbart.

Wie der Mensch, der auf die Welt kommt, nichts weiß; er muß, was er wissen will, lernen: so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich oder durch Umgang von andern. Nun hat aber jede Art der menschlichen Kenntnisse ihren eignen Kreis, d. i. ihre Natur, Zeit, Stelle und Lebensperiode; die griechische Kultur z.B. erwuchs nach Zeiten, Orten und Gegenständen und sank mit denselben. Einige Künste und die Dichtkunst gingen der Philosophie zuvor: wo die Kunst oder die Rednerei blühte, durfte nicht eben auch die Kriegskunst oder die patriotische Tugend blühen; die Redner Athens bewiesen ihren größesten Enthusiasmus, da es mit dem Staat zu Ende ging und seine Redlichkeit hin war.

Aber das haben alle Gattungen menschlicher Aufklärung gemein, daß jede zu einem Punkt der Vollkommenheit strebt, der, wenn er durch einen Zusammenhang glücklicher Umstände hier oder dort erreicht ist, sich weder ewig erhalten noch auf der Stelle wiederkommen kann, sondern eine abnehmende Reihe anfängt. Jedes vollkommenste Werk nämlich, sofern man von Menschen Vollkommenheit fodern kann, ist ein Höchstes in seiner Art; hinter ihm sind also bloß Nachahmungen oder unglückliche Bestrebungen, es übertreffen zu wollen, möglich. Als Homer gesungen hatte, war in seiner Gattung kein zweiter Homer denkbar; jener hatte die Blüte des epischen Kranzes gepflückt, und wer auf ihn folgte, mußte sich mit einzelnen Blättern begnügen. Die griechischen Trauerspieldichter wählten sich also eine andere Laufbahn; sie aßen, wie Äschylus sagt, vom Tisch Homers, bereiteten aber für ihr Zeitalter ein anderes Gastmahl. Auch ihre Periode ging vorüber: die Gegenstände des Trauerspiels erschöpften sich und konnten von den Nachfolgern, der größesten Dichter nur verändert, d. i. in einer schlechtem Form gegeben werden, weil die bessere, die höchstschöne Form des griechischen Drama mit jenen Mustern schon gegeben war. Trotz aller seiner Moral konnte Euripides nicht mehr an Sophokles reichen, geschweige, daß er ihn im Wesen seiner Kunst zu übertreffen vermocht hätte, und der kluge Aristophanes wählte daher eine andere Laufbahn. So war's mit allen Gattungen der griechischen Kunst und wird unter allen Völkern also bleiben; ja daß die Griechen in ihren schönern Zeiten dieses Naturgesetz einsahn und ein Höchstes durch ein noch Höheres nicht zu überstreben suchten, das eben machte ihren Geschmack so sicher und die Ausbildung desselben so mannigfaltig. Als Phidias seinen allmächtigen Jupiter erschaffen hatte, war kein höherer Jupiter möglich; wohl aber konnte das Ideal desselben auch auf andere Götter seines Geschlechts angewandt werden, und so erschuf man jedem Gott seinen Charakter: die ganze Provinz der Kunst wurde bepflanzt.

Arm und klein wäre es also, wenn wir unsere Liebe zu irgendeinem Gegenstande menschlicher Kultur der allwaltenden Vorsehung als Regel vorzeichnen wollten, um dem Augenblick, in welchem er allein Platz gewinnen konnte, eine unnatürliche Ewigkeit zu geben. Es hieße diese Bitte nichts anders, als das Wesen der Zeit zu vernichten und die ganze Natur der Endlichkeit zu zerstören. Unsere Jugend kommt nicht wieder; mithin auch nie die Wirkung unserer Seelenkräfte wie sie dann und dort war. Eben daß die Blume erschien, zeigt, daß sie verblühen werde; von der Wurzel aus hat sie die Kräfte der Pflanze in sich gezogen, und wenn sie stirbt, stirbt die Pflanze ihr nach. Unglücklich wäre es gewesen, wenn die Zeit, die einen Perikles und Sokrates hervorbrachte, nur ein Moment länger hätte dauren sollen, als ihr die Kette der Umstände Dauer bestimmte; es war für Athen ein gefährlicher, unerträglicher Zeitpunkt. Ebenso eingeschränkt wäre es, wenn die Mythologie Homers in den Gemütern der Menschen ewig dauern, die Götter der Griechen ewig herrschen, ihre Demosthene ewig donnern sollen u. f. Jede Pflanze der Natur muß verblühen; aber die verblühte Pflanze streut ihren Samen weiter, und dadurch erneuert sich die lebendige Schöpfung, Shakespeare war kein Sophokles, Milton kein Homer, Bolingbroke kein Perikles; sie waren aber das in ihrer Art und auf ihrer Stelle, was jene in der ihrigen waren. Jeder strebe also auf seinem Platz, zu sein, was er in der Folge der Dinge sein kann; dies soll er auch sein, und ein anderes ist für ihn nicht möglich.

Viertens. Die Gesundheit und Dauer eines Staats beruht nicht auf dem Punkt seiner höchsten Kultur, sondern auf einem weisere oder glücklichen Gleichgewicht seiner lebendig wirkenden Kräfte. Je tiefer bei diesem lebendigen Streben sein Schwerpunkt liegt, desto fester und daurender ist er.

Worauf rechneten jene alten Einrichter der Staaten? Weder auf träge Ruhe noch auf ein Äußerstes der Bewegung; wohl aber auf Ordnung und eine richtige Verteilung der nie schlafenden, immer erweckten Kräfte. Das Principium dieser Weisen war eine der Natur abgelernte echte Menschenweisheit. Jedesmal, da ein Staat auf seine Spitze gestellt wurde, gesetzt, daß es auch vom glänzendsten Mann unter dem blendendsten Vorwande geschehen wäre, geriet er in Gefahr des Unterganges und kam zu seiner vorigen Gestalt nur durch eine glückliche Gewalt wieder. So stand Griechenland gegen die Perser auf einer fürchterlichen Spitze; so strebten Athen, Lacedämon und Theben zuletzt mit äußerster Anstrengung gegeneinander, welches dem ganzen Griechenlande den Verlust der Freiheit zuzog. Gleichergestalt stellte Alexander mit seinen glänzenden Siegen das ganze Gebäude seines Staats auf eine Kegelspitze; er starb, der Kegel fiel und zerschellte. Wie gefährlich Alcibiades und Perikles für Athen gewesen, beweist ihre Geschichte; ob es gleich ebenso wahr ist, daß Zeitpunkte dieser Art, zumal wenn sie bald und glücklich ausgehen, seltene Wirkungen zum Vorschein bringen und unglaubliche Kräfte regen. Alles Glänzende Griechenlandes ist durch die rege Wirksamkeit vieler Staaten und lebendiger Kräfte, alles Daurende und Gesunde seines Geschmacks und seiner Verfassung dagegen ist nur durch ein weises, glückliches Gleichgewicht seiner strebenden Kräfte bewirkt worden. Jedesmal war das Glück seiner Einrichtungen um so daurender und edler, je mehr es sich auf Humanität, d. i. auf Vernunft und Billigkeit, stützte. Hier nun böte sich uns ein weites Feld der Betrachtungen über die Verfassung Griechenlands dar, was es mit seinen Erfindungen und Anstalten sowohl für die Glückseligkeit seiner Bürger als für die gesamte Menschheit geleistet habe. Hiezu aber ist's noch zu früh. Wir müssen erst mehrere Zeitverbindungen und Völker durchschauen, ehe wir hierüber zu sichern Resultaten schreiten.

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