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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neunzehntes Buch

III

Weltliche Schirmvogteien der Kirche

Ursprünglich waren die Könige deutscher Stämme und Völker erwählte Feldherren, die Vorsteher der Nation, die obersten Richter. Als Bischöfe sie salbten, wurden sie Könige nach göttlichem Recht, Schirmvögte der Kirche ihres Landes; als der Papst den römischen Kaiser krönte, bestellte er ihn gleichsam sich zum Koadjutor: er die Sonne, der Kaiser der Mond, die übrigen Könige Gestirne am Himmel der christkatholischen Kirche. Dies System, das im Dunkel angelegt war, ging nur in der Dämmerung hervor, es wurde aber sehr bald lautbar. Schon der Sohn Karls des Großen legte auf das Geheiß der Bischöfe seine Krone nieder und wollte sie nicht anders als auf ihr neues Geheiß wieder annehmen; unter seinen Nachfolgern wurde der Vertrag mehrmals wiederholet, daß die Könige ihre geist- und weltlichen Stände in Geschäften der Kirche und des Staats als Mitgehülfen ansehen sollten. Der falsche Isidor endlich machte die Grundsätze allgemein, daß vermöge der Gewalt der Schlüssel der Papst berechtigt sei, Fürsten und Könige mit dem Bann zu belegen und ihrer Regierung unfähig zu erklären. Insonderheit maßte der Papst sich viel Recht an über die römische Kaiserkrone, und man gestand es ihm zu. Heinrich von Sachsen nannte sich nur einen König von Deutschland, bis ihn der Papst zur römischen Kaiserkrone einlud; Otto und seine Nachfolger bis zu Friedrich dem Zweiten empfingen sie von ihm und glaubten damit einen Vorrang oder gar eine Art Oberherrschaft über alle Könige der Christenheit empfangen zu haben. Sie, denen ihr deutsches Reich zu verwalten oft schwer wurde, empfanden es übel, wenn ohne ihre Beleihung dem griechischen Reiche etwas entnommen wurde; sie bekriegten die Heiden und setzten Bischöfe in derselben Ländern. Wie der Papst einen christlichen König in Ungarn schuf, so wurde der erste christliche Fürst in Polen ein Lehnträger des deutschen Reichs, und viele Kriege wurden fortan dieser Lehnabhängigkeit wegen geführt. Kaiser Heinrich II. empfing vom Papst den goldenen Reichsapfel als ein Sinnbild, daß ihm die Welt zugehöre; und Friedrich II. wurde in den Bann getan, weil er den ihm aufgedrungenen Kreuzzug aufschob. Ein Konzilium entsetzte ihn; vom Papst wurde der Kaiserthron ledig erklärt und so tief heruntergebracht, daß ihn kein auswärtiger Fürst annehmen wollte. Die christliche Sonne hat also ihren Mond übel beraten: denn über der Schirmvogtei der Christenheit kamen die deutschen Kaiser zuletzt dahin, daß sie sich selbst nicht mehr zu beschirmen wußten. Sie sollten umherziehen, Reichs- und Gerichtstage halten, Lehne, Zepter und Kronen verleihen, wie ihnen der Papst es auftrug, indes er an der Tiber saß und die Welt durch Legaten, Bullen und Interdikte regierte. Kein katholisches Reich ist in Europa, das nicht dieselben Begriffe von seinem Könige als einem Schirmvogt der Kirche unter der Oberherrschaft des Papstes gehabt hätte; ja geraume Zeit war dies das allgemeine Staatsrecht Europas. [286]

Alle innere Anstalten der Reiche konnten also nicht anders als in diesem Begriffe sein; denn die Kirche war nicht im Staat, sondern der Staat in der Kirche.

1. Da allenthalben Geist- und Weltliche die Stände des Reichs waren, so mußten die wichtigsten Staats-, Ritter- und Lehngebräuche gleichsam mit dem Siegel der Kirche bezeichnet werden. An Festen hielten die Könige ihren großen Hof; in Tempeln geschah ihre Krönung; ihr Schwur war aufs Evangelium und die Reliquien, ihre Kleidung ein geweihter Schmuck, ihre Krone und ihr Schwert heilig. Sie selbst wurden ihrer Würde wegen als Diener der Kirche betrachtet und genossen Vorzüge des geistlichen Standes. Mehr oder weniger waren alle feierliche Staatshandlungen mit Messe und Religion verbunden. Der erste Degen, den der Knappe bekam, war auf dem Altar geweiht, und als mit der Zeit die Ritterwürde in die Feierlichkeit eines Ordens trat, so waren ein Dritteil derselben Religionsgebräuche. Andacht verband sich im Orden mit Ehre und Liebe; denn für die Christenheit, wie für die gekränkte Tugend und Unschuld, das Schwert zu führen war der angebliche Zweck aller Ritterorden. Längst waren Christus und die Apostel, die Mutter Gottes und andere Heilige Schutzpatrone der Christenheit, aller Stände und Ämter, einzelner Zünfte, Kirchen, Abteien, Schlösser und Geschlechter gewesen; bald wurden ihre Bilder Heereszeichen, Fahnen, Siegel, ihre Namen das Feldgeschrei, die Losung. Man griff bei Verlesung des Evangelium ans Schwert und ging zur Schlacht mit einem Kyrie eleison. Alle Gebräuche in dieser Denkart bereiteten jene Kriege wider Ketzer, Heiden und Ungläubige dermaßen vor, daß zu rechter Zeit nur ein großer Aufruf mit heiligen Zeichen und Versprechungen erschallen dorfte, so zog Europa gegen Sarazenen, Albigenser, Slawen, Preußen und Polen. Sogar der Ritter und Mönch konnten sich zur sonderbaren Gestalt geistlicher Ritterorden vereinigen; denn in einzelnen Fällen hatten Bischöfe, Äbte, ja Päpste selbst den Bischofsstab mit dem Schwert verwechselt.

Ein kurzes Beispiel dieser Sitten gibt uns die eben erwähnte Stiftung des Königreichs Ungarn durch die Hand des Papstes. Lange hatten Kaiser und Reich geratschlaget, wie die wilden, so oft geschlagenen Ungarn zur Ruhe zu bringen wären: die Taufe war dazu das einzige Mittel; und als dieses nach vieler Mühe gelang, da ein im Christentum erzogener König, der heilige Stephan, selbst das Werk der Bekehrung trieb, da wurde ihm eine apostolische Krone gesandt (die wahrscheinlich ein awarischer Raub war); er empfing die heilige Lanze (eine ungarische Streitkolbe) und das Stephansschwert, gegen alle Weltseilen die Kirche zu schützen und zu verbreiten, den Reichsapfel, die bischöflichen Handschuhe, das Kreuz. Er wurde zum Legat des Papstes erklärt und versäumte nicht, in Rom ein Chorherrenstift, zu Konstantinopel ein Mönchskloster, zu Ravenna und Jerusalem Hospitäler, Herbergen und Stifter anzulegen, den Zug der Pilgrime durch sein Land zu leiten, Priester, Bischöfe, Mönche aus Griechenland, Böhmen, Bayern, Sachsen, Österreich und Venedig kommen zu lassen, das Erzstift Gran samt einer Reihe anderer Bischofssitze und Klöster zu errichten und die Bischöfe, die auch zu Felde ziehen mußten, als Stände seines Reichs einzuführen. Er gab ein Gesetz, dessen geistlicher Teil aus abendländischen, besonders fränkischen Kapitularen und mainzischen Kirchenschlüssen genommen war, und hinterließ es als Grundgesetz des neuen Christenreiches. Dies war der Geist der Zeiten; Ungarns ganze Verfassung, das Verhältnis und Schicksal seiner Bewohner wurde darauf gegründet, und mit kleinen Veränderungen nach Ort und Zeiten war es in Polen, Neapel und Sizilien, in Dänemark und Schweden nicht anders. Alles schwamm im Meer der Kirche: ein Bord des Schiffes war die Lehnherrschaft, das andere die bischöfliche Gewalt, König oder Kaiser das Segel, der Papst saß am Steuerruder und lenkte.

2. In allen Reichen war die Gerichtsbarkeit erzkatholisch. Den Dekreten der Päpste und Kirchenversammlungen mußten Statuten und Sitten der Völker weichen; ja, selbst noch als das römische Recht in Gang kam, ging das kanonische Recht ihm vor. Es ist nicht zu leugnen, daß durch alles dieses manche rohe Schärfe den Völkern abgerieben worden sei; denn indem die Religion sich herabließ, selbst die gerichtlichen Zweikämpfe zu weihen oder durch Gottesurteile zu ersetzen, schränkte sie solche ein und brachte den Aberglauben wenigstens in eine unschädlichere Regel. [287] Äbte und Bischöfe waren die Gottes- und Friedensrichter auf Erden, Geistliche meistens Schreiber in Gerichten, die Verfasser der Gesetze, Ordnungen und Kapitulare, oft auch in den wichtigsten Fällen Staatsgesandte. Das gerichtliche Ansehen, das sie bei den nordischen Heiden gehabt hatten, war auch ins Christentum übergegangen, bis sie erst spät durch die Doktoren der Rechte von diesen Stühlen verdrängt wurden. Mönche und Beichtväter waren oft das Orakel der Fürsten, und der heilige Bernhard wurde in der bösen Sache der Kreuzzüge das Orakel Europas.

3. Die wenige Arzneikunst der mittlern Zeiten, wenn sie nicht von Juden oder Arabern getrieben wurde, war in dem Gewahrsam des Priesterstandes; daher sie auch, wie bei den nordischen Heiden, mit Aberglauben durchwebt war. Der Teufel und das Kreuz, Heiligtümer und Wortformeln spielten darin ihre große Rolle; denn die wahre Naturkenntnis war bis auf wenige Traditionen verschwunden aus Europa. Daher so manche Krankheiten, die unter dem Namen des Aussatzes, der Pest, des schwarzen Todes, des St.-Veits-Tanzes mit ansteckender Wut ganze Länder durchzogen; niemand tat ihnen Einhalt, weil niemand sie kannte und die rechten Mittel dagegen anwandte. Unreinlichkeit in Kleidern, Mangel des Leinenzeuges, enge Wohnungen, selbst die vom Aberglauben benebelte Phantasie konnte sie nicht anders als befördern. Das wäre eine wahre Schirmvogtei gewesen, wenn ganz Europa unter dem Geheiß des Kaisers, des Papsts und der Kirche sich gegen den Einbruch solcher Seuchen, als wahrer Teufelswerke, vereinigt und weder Blattern noch Pest und Aussatz in ihre Länder gelassen hätten; man ließ sie aber kommen, wüten und toben, bis das Gift sich selbst verzehrte. Die wenigen Anstalten, die man dagegen machte, ist man indes auch der Kirche schuldig; man trieb als Werk der Barmherzigkeit, was man als Kunst noch nicht zu treiben wußte. [288]

4. Die Wissenschaften waren nicht sowohl im Staat als in der Kirche. Was diese wollte, wurde gelehrt und allenfalls geschrieben; aus Mönchsschulen ging alles aus; eine Mönchsdenkart herrscht also auch in den wenigen Produkten des Geistes, die damals erschienen. Selbst die Geschichte wurde nicht für den Staat, sondern für die Kirche geschrieben, weil außer den Geistlichen äußerst wenige lasen; daher auch die besten Schriftsteller des Mittelalters Spuren des Pfaffentums an sich tragen. Legenden und Romane, das einzige, was der Witz der Menschen damals ersann, drehten sich in einem engen Kreise; denn wenige Schriften der Alten waren in einigem Gebrauch, man konnte also wenig Ideen vergleichen, und die Vorstellungsarten, die das damalige Christentum gab, waren im großen bald erschöpft. Eine poetische Mythologie gewährte dies ohnedem nicht; einige Züge aus der allen Geschichte und Fabel von Rom und Troja, mit den Begebenheiten näherer Zeitalter vermischt, webten den ganzen rohen Teppich der mittleren Dichtkunst. Auch als diese in die Volkssprache überzugehen anfing, begann man von geistlichen Dingen, die auf eine seltsame Weise mit Helden- und Ritterfabeln vermengt wurden, übrigens kümmerten weder Papst noch Kaiser [289] sich um die Literatur, als ein Mittel der Aufklärung betrachtet; die einzige Rechtswissenschaft ausgenommen, die beiden in ihren Anmaßungen unentbehrlich wurde. Ein Papst wie Gerbert, der die Wissenschaften als Kenner liebte, war ein seltener Phönix; der Ballast der Klosterwissenschaften fuhr im Schiff der Kirche.

5. So hielt sich auch von den Künsten nur das wenige fest, ohne welches Kirchen, Schlösser und Türme nicht sein konnten. Die sogenannte gotische Baukunst hängt mit dem Geist der Zeiten, mit der Religion und Lebensweise, mit dem Bedürfnis und Klima ihrer Zeitgenossen dergestalt zusammen, daß sie sich völlig so eigentümlich und periodisch als das Pfaffen- und Rittertum oder als die Hierarchie und Lehnherrschaft ausgebildet. Von kleinem Künsten erhielt und vervollkommte sich, was zum Waffenschmuck der Ritter, zum Putz und Gebrauch der Kirchen, Kastelle und Klöster gehörte; ihre Produkte waren eingelegte Arbeit und Schnitzwerk, gemalte Fenster und Buchstaben, Bilder der Heiligen, Teppiche, Reliquienkästchen, Monstranzen, Becher und Kelche. Von diesen Dingen, die Kirchenmusik und das Jagdhorn nicht ausgenommen, fing in Europa die Wiedergeburt der Künste, wie so ganz anders als einst in Griechenland, an! [290]

6. Auch Gewerb und Handel bekamen von dem alles umfangenden Kirchen- und Lehnwesen in Europa ihren tief eingreifenden Umriß. Die edelste Schirmvogtei der Kaiser und Könige war's ohne Zweifel, daß sie der Gewalt des Raubes Städte und dem Joch des Leibeigentums Künstler und Gewerke entzogen, daß sie den freien Fleiß und Handel durch Gerechtigkeiten, Zollfreiheit, den Marktfrieden und sichere Geleite beschützt und befördert, das barbarische Stranderecht zu vertilgen und andere drückende Lasten dem nützlichen Einwohner der Städte und des Landes zu entnehmen gesucht haben; wozu allerdings auch die Kirche ruhmwürdig beigetragen. [291] Der kühne Gedanke Friedrichs des Zweiten indes, in seinen Städten alle Zünfte und Brüderschaften abzuschaffen, ging, wie mehrere, die dieser rüstige Geist hatte, über sein Zeitalter hinaus. Noch waren verbündete Körper nötig, bei denen, wie im Ritter- und Klosterwesen, viele für einen standen und auch bei den geringsten Gewerken den Lehrling durch Dienstgrade so emporführten, wie in seinem Orden der Klosterbruder und Kriegsmann emporstieg. Ähnliche Feierlichkeiten begleiteten dort wie hier jeden höheren Schritt; ja, auch in den Handel ging der Geist der Gesellschaften und Gilden über. Die größesten Vereine desselben, die Hansa selbst, ist aus Brüderschaften der Kaufleute entstanden, die zuerst wie Pilgrime zogen; Not und Gefahr zur See und zu Lande trieben die Verbindung höher und weiter, bis endlich unter der Schirmvogtei der europäischen Christenheit eine so weit verbreitete Handelsrepublik entstand, wie sonst keine in der Welt gewesen.

Gleiche Zünfte wurden späterhin auch die Universitäten: gotische Einrichtungen, die zwar weder Morgenländer noch Griechen und Römer gekannt hatten, die aber als Kloster- und Ritterinstitute ihren Zeiten unentbehrlich und zu Festhaltung der Wissenschaften für alle Zeiten nützlich waren. Auch gründete sich im mittleren Alter ein eignes Stadtwesen, das, von den Munizipien der Römer sehr verschieden, auf Freiheit und Sicherheit nach deutschen Grundsätzen gebaut war und, wo es irgend sein konnte, Fleiß, Kunst und Nahrung hervorbrachte. Es trägt die Spuren seines bedrängten Ursprunges zwischen dem Adel, der Geistlichkeit und dein Fürsten allenthalben an sich, hat aber zur Kultur Europas mächtig gewirkt. Kurz, was unter dem gedruckten Gewölbe der Hierarchie, Lehnherrschaft und Schirmvogtei entstehen konnte, ist entstanden; dem festen Gebäude gotischer Bauart schien nur eins zu fehlen, Licht. Lasst uns sehen, auf wie sonderbaren Wegen ihm dieses zukam.

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