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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erstes Buch

V

Unsre Erde ist mit einem Dunstkreise umhüllet und ist im Konflikt mehrerer himmlischen Sterne

Reine Luft zu atmen, sind wir nicht fähig, da wir  eine so zusammengesetzte Organisation sind, ein Inbegriff fast aller Organisationen der Erde, deren erste  Bestandteile vielleicht alle aus der Luft niedergeschlagen wurden und durch Übergänge aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare traten. Wahrscheinlich war, als  unsre Erde ward, die Luft das Zeughaus der Kräfte  und Stoffe ihrer Bildung; und ist sie es nicht noch?  Wie manche einst unbekannte Dinge sind in den neuern Jahren entdeckt worden, die alle im Medium der  Luft wirken. Die elektrische Materie und der magnetische Strom, das Brennbare und die Luftsäure, erkältende Salze und vielleicht Lichtteile, die die Sonne  nur anregt: lauter mächtige Prinzipien der Naturwirkungen auf der Erde; und wie manche andre werden  noch entdeckt werden! Die Luft beschwängert und  löset auf; sie sauget ein, macht Gärungen und schlägt  nieder. Sie scheint also die Mutter der Erdgeschöpfe  sowie der Erde selbst zu sein, das allgemeine Vehikel  der Dinge, die sie in ihren Schoß ziehet und aus ihrem Schoß forttreibt.

Es bedarf keiner Demonstration, daß auch in die  feinsten und geistigsten Bestimmungen aller Erdgeschöpfe die Atmosphäre mit einfließe und wirke; mit  und unter der Sonne ist sie gleichsam die Mitregentin  der Erde, wie sie einst ihre Bildnerin gewesen. Welch  ein allgemeiner Unterschied würde sich ereignen,  wenn unsre Luft eine andre Elastizität und Schwere,  andre Reinigkeit und Dichtigkeit gehabt, wenn sie ein andres Wasser, eine andre Erde niedergeschlagen  hätte und in andern Einflüssen auf die Organisation  der Körper wirkte! Gewiß ist dieses der Fall auf andern Planeten, die sieh in andern Luftregionen gebildet haben; daher auch jeder Schluß von Substanzen  und Erscheinungen unsrer Erde auf die Eigenschaften  jener so mißlich ist. Auf dieser war Prometheus  Schöpfer; er formte aus niedergeschlagnem weichen  Ton und holte aus der Höhe so viel lichte Funken und geistige Kräfte, als er in dieser Sonnenentfernung und  in einer spezifisch so und nicht anders schweren  Masse habhaft werden konnte.

Auch die Verschiedenheit der Menschen sowie  aller Produkte der Erdkugel muß sich also nach der  spezifischen Verschiedenheit des Mediums richten, in dem wir wie im Organ der Gottheit leben. Hier  kommt es nicht bloß auf Einteilung der Zonen nach  Hitze und Kälte, nicht bloß auf Leichtigkeit und  Schwere des drückenden Luftkörpers, sondern  unendlich mehr auf die mancherlei wirksamen geistigen Kräfte an, die in ihr treiben, ja deren Inbegriff  eben vielleicht alle ihre Eigenschaften und Phänomene ausmacht. Wie der elektrische und magnetische  Strom unsre Erde umfließt; welche Dünste und  Dämpfe hier oder dort aufsteigen; wohin sie treiben;  worin sie sich verwandeln; was sie für Organisationen gebären; wie lange sie diese erhalten; wie sie sie auflösen: das alles gibt sichtbare Schlüsse auf die Beschaffenheit und Geschichte jeglicher Menschenart;  denn der Mensch ist ja wie alles andre ein Zögling der Luft und im ganzen Kreise seines Daseins aller Erdorganisationen Bruder.

Mich dünkt, wir gehen einer neuen Welt von  Kenntnissen entgegen, wenn sich die Beobachtungen,  die Boyle, Boerhaave, Hales, Gravesand, Franklin,  Priestley, Black, Crawford, Wilson, Achard u. a. über Hitze und Kälte, Elektrizität und Luftarten samt andern chemischen Wesen und ihren Einflüssen ins Erd und Pflanzenreich, in Tiere und Menschen gemacht  haben, zu einem Natursystem sammeln werden. Würden mit der Zeit diese Beobachtungen so vielfach und  allgemein, als die zunehmende Erkenntnis mehrerer  Erdstriche und Erdprodukte zuläßt, bis das wachsende Studium der Natur gleichsam eine allverbreitete freie  Akademie stiftete, die sich mit verteilter Aufmerksamkeit, aber in einem Geist des Wahren, Sichern,  Nützlichen und Schönen die Einflüsse dieser Wesen  hie und da, auf dies und jenes bemerkte, so werden  wir endlich eine geographische Aerologie erhalten  und dies große Treibhaus der Natur in tausend Veränderung nach einerlei Grundgesetzen wirken sehen.  Die Bildung der Menschen an Körper und Geist wird  sich mit daraus erklären, zu deren Gemälde uns jetzt  nur einzelne, jedoch zum Teil sehr deutliche Schattenzüge gegeben sind.

Aber die Erde ist nicht allein da im Universum;  auch auf ihre Atmosphäre, auf dies große Behältnis  wirkender Kräfte, wirken andre Himmelswesen. Die  Sonne, der ewige Feuerhall, regt sie mit seinen Strahlen; der Mond, dieser drückende schwere Körper, der  vielleicht gar in ihrer Atmosphäre hangt, drückt sie  jetzt mit seinem kalten und finstern, jetzt mit seinem  von der Sonne erwärmten Antlitz. Bald ist er vor,  bald hinter ihr; jetzt ist sie der Sonne näher, jetzt ferner. Andre Himmelskörper nahen sich ihr, drängen  auf ihre Bahn und modifizieren ihre Kräfte. Das ganze Himmelssystem ist ein Streben gleich- oder ungleichartiger, aber mit großer Stärke getriebner Kugeln gegeneinander; und nur die eine große Idee der Allmacht ist's, die dies Getriebe gegeneinander wog und  ihnen in ihrem Kampf beistehet. Der menschliche  Verstand hat auch hier im weitesten Labyrinth strebender Kräfte einen Faden gefunden und beinah  Wunderdinge geleistet, zu denen ihm der so unregelmäßige, von zwei entgegengesetzten Druckwerken getriebne und glücklicherweise uns so nahe Mond die  größeste Förderung gab. Werden einst alle diese Bemerkungen und ihre Resultate auf die Veränderungen  unsrer Luftkugel angewandt werden, wie sie bei der  Ebbe und Flut schon angewandt sind; wird ein vieljähriger Fleiß an verschiednen Orten der Erde mit  Hülfe zarter Werkzeuge, die zum Teil schon erfunden  sind, fortfahren, die Revolutionen dieses himmlischen Meers nach Zeiten und Lagen zu ordnen und zu einem Ganzen zu bilden, so wird, dünkt mich, die Astrologie aufs neue in der ruhmwürdigsten, nützlichsten Gestalt unter unsern Wissenschaften erscheinen, und was Toaldo anfing, wozu de Luc, Lambert, Tobias Mayer, Böckmann u. a. Grundsätze oder Beihülfe gaben, das  wird vielleicht (und gewiß mit großem Blick auf Geographie und Geschichte der Menschheit) ein Gatterer  vollenden.

Genug, wir werden und wachsen, wir wallen und  streben unter oder in einem Meer zum Teil bemerkter, zum Teil geahneter Himmelskräfte. Wenn Luft und  Witterung so vieles über uns und die ganze Erde vermögen, so war's auch vielleicht im Größern hier ein  elektrischer Funke, der in diesem menschlichen Geschöpf reiner traf, dort eine Portion entzündbaren  Zunders, die sich in jenem gewaltiger ballte, hier eine  Masse mehrerer Kälte und Heiterkeit, dort ein sanftes, milderndes flüssiges Wesen, was uns die größesten  Perioden und Revolutionen der Menschheit bestimmt  und geändert hat. Nur der allgegenwärtige Blick,  unter dem nach ewigen Gesetzen sich auch dieser  Teig bildet, nur er ist's, der in dieser physischen Kräftewelt jedem Punkt des Elements, jedem springenden  Funken und Ätherstrahl seine Stelle, seine Zeit, seinen Wirkungskreis zeichnet, um ihn mit andern entgegengesetzten Kräften zu mischen und zu mildern.

 

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