Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
      http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried   

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Drittes Buch

VI

Organischer Unterschied der Tiere und Menschen

Man hat unserm Geschlecht ein sehr unwahres Lob gemacht, wenn man behauptete, daß sich jede Kraft  und Fähigkeit aller andern Geschlechter dem höchsten Grad nach in ihm finde. Das Lob ist unerweislich und sich selbst widersprechend; denn offenbar hübe sodenn eine Kraft die andre auf, und das Geschöpf hätte ganz und gar keinen Genuß seines Wesens. Wie bestehet es zusammen, daß der Mensch wie die Blume  blühen, wie die Spinne tasten, wie die Biene bauen,  wie der Schmetterling saugen könnte und zugleich die Muskelkraft des Löwen, den Rüssel des Elefanten, die Kunst des Bibers besäße? Und besitzet, ja begreift er  nur eine dieser Kräfte mit der Innigkeit, mit der sie  das Geschöpf genießet und übet?

Von der andern Seite hat man ihn, ich will nicht  sagen zum Tier erniedrigen, sondern ihm einen Charakter seines Geschlechts gar absprechen und ihn zu  einem ausgearteten Tier machen wollen, das, indem es höhern Vollkommenheiten nachgestrebt, ganz und gar die Eigenheit seiner Gattung verloren. Dies ist nun offenbar auch gegen die Wahrheit und Evidenz seiner  Naturgeschichte Augenscheinlich hat er  Eigenschaften, die kein Tier hat, und hat Wirkungen  hervorgebracht, die im Guten und Bösen ihm eigen  bleiben. Kein Tier frißt seinesgleichen aus Leckerei;  kein Tier mordet sein Geschlecht auf den Befehl eines Dritten mit kaltem Blut. Kein Tier hat Sprache, wie  der Mensch sie hat, noch weniger Schrift, Tradition,  Religion, willkürliche Gesetze und Rechte. Kein Tier  endlich hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die  Wohnung, die Künste, die unbestimmte Lebensart,  die ungebundnen Triebe, die flatterhaften Meinungen, womit sich beinah jedes Individuum der Menschen  auszeichnet. Wir untersuchen noch nicht, ob alle dies  zum Vorteil oder Schaden unsrer Gattung sei; genug,  es ist der Charakter unsrer Gattung. Da jedes Tier der  Art seines Geschlechts im ganzen treu bleibt und wir  allein nicht die Notwendigkeit, sondern die Willkür  zu unsrer Göttin erwählt haben, so muß dieser Unter- schied als Tatsache untersucht werden; denn solche ist er unleugbar. Die andre Frage: wie der Mensch dazu  gekommen, ob dieser Unterschied ihm ursprünglich  sei oder ob er angenommen und affektiert worden, ist  von einer andern nämlich von bloß historischer Art;  auch hier müßte die Perfektibilität oder Korruptibilität, in der es ihm bisher noch kein Tier nachgetan hat, doch auch zum auszeichnenden Charakter seiner Gattung gehört haben. Wir setzen also alle Metaphysik  beiseite und halten uns an Physiologie und Erfahrung.

1. Die Gestalt des Menschen ist aufrecht; er ist  hierin einzig auf der Erde. Denn ob der Bär gleich  einen breiten Fuß hat und sich im Kampf aufwärts  richtet, obgleich der Affe und Pygmäe zuweilen aufrecht gehen oder laufen, so ist doch seinem Geschlecht allein dieser Gang beständig und natürlich.  Sein Fuß ist fester und breiter; er hat einen längern  großen Zeh, da der Alle nur einen Daumen hat; auch  seine Ferse ist zum Fußblatt gezogen. Zu dieser Stellung sind alle dahin wirkende Muskeln bequemt. Die  Wade ist vergrößert; das Becken zurück-, die Hüften  auseinandergezogen; der Rücken ist weniger gekrümmt, die Brust erweitert; er hat Schlüsselbeine  und Schultern, an den Händen feinfühlende Finger;  der hinsinkende Kopf ist auf den Muskeln des Halses  zur Krone des Gebäudes erhoben: der Mensch ist  anthrôpos, ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf.

Nun muß es zugegeben werden, daß dieser Gang  dem Menschen nicht so wesentlich sei, daß etwa jeder andre ihm so unmöglich wie das Fliegen würde. Nicht nur Kinder zeigen das Gegenteil, sondern die Menschen, die unter die Tiere gerieten, haben's durch Erfahrung bewiesen. Elf bis zwölf Personen [21] dieser  Art sind bekannt, und obwohl nicht alle hinlänglich  beobachtet und beschrieben worden, so ergeben doch  einige Beispiele deutlich, daß der biegsamen Natur  des Menschen auch der für ihn ungemäßeste Gang  nicht ganz unmöglich werde. Sein Kopf sowohl als  sein Unterleib liegen mehr vorwärts; der Körper kann  also auch vorwärts fallen, wie der Kopf im Schlummer sinket. Kein toter Körper kann aufrecht stehen,  und nur durch eine zahllose Menge angestrengter Tätigkeiten wird unser künstliche Stand und Gang möglich.

Also ist eben auch begreiflich, daß mit dem tierartigen Gange viele Glieder des menschlichen Körpers  ihre Gestalt und ihr Verhältnis zueinander ändern  müssen, wie abermals das Beispiel der verwilderten  Menschen zeiget. Der irländische Knabe, den Tulpius beschrieben, hatte eine flache Stirn, ein erhöhetes  Hinterhaupt, eine weite blökende Kehle, eine dicke,  an den Gaum gewachsene Zunge, eine stark einwärts  gezogene Herzgrube; gerade wie es der vierfüßige  Gang geben mußte. Das niederländische Mädchen,  die noch aufrecht ging und bei der sich die weibliche  Natur so weit erhalten hatte, daß es sich mit einer  Strohschürze deckte, hatte eine braune, rauche, dicke  Haut, ein langes und dickes Haar. Das Mädchen, das  zu Songi in Champagne gefangen ward, hatte ein  schwarzes Ansehen, starke Finger, lange Nägel, und  besonders waren die Daumen so stark und verlängert,  daß sie sich damit wie ein Eichhörnchen von Baum zu Baum schwang. Ihr schneller Lauf war kein Gehen,  sondern ein fliegendes Trippeln und Fortgleiten,  wobei an den Füßen fast gar keine Bewegung zu unterscheiden war. Der Ton ihrer Stimme war fein und  schwach, ihr Geschrei durchdringend und erschreck- lich. Sie hatte ungewöhnliche Leichtigkeit und Stärke  und war von ihrer vorigen Nahrung des blutigen und  rohen Fleisches, der Fische, der Blätter und Wurzeln  so schwer zu entwöhnen, daß sie nicht nur zu entfliehen suchte, sondern auch in eine tödliche Krankheit  fiel, aus der sie nur durch Saugen des warmen Bluts,  das sie wie ein Balsam durchdrang, zurückgebracht  werden konnte. Ihre Zähne und Nägel fielen aus, da  sie sich zu unsern Speisen gewöhnen sollte; unerträgliche Schmerzen zogen ihr Magen und Eingeweide,  besonders die Gurgel zusammen, die lechzend und  ausgetrocknet war. Lauter Erweise, wie sehr sich die  biegsame menschliche Natur, selbst da sie von Menschen geboren und eine Zeitlang unter ihnen erzogen  worden, in wenigen Jahren zu der niedrigen Tierart  gewöhnen konnte, unter die sie ein unglücklicher Zufall setzte.

Nun könnte ich auch den häßlichen Traum ausmalen, was aus der Menschheit hätte werden müssen,  wenn sie, zu diesem Lose verdammt, in einem vierfüßigen Mutterleibe zu einem Tierfötus gebildet wäre;  welche Kräfte sich damit hätten stärken und schwächen, welches der Gang der Menschentiere, ihre  Erziehung, ihre Lebensart, ihr Gliederbau hätte sein  müssen u. s. f. Aber fliehe, unseliges und abscheuliches Bild, häßliche Unnatur des natürlichen Menschen! Du bist weder in der Natur da, noch sollst du  durch einen Strich meiner Farben vorgestellt werden.  Denn:

2. Der aufrechte Gang des Menschen ist ihm einzig natürlich: ja er ist die Organisation zum ganzen  Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender  Charakter.

Kein Volk der Erde hat man vierfüßig gefunden;  auch die wildesten haben aufrechten Gang, sosehr  sich manche an Bildung und Lebensart den Tieren nähern. Selbst die Unfühlbaren des Diodors samt andern Fabelgeschöpfen alter und mittlerer Schriftsteller gehen auf zwei Beinen; und ich begreife nicht, wie  das Menschengeschlecht, wenn es je diese niedrige  Lebensweise als Natur gehabt hätte, sich zu einer andern, so zwang-, so kunstvollen, jemals würde erhoben haben. Welche Mühe kostete es, die Verwilderten, die man fand, zu unsrer Lebensart und Nahrung  zu gewöhnen! Und sie waren nur verwildert, nur wenige Jahre unter diesen Unvernünftigen gewesen. Das  eskimoische Mädchen hatte sogar noch Begriffe ihres  vorigen Zustandes, Reste der Sprache und Instinkte  zu ihrem Vaterlande, und doch lag ihre Vernunft in  Tierheit gefangen; sie hatte von ihren Reisen, von  ihrem ganzen wilden Zustande keine Erinnerung. Die  andern besaßen nicht nur keine Sprache, sondern  waren zum Teil auch auf immer zur menschlichen  Sprache verwahrloset. - Und das Menschentier sollte, wenn es äonenlang in diesem niedrigen Zustande gewesen, ja im Mutterleibe schon durch den vierfüßigen Gang zu demselben nach ganz andern Verhältnissen  wäre gebildet worden, ihn freiwillig verlassen und  sich aufrecht erhoben haben? Aus Kraft des Tiers, die  ihn ewig herabzog, sollte er sich zum Menschen gemacht und menschliche Sprache erfunden haben, ehe  er ein Mensch war? Wäre der Mensch ein vierfüßiges  Tier, wäre er's jahrtausendelang gewesen, er wäre es  sicher noch, und nur ein Wunder der neuen Schöpfung hätte ihn zu dem, was er jetzt ist und wie wir ihn aller Geschichte und Erfahrung nach allein kennen,  umgebildet.

Warum wollen wir also unerwiesne, ja völlig widersprechende Paradoxa annehmen, da der Bau des  Menschen, die Geschichte seines Geschlechts und  endlich, wie mich dünkt, die ganze Analogie der Organisation unsrer Erde uns auf etwas andres führet?  Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr  zuwider eine andre bereitet, da es ja nur mit den Kräften wirkte, die in seiner Organisation lagen, und die  Natur Wege genug wußte, ein jedes der Lebendigen  auf dem Standpunkt festzuhalten, den sie ihm anwies.  Beim Menschen ist auf die Gestalt, die er jetzt hat,  alles eingerichtet; aus ihr ist in seiner Geschichte  alles, ohne sie nichts erklärlich; und da auf diese, als  auf die erhabne Göttergestalt und künstlichste Hauptschönheit der Erde, auch alle Formen der Tierbildung  zu konvergieren scheinen und ohne jene sowie ohne  das Reich des Menschen die Erde ihres Schmucks und ihrer herrschenden Krone beraubt bliebe: warum  wollten wir dies Diadem unsrer Erwählung in den  Staub werfen und gerade den Mittelpunkt des Kreises  nicht sehen wollen, in welchem alle Radien zusammenzulaufen scheinen? Als die bildende Mutter ihre  Werke vollbracht und alle Formen erschöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren, stand sie still und  übersann ihre Werke; und als sie sah, daß bei ihnen  allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter Schöpfer fehlte: siehe, da ging sie  mit sich zu Rat, drängte die Gestalten zusammen und  formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche  Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf die Hand und sprach: »Steh auf von  der Erde! Dir selbst überlassen, wärest du Tier wie  andre Tiere; aber durch meine besondre Huld und  Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Tiere!«  Lasset uns bei diesem heiligen Kunstwerk, der Wohltat, durch die unser Geschlecht ein  Menschengeschlecht ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung werden wir sehen, welche  neue Organisation von Kräften in der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange und wie allein durch sie  der Mensch ein Mensch ward.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats