INHALT:
Verbittert trauert Elektra um ihren Vater
Agamemnon, der nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen
Krieg von ihrer eigenen Mutter Klytaimnestra und deren
Liebhaber Aigisthos heimtückisch erschlagen worden war.
Elektra, geknechtet von den Mördern ihres Vaters, sinnt
auf Rache und hofft auf die Rückkehr ihres geliebten
Bruders Orest, den sie damals gerade noch rechtzeitig vor
ähnlichem Schicksal bewahrt und der Obhut eines treuen
Dieners übergeben hatte, der ihm seitdem, fern der
Heimat, als fürsorglicher Erzieher zur Seite gestanden
war. Vergeblich versuchen die Frauen von Mykene Elektra
zu trösten.
Elektras Schwester Chrysothemis, die sich längst duldend
mit ihrem Schicksal abgefunden hat, warnt Elektra: wenn
sie ihre Klagen nicht verstummen ließe, werde sie von
Aigisthos, sobald dieser wieder zurück sei, und von
ihrer Mutter lebendig in ein Felsengrab gesperrt. Doch
Elektra, bereit ihren Feinden zu trotzen, wirft ihr bloß
Feigheit vor. Chrysothemis, die einsieht, daß jedes
weitere Wort vergeblich ist, will sich auf den Weg
machen, die Grabspenden, die sie in Händen trägt, am
Grab ihres Vaters zu opfern. Die Mutter habe sie gesandt,
getrieben von einer nächtlichen Vision, durch diese
Gaben den toten Vater zu versöhnen. Elektra beschwört
ihre Schwester, des Vaters Grab nicht durch die Gaben der
unseligen Mutter zu entehren.
Klytaimnestra bekennt sich reuelos zum Gattenmord, denn
sie habe Agamemnon zu recht getötet, weil dieser ihre
Tochter Iphigenie am Altar der Artemis geopfert hat. Doch
Elektra schleudert ihr entgegen, sie habe Agamemnon nur
getötet, weil sie die Geliebte des Aigisthos geworden
war, mit dem sie nun schamlos zusammenlebt. Vor Zorn
bebend und sich nur mühsam beherrschend fleht
Klytaimnestra Apollon um Hilfe an.
Ein fremder alter Mann, der, wie er sagt, aus Phokis sei,
überbringt die Botschaft, daß Orest tot sei, gefallen
im Wagenrennen zu Delphi. Klytaimnestra, die beständig
fürchten mußte, daß Orest einst als Rächer Agamemnons
wiederkehren würde, ist erleichtert und meint, ihr Gebet
sei erhört worden; doch Elektra ist verzweifelt und
sieht sich um ihre letzte Hoffnung betrogen.
Elektra klagt den Frauen von Mykene ihr Leid, da naht
freudestrahlend Chrysothemis: auf dem Grab des Vaters
habe sie unverkennbare Zeichen gefunden, daß Orest
zurückgekommen sei. Doch schnell schwindet ihre Freude,
als ihr Elektra die Botschaft des Alten darlegt. Elektra
beschwört ihre Schwester: nun seien nur mehr sie beide
als Rächer des Vaters verblieben. Gemeinsam müßten sie
die Mutter und Aigisthos töten. Doch geängstigt will
sich Chrysothemis lieber den Mächtigen beugen.
PAUSE
Ein fremder Jüngling überbringt die
Urne, in der die Asche Orests bewahrt sei. Elektra, die
Urne umklammernd, beweint ihren Bruder. Da gibt sich der
Jüngling zu erkennen: es ist Orest. Seinen
vermeintlichen Tod habe er nur benutzt um Klytaimnestra
in Sicherheit zu wiegen. Der Alte sei sein ehemaliger
Erzieher und ihm treu ergeben. Jubelnd umarmt Elektra
ihren Bruder. Nach einem kurzen Gebet eilt Orest in den
Palast und tötet die Mutter, während Elektra das Tor
bewacht.
Aigisthos, der unterwegs vernommen hat, daß Orest tot
sei, kehrt freudig zurück. Elektra öffnet das Tor, wo
man den verhüllten Leichnam Klytaimnestras erblickt.
Aigisthos meint Orests toten Körper vor sich zu haben,
doch als er das Tuch zurückschlägt, erkennt er seine
tote Geliebte. Orest treibt ihn in den Palast und tötet
ihn an der selben Stelle, an der Aigisthos Agamemnon
erschlagen hatte.
Szenenfotos
|
Die Leiden von Tantalos
Geschlecht
Tantalos, ein Sohn des Zeus, wurde von den Göttern so
hoch geachtet, daß er an ihrer Tafel sitzen und frei mit
ihnen verkehren durfte. Doch soviel Glück machte ihn
übermütig; er entwendete Nektar und Ambrosia von der
Tafel der Olympier und verriet die Geheimnisse des Zeus
den Sterblichen. Seinen größten Frevel aber beging er,
als er, um die Allwissenheit der Götter zu prüfen,
seinen eigenen Sohn Pelops zerstückelte und den Göttern
als Mahl vorsetzte. Keiner von ihnen rührte das grausige
Mahl an; nur die in Schmerz über ihre verlorene Tochter
Persephone versunkene Demeter aß ein Stück von der
Schulter. Die Götter fügten die Glieder des Pelops
wieder zusammen und er wurde so zu einem zweimal
Geborenen. Anstelle der fehlenden Schulter bekam er eine
aus Elfenbein, weshalb nun alle seine Nachkommen ein
weißes Mal an der Schulter tragen. Tantalos aber wurde
für seine Freveltat in den Hades gestoßen, wo er
höllische Qualen erleiden mußte. Mitten in einen Teich
gebannt konnte er, vom Durst gequält, doch niemals das
labende Wasser erreichen; auch litt er verzehrenden
Hunger, und ein Felsblock der über ihm schwebte und
beständig herunterzustürzen drohte, versetzte ihn in
Todesangst.
Pelops wanderte nach Westen und kam zu dem später nach
ihm benannten Peloponnes, wo er sich in die schöne
Königstochter Hippodameia verliebte. Doch ihr Vater
Oinomaos machte es denen, die um ihre Hand warben, nicht
leicht.
Da ihm nämlich geweissagt worden war, daß er durch
seinen Schwiegersohn umkommen würde, so verlangte er,
von ihm im Wagenrennen besiegt zu werden; wer aber
verlor, den tötete er mit der Lanze. Pelops flehte zu
Poseidon, worauf ihm dieser einen goldenen Wagen und ein
Paar windschneller Rosse schenkte. Doch auch die
verliebte Hippodameia half ihm, indem sie Myrtilos, den
Wagenlenker ihres Vaters, mit falschen Zuneigungen so
betörte, daß dieser die eisernen Splinten der Achse
durch schwarzes Wachs ersetzte. So zerschellte im
Wettkampf der Wagen des Oinomaos und dieser stürzte zu
Tode. Den lästigen Myrtilos aber stürzte Pelops ins
Meer. Sterbend verfluchte dieser das ganze Geschlecht des
Pelops, auf dem seither finsteres Verhängnis lastet.
Eines Tages wandte Pelops seine Liebesgunst einer
schönen Nymphe zu, die ihm den Knaben Chrysippos gebar.
Tief verletzt darüber befahl Hippodameia ihren beiden
Söhnen Atreus und Thyestes, den Halbbruder zu töten.
Als Pelops den Mord entdeckte, verbannte er seine beiden
Söhne samt der Mutter, die in Mykene gastlich
aufgenommen wurden. Später wurden Atreus und Thyestes
Könige von Mykene und Argolis. Doch bald wurden sie
über die Herrschaft uneinig.
Nach dem Erstgeburtsrecht kam Atreus die Herrschaft zu;
außerdem besaß er einen Widder mit goldenem Fließ.
Thyestes verleitete Airope, Atreus Gemahlin, ihm den
Widder auszuhändigen, worauf er aber von Atreus verjagt
wurde. Um sich dafür zu rächen sandte er des Atreus
Sohn, Pleisthenes, den er als den seinigen aufgezogen
hatte, nach Mykene, um Atreus zu ermorden. Doch der
Anschlag mißlang und Atreus tötete unwissentlich seinen
eigen Sohn. Zum Schein verzieh er Thyestes, doch dann
bewirtete er ihn mit dem Fleisch seiner geschlachteten
Söhne Pleisthenes und Tantalos. Anderen Erzählungen
zufolge wurde Tantalos erst später durch Agamemnon
getötet. Entsetzt floh jedenfalls Thyestes und
verfluchte das Haus der Pelopiden abermals.
Als eine Hungersnot das Land heimsuchte und das Orakel
sprach, daß nur die Rückführung Thyestes helfen
könnte, ließ Atreus diesen suchen, fand aber zunächst
nur dessen kleinen Sohn Aigisthos und zog ihn bei sich
auf. Später wurde der Gesuchte von Agamemnon und
Menelaos, den Söhnen des Atreus, gefunden. Atreus wollte
Thyestes durch dessen eigenen Sohn, Aigisthos, umbringen
lassen. Doch dieser tötete statt dessen gemeinsam mit
seinem Vater ihn selbst und Thyestes übernahm die
Herrschaft und vertrieb die Söhne des Atreus.
Beide flüchteten zu Tyndareos, dem König von Sparta,
der sie liebgewann und mit seinen beiden Töchtern
vermählte. Menelaos erhielt die schöne Helena und
Agamemnon die Klytaimnestra. Manchen Erzählungen nach
war Klytaimnestra bereits mit Tantalos, dem Sohn des
Thyestes, verheiratet, als Agamemnon in heftiger Liebe zu
ihr entflammte und kurzerhand ihren Mann, seinen eigenen
Vetter, tötete. Er schlug Tantalos tot, riß sein
weinendes Kind von der Brust der Mutter, entführte die
junge Klytaimnestra und machte sie gewaltsam zu seiner
Frau. Helena und Klytaimnestra, waren
Zwillingsschwestern, doch entstammte Helena der
Verbindung Ledas, der Gattin des Tyndareos, mit dem
Göttervater Zeus. Leda ist auch die Mutter von Castor
und Pollux, des anderen berühmten Zwillingspaares der
griechischen Mythologie. Menelaos wurde der Nachfolger
von Tyndareos und verhalf seinem Bruder Agamemnon zur
Herrschaft in Mykene, aus dem Thyestes und Aigisthos
vertrieben wurden.
Als Paris die schöne Helena raubte und nach Troja
entführte, rüsteten sich die Griechen zum Krieg.
Agamemnon stand seinem Bruder Menelaos bei, doch da er
übermütig im heiligen Hain der Artemis einen Hirsch
erlegt hatte, strafte die Göttin die vor Aulis liegende
griechische Flotte mit totaler Windstille. Nur die
Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie konnte die
Göttin versöhnen. Dieses Opfer verzieh Klytaimnestra
ihrem Mann niemals und schwor blutige Rache. Daß
Iphigenie durch Artemis selbst gerettet worden war,
wußte ja damals niemand. Auch Aigisthos sieht nun die
Stunde der Rache nahen. Das Unheil nimmt seinen Lauf, dem
neues Leid entspringt, und dieser neue tiefe Schmerz, der
im Haus der Pelopiden wühlt, hat einen Namen, der,
wörtlich übersetzt, die Strahlende
bedeutet:
Elektra.
|
Schuld und Sühne, Rache und Vergeltung,
oder
Liebe, Mitleid und Vergebung
Wolfgang Peter
Sophokles räumte dem Mitleid (eleos, wovon sich die
griech. Elegie, das Klagelied, ableitet) einen besonders
hohen Wert ein, den es wenig früher in der ganzen
antiken und orientalischen Welt noch nicht hatte, der
sich aber in den elegischen Dichtungen der Griechen schon
abzuzeichnen begann. Die Elegie war ursprünglich die
Totenklage, in der sich das persönliche Leid
ausdrückte, das man über den Tod eines nahen Verwandten
empfand. Die Elegie ist ganz entschieden von
persönlichen Gefühlen geprägt und leitet damit bereits
von dem noch ganz überpersönlich erlebten Epos, in dem
die übermächtigen Götter die Geschicke der Helden
lenkten, zum ganz individuellen Ausdruck der Lyrik über.
Eine ganz neue menschliche Fähigkeit leuchtet damit etwa
im fünften vorchristlichen Jahrhundert erstmals in der
Menschheitsgeschichte auf, in jener bedeutenden Epoche
menschheitlicher Entwicklung, die der Philosoph Karl
Jaspers treffend als Achsenzeit bezeichnet hat: denn
tatsächlich spannte sich damals eine unsichtbare Achse
bedeutender Menschen vom Orient zum Okzident, die von
einem ganz neuen humanistischen Ideal beseelt waren, das
sie die allmählich erwachende menschlichen
Individualität in ihrem einzigartigen Wert würdigen
ließ. Aber auch auf die unabsehbaren Gefahren wiesen sie
hin, die entstehen, wenn der Mensch von allen guten
Göttern verlassen, einsam auf sich selbst
gestellt, im wüstesten Egoismus zu versinken droht, wie
das wenig später viele römische Cäsaren in ihrer
maßlosen Hybris, beispielgebend für alle Diktatoren bis
zum heutigen Tag, so schrecklich vorgelebt haben.
»Zum Mitleid«, sagt Jean Paul, »genügt der Mensch,
zur Mitfreude gehört ein Engel.« - und wie viele sind
heute schon genügend Mensch geworden, um
echtes Mitleid empfinden zu können? Das Mitleid, wie es
Sophokles beseelte , will ganz konkret und nicht als
strohener moralinsaurer Begriff aufgefaßt werden: durch
die Art, wie er seine Stücke gestaltete, fordert er das
Publikum zum unmittelbaren und intensiven innigen
Miterleben des Leides der handelnden Personen heraus.
Nicht mehr allein der überpersönliche Wille der
Götter, wie noch bei Aischylos, ist es, den man mit
Ehrfurcht verfolgen muß, sondern der ganz persönliche
Schmerz des einzelnen Menschen treibt die Handlung voran.
Das gilt wohl ganz besonders für Sophokles
Elektra. Wirkliche Empathie zu entwickeln,
nicht durch den Intellekt getrübte Einfühlung, die
Fähigkeit sich in die Situation und emotionale Lage
eines anderen intuitiv hineinzuversetzen und ihn und sein
Verhalten so unmittelbar und ohne nachzudenken zu
verstehen dazu regt Sophokles uns an. Furcht und
Mitleid sollen uns zu einer inneren seelischen Reinigung,
zur Katharsis führen das hat wenig später
Aristoteles als die wesentliche Aufgabe des Dramas
angesehen. Dieser psychohygienische, therapeutische
Ansatz ist untrennbar mit dem griech. Theater verbunden.
Und nicht zufällig hat man den großen Dichter Sophokles
zugleich als großen Heiler verehrt.
Sophokles führt uns einen scheinbar unentrinnbaren
Teufelskreis von Schuld und Sühne, von Furcht, Rache,
Haß und Vergeltung vor Augen. Wer ist hier nicht
tiefer Jahr um Jahr in Trauer fallend, mitvererbter
Schuld in gleichem Maß anheimgegeben wie gehäufter
Unbill, Menschennot und Krieg (J. Weinheber)? Wer
hätte hier nicht sein psychologisch tief begründetes
Recht auf Rache? Wohl ist Klytaimnestra des
grausamen Mordes an ihrem Gatten schuldig, sie gesteht es
sogar freimütig ein; aber hat er sie nicht gewaltsam zur
Frau genommen, nachdem er Klytaimnestras ersten Gatten
und dessen Kind getötet hat, wie uns manche antiken
Erzähler berichten? Hat er nicht Klytaimnestras geliebte
Tochter Iphigenie am Altar geopfert? Darf man
Klytaimnestra einfach verdammen, weil sie dafür Sühne
fordert? Kann man aber nicht zugleich den unstillbaren
Haß Elektras verstehen, die zusehen mußte, wie ihr
geliebter Vater grausam hingeschlachtet und zerstückelt
wurde, die ihren Bruder Orest nur im letzten Moment vor
dem gleichen Schicksal bewahren konnte, und die seitdem
rechtlos und geknechtet im Hause ihrer Mutter und deren
Liebhaber leben muß. Und dieser selbst, Aigisthos, muß
er nicht die Atriden hassen um das, was man seinem
Geschlecht angetan hat? Auge um Auge, Zahn um
Zahn, dieses alttestamentarische Prinzip erfüllt
sich hier auf schrecklichste Weise. Erscheint uns aber
deshalb Chrysothemis, die solche Gefühle nicht in sich
aufkommen läßt, als edler? Oder arrangiert sie sich
bloß aus philiströser Feigheit mit den Machthabern?
Darf man das himmelschreiende Unrecht, das auf ihr und
ihrer Schwester lastet, unwidersprochen bestehen lassen?
Liegt diese Epoche verwirrender schicksalsbestimmender
Emotionen und Ressentiments wirklich schon mehr als
zweitausend Jahre hinter uns, oder wirken sie nicht
vielmehr auch heute noch, nur spärlich durch den weichen
Mantel der Wohlstandsgesellschaft verhüllt, mit kaum
gebrochener Gewalt? Wie lange ist es her, seit
blindgläubige Nazifanatiker haßerfüllt geschrien
haben: der Jud ist schuld! Und hat sich
nicht die breite Masse feige, aus allerdings nur allzu
begründeter Angst um das eigene Leben, mit den
Machthabern solidarisiert und dadurch dieses Terrorregime
überhaupt erst ermöglicht? Wird nicht heute noch an
allen Ecken der Welt unverdient erlittenes Leid mit neuem
Leid vergolten, das wieder Rache fordert und so
endlos weiter. Machen sich nicht gewissenlose Diktatoren,
dieses unaufhörlich rollende Rad von Schuld und
Vergeltung geschickt für ihre Zwecke zunutze? Geschieht
nicht ähnliches tagtäglich im ehemaligen Jugoslawien,
in weiten Teilen Afrikas und an ungezählten anderen
Orten? Wie würden wir selbst in ähnlicher Situation
empfinden und reagieren?
Einzig Orest selbst scheint mit kühler Überlegung der Gerechtigkeit genüge
zu tun; er handelt nicht aus Haß, sondern im göttlichen Auftrag Apolls.
Und dennoch verfolgen ihn sogleich die Erinnyen, die Rachegeister der
toten Mutter oder er wird, wie es uns Euripides (Orestes
Vers 396) schildert, von der Stimme seines Gewissens (syneisis, später
syneidesis) gequält. Danach gefragt, was ihn quäle, läßt Euripides Orest
antworten: Das Bewußtsein darum, daß ich von mir selbst aus weiß,
etwas Schreckliches getan zu haben. Ein einzigartiger Moment in
der Menschheitsgeschichte ist damit bezeichnet, wenn hier erstmals vom
Gewissen gesprochen wird, von einer Fähigkeit, die die Menschheit vordem
nicht kannte, obwohl ihr schon im 1. Buch Moses als Folge des Sündenfalls
prophezeit wurde, daß ihr wie Gott sein werdet, indem ihr Gutes
und Böses erkennt. Jetzt erst beginnt sich dieses Wort aber wirklich
zu erfüllen. Bis dahin ließen sich die Menschen, die sich noch kaum als
Individuum, sondern als unabtrennbares Glied ihrer sozialen Gemeinschaft,
ihres Stammes oder Volkes, fühlten, von der Stimme der Götter lenken,
die entweder unmittelbar in mystischer Versenkung, oder durch Priester
und Volksführer, denen sie vertrauensvoll folgten, zu ihnen sprach; oder
sie ließen sich von den blinden Emotionen leiten, die aus der Tiefe ihres
Wesens hervorbrachen und die vielfach als dämonische Mächte empfunden
wurden. So entfaltete sich das menschliche Leben lange Zeit zwischen göttlicher
Beseligung und dämonischer Besessenheit, und der Mensch war bloß der willenlose
Schauplatz, auf dem Götter und Dämonen ihre Kämpfe austrugen. Heute, in
unserer aufgeklärten Zeit, spricht man kaum mehr von göttlicher
Beseligung ob wir allerdings ganz frei von den Dämonen sind, die
in den unterbewußten Tiefen unserer Seele walten, sei dahingestellt.
Wesentlich hat sich im Zuge der Jahrtausende das Profil menschlicher Auseinandersetzungen
gewandelt. Dem Kollektivbewußtsein der alten Zeiten entsprechend standen
ehemals Völker gegen Völker, Stamm gegen Stamm, Familie gegen Familie.
Die Blutrache war weit verbreitet. War irgend ein Mitglied eines Stammes
oder einer Familie getötet worden, so tötete man dafür ein beliebiges
Mitglied des feindlichen Stammes ganz egal, ob dieses nun durch
seine Taten persönlich Schuld auf sich geladen hatte oder nicht. Und als
ehrlos und dem Willen der Götter widersprechend hätte man es empfunden,
nicht derart Sühne zu fordern. Blut fordert Blut das ist das unausweichliche
Gesetz der alten Welt. Nicht Individuen, sondern die durch die Abstammung,
durch die Blutsbande begründeten Kollektive stehen einander feindlich
gegenüber. Von persönlicher Schuld, von individueller Sünde, wird noch
kaum gesprochen. Am Anfang steht die von Generation zu Generation sich
fortschleppende Erbsünde, die kollektive Schuld der ganzen Menschheit.
Vieles davon wirkt bis zum heutigen Tage nach, wo immer noch Familienclans
gegeneinander kämpfen und der Kriegsruf für Volk und Vaterland!
ertönt. Daß sich dieses Bild aber längst zu wandeln begonnen hat ist unverkennbar.
Immer mehr tritt das Individuum in den Vordergrund, während sich die Volks
und Stammesgrenzen zu verwischen beginnen. An die Stelle des Kampfes der
Kollektive tritt immer stärker die Auseinandersetzung der Individuen,
und was an nationalistischen Impulsen heute an vielen Orten wieder aufflammt,
ist das letzte Aufbäumen eines längst überständigen Prinzips. Immer mehr
gehen die Bruchlinien, die die Menschen entzweien, quer durch alle Völker,
Rassen und soziale Schichten. Der Kampf aller gegen alle ist die drohende
Zukunftsperspektive: der Kampf der Kinder gegen ihre Eltern, gegen ihre
Lehrer, gegen die gesamte Gesellschaftsordnung; der als fruchtbarer Konkurrenzkampf
hochstilisierte Vernichtungskrieg der Unternehmer gegeneinander; die Rivalität
der Arbeitnehmer um die rarer werdenden Arbeitsplätze oder um die der
Gemeinschaft abgerungenen Sozialleistungen; die Entzweiung von Mann und
Frau, durch die die Ehe immer mehr zerbricht ... man könnte diese
Liste endlos fortsetzen.
Aber nicht nur, was die Menschen entzweit, sondern auch
das, was sie in Liebe verbindet, hat sich immer mehr
gewandelt. Alle Liebe war in alten Zeiten auf die
Blutsbande gegründet. Die Nahehe unter eng Verwandten
war an der Tagesordnung und jedes fremdgehen
zu einem anderen Stamm oder Volk streng verpönt. Kaum
war ein schlimmeres Verbrechen möglich, als das Blut des
eigenen Stammes zu vergießen, ein Vergehen, das
notwendig zur Selbstzerfleischung eines ganzen
Geschlechts führen mußte. Die und nur die zu lieben,
denen man durch die Geburt verbunden war, war oberstes
Gebot. Den ägyptischen Pharaonen erschien die
Geschwisterehe als das geeignete Mittel, ihre
Herrscherdynastie zu stärken ein auf Vererbung
gegründetes Adelsprinzip, das einst eine große Rolle in
der Menschheitsgeschichte spielte, dann aber immer mehr
zur völligen Dekadenz führte. Zurecht ist daher heute
der Inzest in weitesten Teilen der Menschheit verpönt.
Auch Aigisthos, der Mörder des Agamemnon, soll einer
solchen inzestuösen Beziehung entstammen; so wissen es
jedenfalls die meisten Erzähler zu berichten. Thyestes
soll nach der Abschlachtung seiner Söhne nur eine
Tochter, Pelopia, verblieben sein. Nach einer Darstellung
wurde Thyestes durch das delphische Orakel angewiesen,
daß er den Rächer seines Hauses mit der eigenen Tochter
zeugen solle. Anderen Erzählern zufolge nahte sich
Thyestes seiner Tochter in einer Nacht, in der Athene ein
Opfer dargebracht wurde. Pelopia führte bei diesem Fest
den Reigen der Jungfrauen. Dabei glitt sie aus und
befleckte ihr Kleid mit dem Blut des Opfertieres. Um sich
reinzuwaschen, eilte sie zum Fluß und entkleidete sich.
Thyestes, der sich im Ufergebüsch versteckt hielt, fiel
mit verhülltem Haupt über sie her. Bald darauf gebar
sie einen Knaben und setzte ihn aus. Eine Ziege ernährte
den Knaben, und daher hieß er Aigisthos, der blutige
Rache an den Atriden nehmen sollte.
Die alten Blutsbande beginnen in der frühgriechischen
Zeit zu zerbrechen, nirgends wird das so deutlich
geschildert wie in dem tragischen Schicksal von Tantalos
Geschlecht, das sich mehr und mehr frevelnd an der
Götterwelt durch Hochmut, Machtgier und Eitelkeit selbst
zerstört, und das in dem Drama der Elektra seinem
Höhepunkt zueilt. Der geliebte Vater wurde ihr grausam
entrissen und von ihrer Schwester, die sich mit den
Mördern ihres Vaters arrangiert, trennen sie tiefe
Abgründe. Als sie auch noch den heiß ersehnten Bruder
tot wähnen muß, scheinen ihr alle Liebesbande grausam
zerrissen: Einsam bin ich, deiner beraubt wie auch
des Vaters, und dienen muß ich wieder den mir zumeist
verhaßten Menschen, den Mördern meines Vaters! Hab
ichs nicht gut getroffen? Ganz allein auf
sich selbst gestellt, steigert sich in ihrer Seele der
unentrinnbar scheinende teuflische Kreislauf von Haß,
Rachsucht und bitterstem Leid immer mehr. Das sind aber
zugleich die Geburtswehen ihrer unverwechselbaren ganz
individuellen Persönlichkeit. Und das ist es gerade,
wodurch uns ihr Charakter, egal ob wir uns zustimmend
oder ablehnend zu ihm stellen mögen, so nahegeht. Sie
zeigt uns die Individualität als ein Werdendes, sie
überschreitet die Grenze zwischen einer alten und einer
neuen Welt, und, wie Josef Weinheber treffend sagt,
immer werden an den Grenzen groß die Gefühle.
Denn im Übergang ist Weihe und Muß und jene Todkraft
des Opfers. Und niemand ist heute, der, freilich
glücklicherweise meist nicht unter so schrecklichen
äußeren Rahmenbedingungen, in innerer Seelendramatik
diese Geburtswehen seines unverwechselbaren,
einzigartigen Ichs durchleben müßte. Das gilt ganz
besonders für unser an innerer und äußerer Dramatik so
reiches Jahrhundert, und nicht zufällig wurde gerade mit
diesem Jahrhundert zugleich die Psychoanalyse geboren, um
den Menschen, wie ungeschickt auch immer, in ihrem
seelischen Leid beizustehen. Freilich gab es schon in den
früheren Jahrhunderten immer wieder Menschen, die diesen
Prozeß vollziehen mußten und sich in ihrem Wirken ganz
auf sich selbst gestellt haben. Die breite Masse aber
fühlte sich noch instinktiv von dem sozialen Kollektiv
getragen, dem sie angehörte. Diese Zeit ist für weite
Teile der Menschheit, namentlich für die sogenannte
westliche Welt, endgültig vorbei, und viele müssen
heute durchleben, was früher wenigen vorbehalten war.
Nicht, daß die Menschen nicht früher auch unter den
unterschiedlichsten Lebensbedingungen oft Schrecklichstes
zu erleiden gehabt hätten; aber daß sie mit diesem Leid
ganz auf sich selbst allein gestellt sind, ist das Neue,
das uns Elektra als eine der ersten vorlebt. Kaum mehr
kann heute beseligendes Gottvertrauen dieses Leid
lindern; wenn man überhaupt noch an die Götter glaubt,
mit denen man ohnehin schon längst nicht mehr in regem
geistigen Verkehr steht, wie in den alten Kulturen, dann
macht man ihnen höchsten noch Vorwürfe darüber, daß
sie all dies Leid in der Welt zulassen können. Selbst
der Chor, das Urbild der kollektiven Gemeinschaft, muß
angesichts Elektras Qualen ausrufen: Wo sind deine
Blitze Zeus? Wo deine Strahlen Helios? wenn ihr dies
schaut und euch verbergt? Überall dort setzt
endlich die Götterdämmerung ein, wo die Individualität
geboren wird. Einstmals haben die Menschen überall in
der Natur, überall in den sozialen Zusammenhängen das
göttliche Wirken unmittelbar erlebt. Vom Jenseits war
damals nicht die Rede, denn was wir heute so bezeichnen
würden, war damals mindestens genauso gegenwärtige und
diesseitige Tatsache wie die äußere Welt. In der
frühgriechischen Zeit ist aber die Kluft zwischen
Diesseits und Jenseits schon längst aufgerissen. Stand
man ehemals noch mit den verstorbenen Ahnen in engem
geistigen Kontakt, so fühlt man sie jetzt in ein
düsteres jenseitiges Schattenreich verbannt.
Lieber ein Bettler in der Oberwelt, als ein König
im Reich der Schatten - so tönt uns der Klageruf
des gefallenen Achilleus aus der Unterwelt entgegen. Der
Tote verliert sich für immer in der ewigen Finsternis,
und so muß auch der Chor der trauernden Elektra
gestehen: Doch niemals wirst du aus des Hades
allesverschlingendem See den Vater wieder auferstehen
lassen mit Totenklagen noch Gebeten. So wurde der
Individualismus zugleich zum entscheidensten Wegbereiter
des ödesten und sinnentleertesten Materialismus, indem
auch noch der leiseste Schatten des Jenseits verschwunden
ist: ... dann muß der Mensch endlich aus seinem
tausendjährigen Traum erwachen und seine totale
Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er
weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande
des Universums hat, das für seine Musik taub ist und
gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder
Verbrechen. (J. Monod)
Daß alles Dasein leidvoll ist, das hat auch der indische
Prinz Siddhartha Gautama, der spätere Buddha, der zehn
Jahre vor der Geburt des Sophokles gestorben ist, als die
erste seiner vier edlen Wahrheiten erkannt. Und daß die
Wurzel dieses Übels mit der Ichwerdung zusammenhängt,
wurde ihm ebenfalls klar, und so forderte er, daß das
Ich im leidlosen Zustand des Nirwana, befreit vom Wahn
der Selbstheit, endgültig verlöschen soll. Nur so kann
das endlose Rad der steten Wiedergeburt - an die fast
alle orientalischen Völker glauben in die
leidvolle Erdenwelt angehalten werden. Liebe und Mitleid
zu allen Erdenwesen zu entwickeln, ganz unabhängig von
irgendwelchen Blutsbanden, sind die Mittel dazu.
Auch das Abendland hat die Gefahren der
Individualisierung erkannt, und auch hier spielen Liebe
und Mitleid zu allen Menschen und zur ganzen Welt eine
wesentliche Rolle. Aber ganz im Unterschied zum Orient
soll das Ich nicht verlöschen, sondern im Gegenteil
immer mehr gestärkt werden, bis es sich in Liebe mit der
ganzen Welt vereint. Du bist Petrus, das heißt
Fels; und auf diesen Felsen will ich meine Kirche
bauen. - dieser Fels ist nichts anderes als das
menschliche Ich, das unverrückbar den brandenden Wogen
ungezügelter Emotionen, die nach Rache und Vergeltung
dürsten, standhält, und die wahre Kirche ist die durch
keinerlei natürliche Instinkte erzwungene, freie
geistige Gemeinschaft aller menschlichen
Individualitäten. Das Ich ist rein geistiger
göttergleicher Natur Ihr seid
Götter! spricht der Herr und trägt in sich
die Kraft, aus sich selbst heraus zu wissen, was gut und
was böse ist. Die alte orientalische Weisheit, die die
soziale Gemeinschaft der Menschen ordnete, ist, wenn sich
auch noch so viele Dokumente dieser Zeit erhalten haben,
längst verklungen. Das menschliche Ich ist nun auf sich
selbst gestellt Da steh ich nun ich armer
Tor! - aber im innersten seines Herzens trägt nun
jeder Mensch den Keim eines neuen Wissens, aus dem er
selbstverantwortlich gute Taten setzen kann, die sich
nicht auf Rache und Vergeltung, sondern auf Liebe,
Mitleid und Vergebung gründen. Dieser Weg hat eben erst
begonnen, und zwei Jahrtausende sind nichts im Rahmen der
menschheitlichen Entwicklung. Wie es weitergehen wird,
liegt nun in unserer Hand; aber erfüllen kann sich für
jeden die zentrale Idee der mittelalterlichen
Parzival-Erzählung: Der reine Tor, durch Mitleid
wissend!
|