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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried      

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erstes Buch

IV

Unsre Erde ist eine Kugel, die sich um sich selbst und gegen die Sonne in schiefer Richtung beweget

Wie der Zirkel die vollkommenste Figur ist, indem  er unter allen Gestalten die größeste Fläche in der  leichtesten Konstruktion einschließt und bei der  schönsten Einfalt die reichste Mannigfaltigkeit mit  sich führet, so ist unsre Erde, so sind alle Planeten  und Sonnen als Kugelgestalten, mithin als Entwürfe  der einfachsten Fülle, des bescheidensten Reichtums  aus den Händen der Natur geworfen. Erstaunen muß  man über die Vielheit der Abänderungen, die auf unsrer Erde wirklich sind, noch mehr erstaunen aber über die Einheit, der diese unbegreifliche Mannigfaltigkeit  dienet. Es ist ein Zeichen der tiefen nordischen Barbarei, in der wir die Unsrigen erziehen, daß wir ihnen  nicht von Jugend auf einen tiefen Eindruck dieser  Schöne, der Einheit und Mannigfaltigkeit auf unsrer  Erde, geben. Ich wünschte, mein Buch erreichte nur  einige Striche zu Darstellung dieser großen Aussicht,  die mich seit meiner frühesten Selbstbildung erfaßt  hat und mich zuerst auf das weite Meer freier Begriffe führte. Sie ist mir auch so lang heilig, als ich diesen  alles umwölbenden Himmel über und diese alles  fassende, sich selbst umkreisende Erde unter mir sehe.

Unbegreiflich ist's, wie Menschen so lange den  Schatten ihrer Erde im Monde sehen konnten, ohne  zugleich es tief zu fühlen, daß alles auf ihr Umkreis,  Rad und Veränderung sei. Wer, der diese Figur je beherzigt hätte, wäre hingegangen, die ganze Welt zu  einem Wortglauben in Philosophie und Religion zu  bekehren oder sie dafür mit dumpfem, aber heiligem  Eifer zu morden? Alles ist auf unsrer Erde Abwechselung einer Kugel: kein Punkt dem andern gleich, kein  Hemisphär dem andern gleich, Ost und West so sehr  einander entgegen als Nord und Süd. Es ist eingeschränkt, diese Abwechselung bloß der Breite nach  berechnen zu wollen, etwa weil die Länge weniger ins Auge fällt, und nach einem alten ptolemäischen Fachwerk von Klimaten auch die Menschengeschichte zu  teilen. Den Alten war die Erde minder bekannt; jetzt  kann sie uns zu allgemeiner Übersicht und Schätzung  mehr bekannt sein als allein durch nord- und südliche  Grade.

Alles ist auf der Erde Veränderung: hier gilt kein  Einschnitt, keine notdürftige Abteilung eines Globus  oder einer Karte. Wie sich die Kugel dreht, drehen  sich auch auf ihr die Köpfe wie die Klimaten; Sitten  und Religionen wie die Herzen und Kleider. Es ist  eine unsägliche Weisheit darin, nicht, daß alles so  vielfach, sondern daß auf der runden Erde alles noch  so ziemlich unison geschaffen und gestimmt ist. In  diesem Gesetz: viel mit einem zu tun und die größeste Mannigfaltigkeit an ein zwangloses Einerlei zu knüpfen, liegt eben der Apfel der Schönheit.

Ein sanftes Gewicht knüpfte die Natur an unsern  Fuß, um uns diese Einheit und Stetigkeit zu geben: es  heißt in der Körperwelt Schwere, in der Geisterwelt  Trägheit. Wie alles zum Mittelpunkt drängt und  nichts von der Erde hinweg kann, ohne daß es je von  unserm Willen abhange, ob wir darauf leben und sterben wollen, so ziehet die Natur auch unsern Geist von Kindheit auf mit starken Fesseln jeden an sein Eigentum, d. i. an seine Erde (denn was hätten wir endlich  anders zum Eigentum als diese?). Jeder liebet sein  Land, seine Sitten, seine Sprache, sein Weib, seine  Kinder, nicht weil sie die Besten auf der Welt, sondern weil sie die bewährten Seinigen sind und er in  ihnen sich und seine Mühe selbst liebet. So gewöhnet  sich jeder auch an die schlechteste Speise, an die härteste Lebensart, an die roheste Sitte des rauhesten  Klima und findet zuletzt in ihm Behaglichkeit und  Ruhe. Selbst die Zugvögel nisten, wo sie geboren  sind, und das schlechteste, rauheste Vaterland hat oft  für den Menschenstamm, der sich daran gewöhnte,  die ziehendsten Fesseln.

Fragen wir also: »Wo ist das Vaterland der Menschen? Wo ist der Mittelpunkt der Erde?«, so wird  überall die Antwort sein können: »Hier, wo du stehest!«, es sei nahe dem beeisten Pol oder gerade unter der brennenden Mittagssonne. Überall, wo Menschen  leben können, leben Menschen, und sie können fast  überall leben. Da die große Mutter auf unsrer Erde  kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch  mochte, so war kein andres Mittel, als daß sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen  aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen. Späterhin werden wir eine schöne Stufenleiter  finden, wie sich, nachdem die Kunst der Organisation  in einem Geschöpf zunimmt, auch die Fähigkeit desselben vermehret, mancherlei Zustände auszudauern  und sich nach jedem derselben zu bilden. Unter allen  diesen veränderlichen, ziehbaren, empfänglichen Geschöpfen ist der Mensch das empfänglichste: die  ganze Erde ist für ihn gemacht, er für die ganze Erde.

Lasset uns also, wenn wir über die Geschichte unsres Geschlechts philosophieren wollen, soviel möglich alle enge Gedankenformen, die aus der Bildung  eines Erdstrichs, wohl gar nur einer Schule genommen sind, verleugnen. Nicht was der Mensch bei uns  ist oder gar was er nach den Begriffen irgendeines  Träumers sein soll, sondern was er überall auf der  Erde und doch zugleich in jeglichem Strich besonders  ist, d. i., wozu ihn irgend nur die reiche Mannigfaltigkeit der Zufälle in den Händen der Natur bilden  konnte: das lasset uns auch als Absicht der Natur betrachten. Wir wollen keine Lieblingsgestalt, keine  Lieblingsgegend für ihn suchen und finden; wo er ist,  ist er der Herr und Diener der Natur, ihr liebstes Kind und vielleicht zugleich ihr aufs härteste gehaltner  Sklave. Vorteile und Nachteile, Krankheiten und Übel sowie neue Arten des Genusses, der Fülle, des Segens erwarten überall seiner, und nachdem die Würfel dieser Umstände und Beschaffenheiten fallen, nachdem  wird er werden.

Durch eine leichte, für uns noch unerklärbare Ursache hat die Natur diese Mannigfaltigkeit der Geschöpfe auf Erden nicht nur befördert, sondern auch eingeschränkt und festgestellet: es ist der Winkel unsrer  Erdachse zum Sonnenäquator. In den Gesetzen der  Kugelbewegung liegt er nicht: Jupiter hat ihn nicht,  dieser stehet senkrecht auf der Hahn zur Sonne. Mars  hat ihn wenig, die Venus dagegen ungeheuer spitz,  und auch der Saturn mit seinem Ringe und seinen  Monden drückt sich seitwärts nieder. Welche unendliche Verschiedenheit der Jahreszeiten und Sonnenwirkung wird dadurch in unserm Sternensystem veranlaßt! Unsre Erde ist auch hier ein geschontes Kind,  eine mittlere Gesellin: der Winkel, mit dem sie eingesenkt ist, beträgt noch nicht 24 Grade. Ob sie ihn von  jeher gehabt, davon darf jetzt noch keine Frage sein;  genug, sie hat ihn. Der unnatürliche, wenigstens uns  unerklärliche Winkel ist ihr eigen geworden und hat  sich seit Jahrtausenden nicht verändert; er scheinet  auch zu dem, was jetzt die Erde und auf ihr das Menschengeschlecht sein soll, notwendig. Mit ihm nämlich, mit dieser schiefen Richtung zur Ekliptik, werden bestimmt abwechselnde Zonen, die die ganze  Erde bewohnbar machen, vom Pol bis zum Äquator,  vom Äquator wieder zum Pol hin. Die Erde muß sich  regelmäßig beugen, damit auch Gegenden, die sonst  in kimmerischer Kälte und Finsternis lägen, den  Strahl der Sonne sehn und zur Organisation geschickt  werden. Da uns nun die lange Erdgeschichte zeigt,  daß auf alle Revolutionen des menschlichen Verstandes und seiner Wirkungen das Verhältnis der  Zonen viel Einfluß gehabt (denn weder aus dem kältesten noch heißesten Erdgürtel sind jemals die Wirkungen aufs Ganze erfolgt, die die gemäßigte Zone  hervorbrachte), so sehen wir abermals, mit welchem  feinen Zuge der Finger der Allmacht alle Umwälzungen und Schattierungen auf der Erde umschrieben und bezirkt hat. Nur eine kleine andre Richtung der Erde  zur Sonne, und alles auf ihr wäre anders.

Abgemeßne Mannigfaltigkeit also ist auch hier das  Gesetz der bildenden Kunst des Weltschöpfers. Es  war ihm nicht genug, daß die Erde in Licht und Schatten, daß das menschliche Leben in Tag und Nacht  verteilt würde; auch das Jahr unsers Geschlechts  sollte abwechseln, und nur einige Tage erließ er uns  am Herbst und Winter. Hiernach wurde auch die  Länge und Kürze des menschlichen Lebens, mithin  das Maß unsrer Kräfte, die Revolutionen des menschlichen Alters, die Abwechselungen unsrer Geschäfte,  Phänomene und Gedanken, die Nichtigkeit oder  Dauer unsrer Entschlüsse und Taten bestimmt; denn  alles dies, werden wir sehen, ist zuletzt an dies einfache Gesetz der Tages- und Jahreszeiten gebunden.  Lebte der Mensch länger, wäre die Kraft, der Zweck,  der Genuß seines Lebens weniger wechselnd und zerstreut, eilte nicht die Natur so periodisch mit ihm, wie sie mit allen Erscheinungen der Jahreszeiten um ihn  eilet, so fände freilich zwar weder die große Extension des Menschenreichs auf der Erde und noch weniger  das Gewirre von Szenen statt, das uns jetzt die Geschichte darbeut; auf einem schmaleren Kreise der  Bewohnung aber wirkte wahrscheinlich unsre Lebenskraft inniger, stärker, fester. Jetzt ist der Inhalt des  Predigerbuchs das Symbol unserer Erde: alles hat  seine Zeit, Winter und Sommer, Herbst und Frühling,  Jugend und Alter, Wirken und Ruhe. Unter unsrer  schräge gehenden Sonne ist alles Tun der Menschen  Jahresperiode.

 

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