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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neunzehntes Buch

II

Wirkung der Hierarchie auf Europa

Vor allem muß man des Guten erwähnen, das unter jeder Hülle das Christentum, seiner Natur nach, bringen mußte. Mitleidig gegen Arme und Bedrängte, nahm es bei den wilden Verheerungen der Barbaren sie unter seinen Schutz; viele Bischöfe in Gallien, Spanien, Italien und Deutschland haben dies wie Heilige erwiesen. Ihre Wohnungen und die Tempel wurden eine Zuflucht der Bedrängten; sie kauften Sklaven los, befreiten die Geraubten und steuerten denn abscheulichen Menschenhandel der Barbaren, wo sie wußten und konnten. Diese Ehre der Milde und Großmut gegen den unterdrückten Teil des Menschengeschlechts kann man dem Christentum, seinen Grundsätzen nach, nicht rauben; von seinen ersten Zeiten an arbeitete es zur Rettung der Menschen, wie schon mehrere selbst unpolitische Gesetze der morgenländischen Kaiser zeigen. Da in der abendländischen Kirche man dieser Wohltat noch minder entbehren konnte, so sprechen viele Dekrete der Bischöfe in Spanien, Gallien und Deutschland dafür, auch ohne Zutun des Papstes.

Daß in den Zeiten der allgemeinen Unsicherheit Tempel und Klöster die heiligen Freistätten auch des stillen Fleißes und Handels, des Ackerbaues, der Künste und des Gewerbes gewesen, ist gleichfalls unleugbar. Geistliche stifteten Jahrmärkte, die ihnen zur Ehre noch jetzo Messen heißen, und befriedigten sie, wenn selbst der Kaiser- und Königsbann sie nicht sicherstellen konnte, mit dem Gottesfrieden. Künstler und Gewerke zogen sich an Klostermauern und suchten vor dem leibeigen machenden Adel Zuflucht. Mönche trieben den vernachlässigten Ackerbau durch ihre und anderer Hände; sie verfertigten, was sie im Kloster bedorften, oder gaben wenigstens einem klösterlichen Kunstfleiß sparsam Lohn und Raum. In Klöster retteten sich die übergebliebenen alten Schriftsteller, die, hie und da abgeschrieben, der Nachwelt aufbewahrt wurden. Durch Hülfe des Gottesdienstes endlich erhielt sich, wie sie auch war, mit der lateinischen Sprache ein schwaches Band, das einst zur Literatur der Allen zurück- und von ihnen bessere Weisheit herleiten sollte. In solche Zeiten gehören Klostermauern, die auch den Pilgrimen Sicherheit und Schutz, Bequemlichkeit, Kost und Aufenthalt gewährten. Durch Reisen dieser Art sind die Länder zuerst friedlich verknüpft worden; denn ein Pilgerstab schützte, wo kaum ein Schwert schützen konnte. Auch hat sich an ihnen die Kunde fremder Länder, samt Sagen, Erzählungen, Romanen und Dichtungen, in der rohesten Kindheit gebildet.

Alles dies ist wahr und unleugbar; da vieles davon aber auch ohne den römischen Bischof geschehen konnte, so lasst uns sehen, was dessen geistliche Oberherrschaft eigentlich Europa für Nutzen gebracht habe.

1. Die Bekehrung vieler heidnischen Völker. Aber wie wurden sie bekehrt? Oft durch Feuer und Schwert, durch Femgerichte und ausrottende Kriege. Sage man nicht, daß der römische Bischof solche nicht veranstaltet habe; er genehmigte sie, genoß ihre Früchte und ahmte, wenn er's tun konnte, sie selbst nach. Daher jene Ketzergerichte, zu denen Psalmen gesungen wurden, jene bekehrenden Kreuzzüge, in deren Beute sich Papst und Fürsten, Orden, Prälaten, Domherrn und Priester teilten. Was nicht umkam, wurde leibeigen gemacht und ist es großenteils noch; so hat sich das christliche Europa gegründet; so wurden Königreiche gestiftet und vom Papst geweiht, ja späterhin das Kreuz Christi als Mordzeichen in alle Weltteile getragen. Amerika raucht noch vom Blut seiner Erschlagnen, und die in Europa zu Knechten gemachte Völker verwünschen noch ihre Bekehrer. Und ihr zahllosen Opfer der Inquisition im südlichen Frankreich, in Spanien und in andern Weltteilen, eure Asche ist verflogen, eure Gebeine sind vermodert; aber die Geschichte der an euch verübten Greuel bleibt eine ewige Anklägerin der in euch beleidigten Menschheit.

2. Man eignet der Hierarchie das Verdienst zu, die Völker Europas zu einer Christenrepublik verbunden zu haben; worin hätte diese bestanden? Daß alle Nationen vor einem Kreuz knieeten und einerlei Messe anhörten, wäre etwas, aber nicht viel. Daß in geistlichen Sachen sie alle von Rom aus regiert werden sollten, war ihnen selbst nicht ersprießlich; denn der Tribut, der dahin ging, und das unzählbare Heer von Mönchen und Geistlichen, Nuncien und Legaten drückte die Länder. Zwischen den europäischen Mächten war damals weniger Friede als je; nebst andern Ursachen auch des falschen Staatssystems halben, das eben der Papst in Europa festhielt. Der heidnischen Seeräuberei war durchs Christentum gewehrt; mächtige Christennationen aber rieben sich hart aneinander, und jede derselben war innerlich voll Verwirrung, von einem geist- und weltlichen Raubgeist belebt. Eben diese Doppelherrschaft, ein päpstlicher Staat in allen Staaten, machte, daß kein Reich auf seine Prinzipien kommen konnte, an die man nur dachte, seitdem man von der Oberherrschaft des Papstes frei war. Als christliche Republik hat sich Europa also nur gegen die Ungläubigen gezeigt, und auch da selten zu seiner Ehre; denn kaum dem epischen Dichter sind die Kreuzzüge ruhmwürdige Taten.

3. Es wird der Hierarchie zum Ruhm angerechnet, daß sie dem Despotismus der Fürsten und des Adels eine Gegenmacht gewesen und dem niedern Stande emporgeholfen habe. So wahr dieses an sich ist, so muß es dennoch mit großer Einschränkung gesagt werden. Der ursprünglichen Verfassung deutscher Völker war der Despotismus eigentlich so ganz zuwider, daß sich eher behaupten ließe, die Könige haben ihn von den Bischöfen gelernt, wenn diese Seelenkrankheit gelernt werden dörfte. Bischöfe nämlich brachten aus ihrer mißbrauchten Schrift, aus Rom und ihrem eigenen Stande morgenländische oder klösterliche Begriffe von blinder Unterwerfung unter den Willen des Oberherren in die Gesetze der Völker und in seine Erziehung; sie waren's, die das Amt des Regenten zur trägen Würde machten und seine Person mit dem Salböl göttlicher Rechte zu Befugnissen des Eigendünkels weihten. Fast immer waren Geistliche die, deren sich die Könige zu Gründung ihrer despotischen Macht bedienten; wenn sie mit Geschenken und Vorzügen abgefunden waren, so dorften andere wohl aufgeopfert werden. Denn überhaupt, waren es nicht die Bischöfe, die in Erweiterung ihrer Macht und Vorzüge den Laienfürsten vorangingen oder ihnen eifersüchtig nachfolgten? Heiligten nicht eben sie die widerrechtliche Beute? Der Papst endlich, als Oberrichter der Könige und der Despot der Despoten, entschied nach göttlichem Rechte. Er erlaubte zur Zeit der karlingischen, fränkischen und schwäbischen Kaiser sich Anmaßungen, die ein Laie sich nur mit allgemeiner Mißbilligung hätte erlauben mögen, und das einzige Leben Kaiser Friedrichs des Zweiten aus dem schwäbischen Hause, von seiner Minderjährigkeit an unter der Vormundschaft des rechtsgelehrtesten Papstes bis zu seinem und seines Enkels Konradins Tode, mag die Summe dessen sein, was vom oberrichtlichen Amt der Päpste über die Fürsten Europas gesagt werden kann. Unvertilgbar klebt das Blut dieses Hauses am Apostolischen Stuhle. Welch eine fürchterliche Höhe, Oberrichter der Christenheit zu sein über alle europäischen Könige und Länder! Gregor VII., wahrlich kein gemeiner Mann, Innozenz III., Bonifacius VIII. sind davon redende Beweise.

4. Die großen Institute der Hierarchie in allen katholischen Ländern sind unverkennbar; und vielleicht wären die Wissenschaften längst verarmt, wenn sie nicht von den überbliebenen Brosamen dieser alten Heiligentafel noch spärlich ernährt würden. Indessen hüte man sich auch hier für Irrung am Geist voriger Zeiten. Keines Benediktiners Hauptabsicht war der Ackerbau, sondern die Mönchsandacht. Er hörte auf zu arbeiten, sobald er nicht mehr arbeiten dorfte, und wie viele Summen von dem, was er erwarb, gingen nach Rom oder wohin sie nicht sollten! Auf die nützlichen Benediktiner sind eine Reihe anderer Orden gefolgt, die zwar der Hierarchie zuträglich, dagegen aber Wissenschaften und Künsten, dem Staat und der Menschheit äußerst zur Last waren, vorzüglich die Bettelmönche. Alle sie, nebst den Nonnen jeder Art (die Brüder und Schwestern der Barmherzigkeit vielleicht allein ausgenommen), gehören einzig nur in jene harte, dunkle, barbarische Zeiten. Wer würde heutzutage ein Kloster nach der Regel Benedikts stiften, damit die Erde gebaut, oder eine Domkirche gründen, damit Jahrmarkt in ihr gehalten werde? Wer würde von Mönchen die Theorie des Handels, vom Bischofe zu Rom das System der besten Staatswirtschaft oder vom gewöhnlichen Scholaster eines Hochstifts die beste Einrichtung der Schulen lernen wollen? Damals indessen war alles, was der Wissenschaft, Sittlichkeit, Ordnung und Milde auch nur in seinen Nebenzwecken diente, von unschätzbarem Wert.

Daß man indes die erzwungenen Gelübde der Enthaltsamkeit, des Müßigganges und der klösterlichen Armut zu keiner Zeit und unter keiner Religionspartei dahin rechne! Dem päpstlichen Stuhl waren sie zu seiner Oberherrschaft unentbehrlich: er mußte die Knechte der Kirche von der lebendigen Welt losreißen, damit sie seinem Staat ganz lebten; der Menschheit aber waren sie nie angemessen noch ersprießlich. Lasst ehelos bleiben, betteln und Psalmen singen, lasst sich geißeln und Rosenkränze beten, wer kann und mag; daß aber Zünfte dieser Art, unter öffentlichem Schutz, ja unter dem Siegel der Heiligkeit und eines überströmenden Verdienstes, auf Kosten des geschäftigen, nützlichen Fleißes, eines ehrbaren Hauswesens, ja der Wünsche und Triebe unserer Natur selbst mit Vorzügen, Pfründen und einem ewigen Einkommen begünstigt werden, wer ist, der dies zu loben oder zu billigen vermöchte? Gregor den Siebenden kümmerten die Liebeseufzer der kranken Nonnen, die verstohlnen Wege der Ordensbrüder, die stummen und lauten Sünden der Geistlichen, die durch sie gekränkten Ehen, die gesammelten Güter der Toten Hand, der genährte Ehrgeiz des abgesonderten heiligen Standes und jede andere Verwirrung nicht, die daraus erwachsen mußte; im Buch der Geschichte aber liegen die Folgen davon klar am Tage.

5. Also wollen wir auch von den Wallfahrten heiliger Müßiggänger nicht viel rühmen; wo sie nicht auf eine versteckte Weise dem Handel oder der Kundschaft unmittelbar dienten, haben sie zur Länder- und Völkerkenntnis nur sehr zufällig und unvollkommen beigetragen. Allerdings war es eine große Bequemlichkeit, unter einem heiligen Pilgerkleide allenthalben Sicherheit, in wohltätigen Klöstern Speise und Ruhe, Reisegefährten auf allen Wegen und zuletzt im Schatten eines Tempels oder heiligen Haines den Trost und Ablaß zu finden, dessen man begehrte. führt man aber den süßen Wahn zur ernsten Wahrheit zurück, so sieht man in heiligen Pilgerkleidern oft Missetäter ziehen, die grobe Verbrechen durch eine leichte Wallfahrt versöhnen wollen, irre Andächtige, die Haus und Hof verlassen oder verschenken, die den ersten Pflichten ihres Standes oder der Menschheit entsagen, um nachher lebenslang verdorbene Menschen, halbe Wahnsinnige, anmaßende oder ausschweifende Toren zu bleiben. Das Leben der Pilger war selten ein heiliges Leben, und der Aufwand, den sie noch jetzt an den Hauptorten ihrer Wanderschaft einigen Königreichen kosten, ist ein wahrer Raub ihrer Länder. Ein einziges schon, daß diese andächtige Krankheit, nach Jerusalem zu wallfahrten, unter andern auch die Kreuzzüge hervorgebracht, mehrere geistliche Orden veranlasst und Europa elend entvölkert hat, dies allein zeugt schon gegen dieselbe; und wenn Missionen sich hinter sie versteckten, so hatten diese gewiß kein reines Gute zum Endzweck.

6. Das Band endlich, dadurch alle römisch- katholische Länder unleugbar vereint wurden, die lateinische Mönchssprache, hatte auch manche Knoten. Nicht nur wurden die Muttersprachen der Völker, die Europa besaßen, und mit ihnen die Völker selbst in Roheit erhalten, sondern es kam unter andern auch hiedurch insonderheit das Volk um seinen letzten Anteil an öffentlichen Verhandlungen, weil es kein Latein konnte. Mit der Landessprache wurde jedesmal ein großer Teil des Nationalcharakters aus den Geschäften der Nation verdrängt, wogegen sich mit der lateinischen Mönchssprache auch jener fromme Mönchsgeist einschlich, der zu gelegener Zeit zu schmeicheln, zu erschleichen, wohl auch zu verfälschen wußte. Daß die Akten sämtlicher Nationen Europas, ihre Gesetze, Schlüsse, Vermächtnisse, Kaufund Lehninstrumente, endlich auch die Landesgeschichte so viele Jahrhunderte hindurch latein geschrieben wurden, dies konnte zwar der Geistlichkeit, als dem gelehrten Stande, sehr nützlich, den Nationen selbst aber nicht anders als schädlich sein. Nur durch die Kultur der vaterländischen Sprache kann sich ein Volk aus der Barbarei heben; und Europa blieb auch deshalb so lange barbarisch, weil sich dem natürlichen Organ seiner Bewohner fast ein Jahrtausend hin eine fremde Sprache vordrang, ihnen selbst die Reste ihrer Denkmale nahm und auf so lange Zeit einen vaterländischen Kodex der Gesetze, eine eigentümliche Verfassung und Nationalgeschichte ihnen ganz unmöglich machte. Die einzige russische Geschichte ist auf Denkmale in der Landessprache gebaut, eben weil ihr Staat der Hierarchie des römischen Papstes fremde geblieben war, dessen Gesandten Wladimir nicht annahm. In allen andern Ländern Europas hat die Mönchssprache alles verdrängt, was sie hat verdrängen mögen, und ist nur als eine Notsprache oder als der schmale Übergang zu loben, auf welchem sich die Literatur des Altertums für eine bessere Zeit retten konnte.

Ungern habe ich diese Einschränkung des Lobes der mittleren Zeiten niedergeschrieben. Ich fühle ganz den Wert, den viele Institute der Hierarchie noch für uns haben, sehe die Not, in welcher sie damals errichtet wurden, und weile gern in der schauerlichen Dämmerung ihrer ehrwürdigen Anstalten und Gebäude. Als eine grobe Hülle der Überlieferung, die dem Sturm der Barbaren bestehen sollte, ist sie unschätzbar und zeigt ebensowohl von Kraft als Überlegung derer, die das Gute in sie legten; nur einen bleibenden positiven Wert für alle Zeiten mag sie sich schwerlich erwerben. Wenn die Frucht reif ist, zerspringt die Schale.

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