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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried    

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erstes Buch

Erstes Buch

I

Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen

Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen,  wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll.  Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation  und Erhaltung der Geschöpfe empfängt, so muß man  sie zuvörderst nicht allein und einsam, sondern im  Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist.  Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht,  Wärme, Leben und Gedeihen erhält. Ohne diese  könnten wir uns unser Planetensystem nicht denken,  sowenig ein Zirkel ohne Mittelpunkt stattfindet; mit  ihr und den wohltätigen Anziehungskräften, womit sie und alle Materie das ewige Wesen begabt hat, sehen  wir in ihrem Reich nach einfachen schönen und herrlichen Gesetzen Planeten sich bilden, sich um ihre  Achse und um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt  in Räumen, die mit ihrer Größe und Dichtigkeit im  Verhältnis sind, munter und unablässig umherdrehn;  ja nach eben diesen Gesetzen sich um einige derselben Monde bilden und von ihnen festgehalten werden. Nichts gibt einen so erhabnen Blick als diese Einbildung des großen Weltgebäudes, und der menschliche  Verstand hat vielleicht nie einen weitern Flug gewagt  und zum Teil glücklich vollendet, als da er in Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant [1] die einfachen, ewigen und vollkommenen Gesetze der Bildung und Bewegung der Planeten aussann und feststellte.

Mich dünkt, es ist Hemsterhuis, der es beklagt, daß dies erhabene Lehrgebäude auf den ganzen Kreis unsrer Begriffe die Wirkung nicht tue, die es, wenn es zu  den Zeiten der Griechen mit mathematischer Genauigkeit festgestellt wäre, auf den gesamten menschlichen  Verstand würde getan haben. Wir begnügen uns meistens, die Erde als ein Staubkorn anzusehen, das in  jenem großen Abgrunde schwimmt, wo Erden um die  Sonne, wo diese Sonne mit tausend andern um ihren  Mittelpunkt und vielleicht mehrere solche Sonnensysteme in zerstreuten Räumen des Himmels ihre Bahnen vollenden, bis endlich die Einbildungskraft sowohl als der Verstand in diesem Meer der Unermeßlichkeit und ewigen Größe sich verliert und nirgend  Ausgang und Ende findet. Allein das bloße Erstaunen, das uns vernichtigt, ist wohl kaum die edelste  und bleibendste Wirkung. Der in sich selbst überall  allgnugsamen Natur ist das Staubkorn so wert als ein  unermeßliches Ganze. Sie bestimmte Punkte des  Raums und des Daseins, wo Welten sich bilden sollten, und in jedem dieser Punkte ist sie mit ihrer unzertrennlichen Fülle von Macht, Weisheit und Güte so  ganz, als ob keine andre Punkte der Bildung, keine  andre Weltatomen wären. Wenn ich also das große  Himmelsbuch aufschlage und diesen unermeßlichen  Palast, den allein und überall nur die Gottheit zu erfüllen vermag, vor mir sehe, so schließe ich, so ungeteilt, als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom  Einzelnen aufs Ganze. Es war nur eine Kraft, die die  glänzende Sonne schuf und mein Staubkorn an ihr erhält; nur eine Kraft, die eine Milchstraße von Sonnen  sich vielleicht um den Sirius bewegen läßt und die in  Gesetzen der Schwere auf meinem Erdkörper wirket.  Da ich nun sehe, daß der Raum, den diese Erde in unserm Sonnentempel einnimmt, die Stelle, die sie mit  ihrem Umlauf bezeichnet, ihre Größe, ihre Masse,  nebst allem, was davon abhängt, durch Gesetze bestimmt ist, die im Unermeßlichen wirken, so werde  ich, wenn ich nicht gegen das Unendliche rasen will,  nicht nur auf dieser Stelle zufrieden sein und mich  freuen, daß ich auf ihr ins harmoniereiche Chor zahlloser Wesen getreten, sondern es wird auch mein erhabenstes Geschäft sein, zu fragen, was ich auf dieser  Stelle sein soll und vermutlich nur auf ihr sein kann.  Fände ich auch in dem, was mir das Eingeschränkteste und Widrigste scheint, nicht nur Spuren jener großen bildenden Kraft, sondern auch offenbaren Zusammenhang des Kleinsten mit dem Entwurf des Schöpfers ins Ungemessene hinaus, so wird es die schönste  Eigenschaft meiner Gott nachahmenden Vernunft  sein, diesem Plan nachzugehen und mich der himmlischen Vernunft zu fügen. Auf der Erde werde ich also  keine Engel des Himmels suchen, deren keinen mein  Auge je gesehen hat; aber Erdbewohner, Menschen,  werde ich auf ihr finden wollen und mit allem vorliebnehmen, was die große Mutter hervorbringt, trägt,  nährt, duldet und zuletzt liebreich in ihren Schoß aufnimmt. Ihre Schwestern, andre Erden, mögen sich  andrer, auch vielleicht herrlicherer Geschöpfe rühmen und freuen können; gnug, auf ihr lebt, was auf ihr  leben kann. Mein Auge ist für den Sonnenstrahl in  dieser und keiner andern Sonnenentfernung, mein Ohr für diese Luft, mein Körper für diese Erdmasse, alle  meine Sinne aus dieser und für diese Erdorganisation  gebildet: demgemäß wirken auch meine Seelenkräfte;  der ganze Raum und Wirkungskreis meines Geschlechts ist also so festbestimmt und umschrieben  als die Masse und Bahn der Erde, auf der ich mich  ausleben soll; daher auch in vielen Sprachen der  Mensch von seiner Mutter Erde den Namen führet. Je  in einen größern Chor der Harmonie, Güte und  Weisheit aber diese meine Mutter gehört, je fester und herrlicher die Gesetze sind, auf der ihr und aller Welten Dasein ruhet, je mehr ich bemerke, daß in ihnen  alles aus einem folgt und eins zu allem dienet, desto  fester finde ich auch mein Schicksal nicht an den Erdenstaub, sondern an die unsichtbaren Gesetze geknüpft, die den Erdenstaub regieren. Die Kraft, die in  mir denkt und wirkt, ist ihrer Natur nach eine so  ewige Kraft als jene, die Sonnen und Sterne zusammenhält; ihr Werkzeug kann sich abreiben, die Sphäre ihrer Wirkung kann sich ändern, wie Erden sich abreiben und Sterne ihren Platz ändern; die Gesetze aber,  durch die sie da ist und in andern Erscheinungen wiederkommt, ändern sich nie. Ihre Natur ist ewig wie  der Verstand Gottes, und die Stützen meines Daseins  (nicht meiner körperlichen Erscheinung) sind so fest  als die Pfeiler des Weltalls. Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff, im Größesten sowohl  als im Kleinsten auf einerlei Gesetze gegründet. Der  Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines  Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt  bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in  der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes.

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