Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünfzehntes Buch

III

Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet

Erstes Naturgesetz. In der mathematischen Naturlehre ist's erwiesen, daß zum Beharrungszustande  eines Dinges jederzeit eine Art Vollkommenheit, ein  Maximum oder Minimum, erfordert werde, das aus  der Wirkungsweise der Kräfte dieses Dinges folget.  So könnte z.B. unsre Erde nicht dauern, wenn der  Mittelpunkt ihrer Schwere nicht am tiefsten Ort läge  und alle Kräfte auf und von demselben in harmonischem Gleichgewicht wirkten. Jedes bestehende Dasein trägt also nach diesem schönen Naturgesetz seine physische Wahrheit, Güte und Notwendigkeit als den  Kern seines Bestehens in sich.

Zweites Naturgesetz. Gleichergestalt ist's erwiesen, daß alle Vollkommenheit und Schönheit zusammengesetzter, eingeschränkter Dinge oder ihrer Systeme auf einem solchen Maximum ruhe. Das Ähnliche  nämlich und das Verschiedene, das Einfache in den  Mitteln und das Vielfältige in den Wirkungen, die  leichteste Anwendung der Kräfte zu Erreichung des  gewissesten oder fruchtbarsten Zweckes bilden eine  Art Ebenmaßes und harmonischer Proportion, die von der Natur allenthalben bei den Gesetzen ihrer Bewegung, in der Form ihrer Geschöpfe, beim Größesten  und Kleinsten beobachtet ist und von der Kunst des  Menschen, soweit seine Kräfte reichen, nachgeahmt  wird. Mehrere Regeln schränken hiebei einander ein,  so daß, was nach der einen größer wird, nach der andern abnimmt, bis das zusammengesetzte Ganze seine sparsam-schönste Form und mit derselben innern Bestand, Güte und Wahrheit gewinnet. Ein vortreffliches Gesetz, das Unordnung und Willkür aus der Natur  verbannet und uns auch in jedem veränderlichen eingeschränkten Teil der Weltordnung eine Regel der  höchsten Schönheit zeiget.

Drittes Naturgesetz. Ebensowohl ist's erwiesen,  daß, wenn ein Wesen oder ein System derselben aus  diesem Beharrungszustande seiner Wahrheit, Güte  und Schönheit verrückt worden, es sich demselben  durch innere Kraft, entweder in Schwingungen oder  in einer Asymptote, wieder nähere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet. Je lebendiger und vielartiger die Kräfte sind, desto weniger ist der  unvermerkte gerade Gang der Asymptote möglich,  desto heftiger werden die Schwingungen und Oszillationen, bis das gestörte Dasein das Gleichgewicht  seiner Kräfte oder ihrer harmonischen Bewegung,  mithin den ihm wesentlichen Beharrungszustand erreichet.

Da nun die Menschheit sowohl im ganzen als in  ihren einzelnen Individuen, Gesellschaften und Nationen ein daurendes Natursystem der vielfachsten lebendigen Kräfte ist, so lasset uns sehen, worin der Bestand desselben liege, auf welchem Punkt sich seine  höchste Schönheit, Wahrheit und Güte vereine und  welchen Weg es nehme, um sich bei einer jeden Verrückung, deren uns die Geschichte und Erfahrung so  viele darbeut, seinem Beharrungszustande wiederum  zu nähern.

1. Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von  Anlagen und Kräften, daß, weil alles in der Natur auf  der bestimmtesten Individualität ruhet, auch ihre großen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unserm Planeten erscheinen konnten.  Alles wird geboren, was auf ihm geboren werden  kann, und erhält sich, wenn es nach Gesetzen der  Natur seinen Beharrungszustand findet. Jeder einzelne Mensch trägt also, wie in der Gestalt seines Körpers,  so auch in den Anlagen seiner Seele das Ebenmaß, zu  welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz, von der kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen, von  der leidenschaftlichsten Hitze eines Negergehirns bis  zur Anlage der schönsten Weisheit. Durch Fehler und  Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht  jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil in  solchem allein der vollste Genuß seines Daseins lieget; nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die  reinste, schönste Weise.

2. Da der einzelne Mensch für sich sehr unvollkommen bestehen kann, so bildet sich mit jeder Gesellschaft ein höheres Maximum zusammenwirken- der Kräfte. In wilder Verwirrung laufen diese so  lange gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen  der Natur die widrigen Regeln einander einschränken  und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werde. So modifizieren sich die Nationen nach  Ort, Zeit und ihrem innern Charakter; jede trägt das  Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit  andern, in sich. Je reiner und schöner nun das Maximum war, auf welches ein Volk traf, auf je nützlichere Gegenstände es seine Übung schönerer Kräfte anlegte, je genauer und fester endlich das Band der Vereinigung war, das alle Glieder des Staats in ihrem Innersten knüpfte und sie auf diese guten Zwecke lenkte, desto bestehender war die Nation in sich, desto  edler glänzt ihr Bild in der Menschengeschichte. Der  Gang, den wir bisher durch einige Völker genommen, zeigte, wie verschieden nach Ort, Zeit und Umständen das Ziel war, auf welches sie ihre Bestrebungen richteten. Bei den Sinesen war's eine feine politische  Moral, bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung, bei den Phöniciern der Geist der Schiffahrt und des handelnden Fleißes.  Die Kultur der Griechen, insonderheit Athens, ging  auf ein Maximum des Sinnlichschönen, sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der  politischen Einrichtung. In Sparte und Rom bestrebte  man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder  Heldenpatriotismus; in beiden auf eine sehr verschiedene Weise. Da in diesem allen das meiste von Ort  und Zeit abhangt, so sind in den auszeichnendsten  Zügen des Nationalruhms die alten Völker einander  beinahe unvergleichbar.

3. Indessen sehen wir bei allen ein Principium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus vielem  eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit  Ebenmaß und dauernder Schönheit hervorzubringen  sich bestrebet. Von jenen unförmlichen Kunstfelsen,  womit der Sinese seine Gärten verschönt, bis zur  ägyptischen Pyramide oder zum griechischen Ideal ist  allenthalben Plan und Absicht eines nachsinnenden  Verstandes, obwohl in sehr verschiednen Graden,  merkbar. Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je  näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art  enthält und keine Abweichung zur Rechten oder zur  Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke  Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lässet sich z.B. über  eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken. Sie sind rein aufgelösete Probleme des menschlichen Verstandes in dieser Art, bei welchen keine willkürliche Dichtung, daß das Problem etwa auch nicht  aufgelöset sei oder besser aufgelöset werden könne,  stattfindet; denn der reine Begriff dessen, was sie sein sollten, ist in ihnen auf die leichteste, reichste, schön- ste Art erschöpfet. Jede Verirrung von ihnen wäre  Fehler, und wenn dieser auf tausendfache Art wiederholt und vervielfältiget würde, so müßte man immer  doch zu jenem Ziel zurückkehren, das ein Höchstes  seiner Art und nur ein Punkt ist.

4. Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in  sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildete Nationen, die wir bisher betrachtet haben und  weiterhin betrachten werden. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im ganzen stattfindet, so daß es  der trüglichste Schluß wäre, wenn man von einer  Vollkommenheit einer Nation auf jede andre schließen wollte. Weil Athen z.B. schöne Redner hatte,  durfte es deshalb nicht auch die beste Regierungsform haben, und weil Sina so vortrefflich moralisieret, ist  sein Staat noch kein Muster der Staaten. Die Regierungsform beziehet sich auf ein ganz anderes Maximum als ein schöner Sittenspruch oder eine pathetische Rede; obwohl zuletzt alle Dinge bei einer Nation, wenn auch nur ausschließend und einschränkend,  sich in einen Zusammenhang finden. Kein andres Maximum als das vollkommenste Band der Verbindung  macht die glücklichsten Staaten; gesetzt, das Volk  müßte auch mancherlei blendende Eigenschaften  dabei entbehren.

5. Auch bei einer und derselben Nation darf und  kann nicht jedes Maximum ihrer schönen Mühe ewig dauern; denn es ist nur ein Punkt in der Linie der Zeiten. Unablässig rückt diese weiter, und von je mehreren Umständen die schöne Wirkung abhing, desto  mehr ist sie dem Hingange und der Vergänglichkeit  unterworfen. Glücklich, wenn ihre Muster alsdann zur Regel anderer Zeitalter bleiben; denn die nächstfolgenden stehen ihnen gemeiniglich zu nah und sanken  vielleicht sogar eben deshalb, weil sie solche übertreffen wollten. Eben bei dem regsamsten Volk gehet es  oft in der schnellesten Abnahme vom siedenden bis  zum Gefrierpunkt hinunter.

Die Geschichte einzelner Wissenschaften und Nationen hat diese Maxima zu berechnen, und ich  wünschte, daß wir nur über die berühmtesten Völker  in den bekanntesten Zeiten eine solche Geschichte besäßen; jetzt reden wir nur von der Menschengeschichte überhaupt und vom Beharrungszustande  derselben in jeder Form unter jedem Klima. Dieser ist nichts als Humanität, d. i. Vernunft und Billigkeit in  allen Klassen, in allen Geschäften der Menschen.  Und zwar ist er dies nicht durch die Willkür eines Beherrschers oder durch die überredende Macht der Tradition, sondern durch Naturgesetze, auf welchen das  Wesen des Menschengeschlechts ruhet. Auch seine  verdorbensten Einrichtungen rufen uns zu: »Hätten  sich unter uns nicht noch Schimmer von Vernunft und Billigkeit erhalten, so wären wir längst nicht mehr, ja, wir wären nie entstanden.« Da von diesem Punkt das  ganze Gewebe der Menschengeschichte ausgeht, so  müssen wir unsern Blick sorgfältig darauf richten.

Zuerst. Was ist's, das wir bei allen menschlichen  Werken schätzen und wonach wir fragen? Vernunft,  Plan und Absicht. Fehlt diese, so ist nichts Menschliches getan; es ist eine blinde Macht bewiesen. Wohin  unser Verstand im weiten Felde der Geschichte  schweift, suchet er nur sich und findet sich selbst  wieder. Je mehr er bei allen seinen Unternehmungen  auf reine Wahrheit und Menschengüte traf, desto dauernder, nützlicher und schöner wurden seine Werke,  desto mehr begegnen sich in ihren Regeln die Geister  und Herzen aller Völker in allen Zeiten. Was reiner  Verstand und billige Moral ist, darüber sind Sokrates  und Konfuzius, Zoroaster, Plato und Cicero einig:  trotz ihrer tausendfachen Unterschiede haben sie alle  auf einen Punkt gewirkt, auf dem unser ganzes Geschlecht ruhet. Wie nun der Wanderer kein süßeres  Vergnügen hat, als wenn er allenthalben, auch wo er's nicht vermutete, Spuren eines ihm ähnlichen, denkenden, empfindenden Genius gewahr wird, so ent- zückend ist uns in der Geschichte unsres Geschlechts  die Echo aller Zeiten und Völker, die in den edelsten  Seelen nichts als Menschengüte und Menschenwahrheit tönet. Wie meine Vernunft den Zusammenhang  der Dinge sucht und mein Herz sich freuet, wenn sie  solchen gewahr wird, so hat ihn jeder Rechtschaffene  gesucht und ihn, im Gesichtspunkt seiner Lage, nur  vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich  bezeichnet. Wo er irrte, irrete er für sich und mich,  indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet.  Wo er mich zurechtweiset, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein Bruder, Teilnehmer an derselben  Weltseele, der einen Menschenvernunft, der einen  Menschenwahrheit.

Zweitens. Wie in der ganzen Geschichte es keinen  fröhlichem Anblick gibt, als einen verständigen, guten Mann zu finden, der ein solcher, trotz aller Veränderungen des Glückes, in jedem seiner Lebensalter, in  jedem seiner Werke bleibt, so wird unser Bedauern  tausendfach erregt, wenn wir auch bei großen und  guten Menschen Verirrungen ihrer Vernunft wahrnehmen, die nach Gesetzen der Natur ihnen nicht anders  als übeln Lohn bringen konnten. Nur zu häufig findet  man diese gefallenen Engel in der Menschengeschichte und beklagt die Schwachheit der Form, die  unsrer Menschenvernunft zum Werkzeug dienet. Wie  wenig kann ein Sterblicher ertragen, ohne niedergebeugt, wie wenig Außerordentlichem begegnen, ohne  von seinem Wege abgelenkt zu werden! Diesem war  eine kleine Ehre, der Schimmer eines Glücks oder ein  unerwarteter Umstand im Leben schon Irrlichtes  genug, ihn in Sümpfe und Abgründe zu führen; jener  konnte sich selbst nicht fassen; er überspannte sich  und sank ohnmächtig nieder. Ein mitleidiges Gefühl  bemächtigt sich unser, wenn wir dergleichen Unglücklich-Glückliche jetzt auf der Wegscheide ihres  Schicksals sehen und bemerken, daß sie, um fernerhin vernünftig, billig und glücklich sein zu können, den  Mangel der Kraft selbst in sich fühlen. Die ergreifende Furie ist hinter ihnen und stürzt sie wider Willen über die Linie der Mäßigung hinweg; jetzt sind sie in der Hand derselben und büßen zeitlebens vielleicht  die Folgen einer kleinen Unvernunft und Torheit.  Oder wenn sie das Glück zu sehr erhob und sie sich  jetzt auf der höchsten Stufe desselben fühlen: was stehet ihrem ahnenden Geist bevor als die Wankelmut  dieser treulosen Göttin, mithin selbst aus der Saat  ihrer glücklichen Unternehmungen ein keimendes Unglück? Vergebens wendest du dein Antlitz, mitleidiger Cäsar, da dir das Haupt deines erschlagenen Feindes Pompejus gebracht wird, und bauest der Nemesis  einen Tempel. Du bist über die Grenze des Glückes  wie über den Rubikon hinaus, die Göttin ist hinter  dir, und dein blutiger Leib wird an der Bildsäule desselben Pompejus zu Boden sinken. Nicht anders ist's  mit der Einrichtung ganzer Länder, weil sie immer  doch nur von der Vernunft oder Unvernunft einiger  wenigen abhangen, die ihre Gebieter sind oder heißen. Die schönste Anlage, die auf Jahrhunderte hin der  Menschheit die nützlichsten Früchte versprach, wird  oft durch den Unverstand eines einzigen zerrüttet, der, statt Äste zu beugen, den Baum fället. Wie einzelne  Menschen, so konnten auch ganze Reiche am wenigsten ihr Glück ertragen, es mochten Monarchen und  Despoten oder Senat und Volk sie regieren. Das Volk und der Despot verstehen am wenigsten der Schicksalsgöttin warnenden Wink; vom Schall des Namens  und vom Glanz eines eitlen Ruhms geblendet, stürzen sie hinaus über die Grenzen der Humanität und Klugheit, bis sie zu spät die Folgen ihrer Unvernunft wahrnehmen. Dies war das Schicksal Roms, Athens und  mehrerer Völker, gleichergestalt das Schicksal Alexanders und der meisten Eroberer, die die Welt beunruhiget haben; denn Ungerechtigkeit verderbet alle Länder und Unverstand alle Geschäfte der Menschen. Sie  sind die Furien des Schicksals; das Unglück ist nur  ihre jüngere Schwester, die dritte Gespielin eines  fürchterlichen Bundes.

Großer Vater der Menschen, welche leichte und  schwere Lektion gabst du deinem Geschlecht auf  Erden zu seinem ganzen Tagewerk auf! Nur Vernunft  und Billigkeit sollen sie lernen; üben sie dieselbe, so  kommt von Schritt zu Schritt Licht in ihre Seele, Güte in ihr Herz, Vollkommenheit in ihren Staat, Glückseligkeit in ihr Leben. Mit diesen Gaben beschenkt und  solche treu anwendend, kann der Neger seine Gesellschaft einrichten wie der Grieche, der Troglodyt wie  der Sinese. Die Erfahrung wird jeden weiterführen  und die Vernunft sowohl als die Billigkeit seinen Geschäften Bestand, Schönheit und Ebenmaß geben.  Verlässet er sie aber, die wesentlichen Führerinnen  seines Lebens, was ist's, das seinem Glück Dauer  geben und ihn den Rachgöttinnen der Inhumanität  entziehen möge?

Drittens. Zugleich ergibt sich's, daß, wo in der  Menschheit das Ebenmaß der Vernunft und Humanität gestört worden, die Rückkehr zu demselben selten  anders als durch gewaltsame Schwingungen von  einem Äußersten zum andern geschehen werde. Eine  Leidenschaft hob das Gleichgewicht der Vernunft auf, eine andre stürmt ihr entgegen, und so gehen in der  Geschichte oft Jahre und Jahrhunderte hin, bis wiederum ruhige Tage werden. So hob Alexander das  Gleichgewicht eines großen Weltstrichs auf, und  lange noch nach seinem Tode stürmten die Winde. So nahm Rom der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den  Frieden, und eine halbe Welt wilder Völker ward zur  langsamen Wiederherstellung des Gleichgewichts erfordert. An den ruhigen Gang einer Asymptote war bei diesen Länder- und Völkererschütterungen gewiß  nicht zu gedenken. Überhaupt zeigt der ganze Gang  der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen  Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln  fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den  Sturz eines Waldwassers von den Gebirgen; dazu  machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unsres Geschlechts auf dergleichen  wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet  worden. Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist  zur Rechten und zur Linken, und dennoch kommen  wir mit jedem Schritt weiter, so ist der Fortschritt der  Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Völkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendul zu  beiden Seiten hinausschlägt. In steter Abwechselung  erneuen sich die Geschlechter, und trotz aller Linearvorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch  auf seine Weise weiter. Beflissentlich unterschied sich Aristoteles von Plato, Epikur von Zeno, bis die ruhigere Nachwelt endlich beide Extreme unparteiisch  nutzen konnte. So gehet, wie in der Maschine unsres  Körpers, durch einen notwendigen Antagonismus das  Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhält desselben dauernde Gesundheit. In welchen Abweichungen und Winkeln aber  auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge: er entsprang aus dem ewigen Strome der Wahrheit und kann sich kraft seiner Natur auf  seinem Wege nie verlieren. Wer aus ihm schöpfet,  schöpft Dauer und Leben.

Übrigens beruhet sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf ein und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unsres Wesens folget. Die  Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der  Dinge, daß sie solche zum dauernden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß  der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegeneinanderstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der  ganze Weltbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz also  erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen  bis zur kleinsten menschlichen Handlung; was alle  Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats