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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried    

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Viertes Buch

Viertes Buch

I

Der Mensch ist zur Vernunftfähigkeit organisieret

Der Orang-Utang ist im Innern und Äußern dem  Menschen ähnlich. Sein Gehirn hat die Gestalt des  unsern; er hat eine breite Brust, platte Schultern, ein  ähnliches Gesicht, einen ähnlich gestalteten Schädel;  Herz, Lunge, Leber, Milz, Magen, Eingeweide sind  wie bei dem Menschen. Tyson [22] hat 48 Stücke angegeben, in denen er mehr unserm Geschlecht als den  Affenarten gleichet, und die Verrichtungen, die man  von ihm erzählt, selbst seine Torheiten, Laster, vielleicht auch gar die periodische Krankheit, machen ihn dem Menschen ähnlich.

Allerdings muß also auch in seinem Innern, in den  Wirkungen seiner Seele, etwas Menschenähnliches  sein, und die Philosophen, die ihn unter die kleinen  Kunsttiere erniedrigen wollen, verfehlen, wie mich  dünkt, das Mittel der Vergleichung. Der Biber bauet,  aber instinktmäßig seine ganze Maschine ist dazu eingerichtet, sonst aber kann er nichts; er ist des Umganges der Menschen, der Teilnehmung an unsern Gedanken und Leidenschaften nicht fähig. Der Affe  dagegen hat keinen determinierten Instinkt mehr;  seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft, am armen Rande der Nachahmung. Er ahmt  alles nach und muß also zu tausend Kombinationen  sinnlicher Ideen in seinem Gehirn geschickt sein,  deren kein Tier fähig ist; denn weder der weise Elefant noch der gelehrige Hund tut, was er zu tun vermag; er will sich vervollkommen. Aber er kann nicht:  die Tür ist zugeschlossen; die Verknüpfung fremder  Ideen zu den seinen und gleichsam die Besitznehmung des Nachgeahmten ist seinem Gehirn unmöglich. Das Affenweib, das Bontius beschrieben, besaß  Schamhaftigkeit und bedeckte sich mit der Hand,  wenn ein Fremder hinzutrat; sie seufzte, weinte und  schien menschliche Handlungen zu verrichten. Die  Affen, die Battel beschrieben, gehen in Gesellschaft  aus, bewaffnen sich mit Prügeln und verjagen den  Elefanten aus ihren Bezirken; sie greifen Neger an  und setzen sich um ihr Feuer, haben aber nicht den  Verstand, es zu unterhalten. Der Affe des de la Brosse setzte sich zu Tisch, bediente sich des Messers und  der Gabel, zürnte, trauerte, hatte alle menschliche Affekten. Die Liebe der Mütter zu den Kindern, ihre  Auferziehung und Gewöhnung zu den Kunstgriffen  und Schelmereien der Affenlebensart, die Ordnung in  ihrer Republik und auf ihren Märschen, die Strafen,  die sie ihren Staatsverbrechern antun, selbst ihre  possierliche List und Bosheit nebst einer Reihe andrer unleugbarer Züge sind Beweise genug, daß sie auch in  ihrem Innern so menschenähnliche Geschöpfe sind,  wie ihr Äußeres zeiget. Buffon verschwendet den  Strom seiner Beredsamkeit umsonst, wenn er die  Gleichförmigkeit des Organismus der Natur von  innen und außen bei Gelegenheit dieser Tiere bestreitet; die Fakta, die er von ihnen selbst gesammlet hat,  widerlegen ihn genugsam, und der gleichförmige Organismus der Natur von innen und außen, wenn man ihn recht bestimmt, bleibt in allen Bildungen der Lebendigen unverkennbar.

Was fehlte also dem menschenähnlichen Geschöpf, daß es kein Mensch ward? Etwa nur die Sprache?  Aber man hat sich bei mehrern Mühe gegeben, sie zu  erziehen, und wenn sie derselben fähig wären, hätten  sie, die alles nachahmen, diese gewiß zuerst nachgeahmt und auf keine Instruktion gewartet. Oder liegt's  allein an ihren Organen? Auch nicht; denn ob sie  gleich den Inhalt der menschlichen Sprache fassen, so hat noch kein Affe, da er doch immer gestikulieret,  sich ein Vermögen erworben, mit seinem Herrn pantomimisch zu sprechen und durch Gebärdungen  menschlich zu diskurieren. Also muß es schlechthin  an etwas anderm liegen, das dem Traurigen zur Menschenvernunft die Tür schloß und ihm vielleicht das  dunkle Gefühl ließ, so nahe zu sein und nicht  hineinzugehören.

Was war dies Etwas? Es ist sonderbar, daß der  Zergliederung nach beinahe aller Unterschied an Teilen des Ganges zu liegen scheinet. Der Affe ist gebildet, daß er etwa aufrecht gehen kann, und ist dadurch  dem Menschen ähnlicher als seine Brüder; er ist aber  nicht ganz dazu gebildet, und dieser Unterschied  scheint ihm alles zu rauben. Lasset uns diesen Anblick verfolgen, und die Natur selbst wird uns auf die  Wege führen, auf denen wir die erste Anlage zur  menschlichen Würde zu suchen haben.

Der Orang-Utang [23] hat lange Arme, große Hände,  kurze Schenkel, große Füße mit langen Zehen; der  Daum seiner Hand aber, der große Zeh seines Fußes  ist klein: Buffon, und schon Tyson vor ihm, nennet  das Affengeschlecht also vierhändig; und ihm fehlt  mit diesen kleinen Gliedern offenbar die Basis zum  festen Stande des Menschen. Sein Hinterleib ist  hager, sein Knie breiter als beim Menschen und nicht  so tief; die kniebewegende Muskeln sitzen tiefer im  Schenkelbein, daher er nie ganz aufrecht stehen kann,  sondern immer mit eingebogenen Knien gleichsam  nur stehen lernet. Der Kopf des Schenkelknochen  hängt in seiner Pfanne ohne Band; die Knochen des  Beckens stehen wie bei vierfüßigen Tieren; die fünf  letzten Halswirbel haben lange spitzige Fortsätze, die  die Zurückbeugung des Kopfs hindern; er ist also  durchaus nicht zur aufrechten Stellung geschaffen,  und fürchterlich sind die Folgen, die daraus sprießen.  Sein Hals wird kurz und lang die Schlüsselbeine, so  daß der Kopf zwischen den Schultern zu stecken  scheinet. [24] Sonach bekommt dieser ein größeres Vorderteil, hervorragende Kinnladen, eine platte Nase;  die Augen stehn dicht aneinander; der Augapfel wird  klein, daß man kein Weißes um den Stern sieht. Der  Mund dagegen wird groß, der Bauch dick, die Brüste  lang, der Rücken wie gebrechlich. Die Ohren treten  tierartig empor. Die Augenhöhlen kommen dicht aneinander; die Gelenkflächen des Kopfs stehen nicht  mehr in der Mitte seiner Grundfläche, wie beim Menschen, sondern hinterwärts, wie beim Tier. Der Oberkiefer dagegen rückt vorwärts, und das eingeschobne  eigne Zwischenbein des Affen (Os intermaxillare) ist  der letzte Abschnitt vom Menschenantlitz. [25] Denn  nun, nach dieser Formung des Kopfs unten hervor,  hinten hinweg, nach dieser Stellung desselben auf  dem Halse, nach dem ganzen Zuge des Rückenwirbels jenen gemäß, blieb der Affe - immer nur ein Tier, so  menschenähnlich er übrigens sein mochte.

Um uns zu diesem Schluß vorzubereiten, so lasset  uns an Menschengesichter denken, die auch nur in der weitesten Ferne ans Tier zu grenzen scheinen. Was  macht sie tierisch? Was gibt ihnen diesen entehrenden groben Anblick? Der hervorgerückte Kiefer, der  zurückgeschobne Kopf, kurz, die entfernteste Ähnlichkeit mit der Organisation zum vierfüßigen Gange.  Sobald der Schwerpunkt verändert wird, auf dem der  Menschenschädel in seiner erhabnen Wölbung ruhet,  so scheinet der Kopf am Rücken fest, das Gebiß der  Zähne tritt hervor, die Nase breitet sich platt und tierisch. Oben treten die Augenhöhlen näher zusammen,  die Stirn geht zurück und bekommt von beiden Seiten den tödlichen Druck des Affenschädels. Der Kopf  wird oben und hinten spitz; die Vertiefung der Hirnschale bekommt eine kleinere Weite - und das alles,  weil die Richtung der Form verrückt scheint. die  schöne freie Bildung des Haupts zum aufrechten  Gange des Menschen.

Rücket diesen Punkt anders, und die ganze Formung wird schön und edel. Gedankenreich tritt die  Stirn hervor, und der Schädel wölbet sich mit erhabner ruhiger Würde. Die breite Tiernase zieht sich zusammen und organisiert sich höher und feiner; der zurückgetretene Mund kann schöner bedeckt werden;  und so formt sich die Lippe des Menschen, die der  klügste Affe entbehret. Nun tritt das Kinn herab, um  ein gerade herabgesenktes schönes Oval zu ründen;  sanft geht die Wange hinan; das Auge blickt unter der vorragenden Stirn wie aus einem heiligen Gedankentempel. Und wodurch dies alles? Durch die Formung  des Kopfs zur aufrechten Gestalt, durch die innere  und äußere Organisation desselben zum perpendikularen Schwerpunkt. [26] Wer Zweifel hierüber hat, sehe Menschen- und Affenschädel, und es wird ihm kein  Schatten eines Zweifels mehr bleiben.

Alle äußere Form der Natur ist Darstellung ihres  inneren Werks; und so treten wir, große Mutter, vor  das Allerheiligste deiner Erdenschöpfung, die Werkstätte des menschlichen Verstandes.

Man hat sich viel Mühe gegeben, die Größe des  Gehirns beim Menschen mit der Gehirnmasse andrer  Tiergattungen zu vergleichen und daher Tier und Gehirn gegeneinander zu wägen. Aus drei Ursachen  kann dies Wägen und diese Zahlbestimmung keine  reinen Resultate geben.

1. Weil das eine Glied des Verhältnisses, die  Masse des Körpers, zu unbestimmt ist und zu dem  andern fein bestimmten Gliede, dem Gehirn selbst,  keine reine Proportion gewähret. Wie verschiedenartig sind die Dinge, die in einem Körper wiegen! Und  wie verschieden kann das Verhältnis sein, das die  Natur unter ihnen feststellte! Sie wußte dem Elefanten seinen schweren Körper, selbst sein schweres Haupt  durch Luft zu erleichtern, und ohngeachtet seines  nicht übergroßen Gehirns ist er der Weiseste der  Tiere. Was wiegt im Körper des Tiers am meisten?  Die Knochen, und mit ihnen hat das Gehirn kein  unmittelbares Verhältnis.

2. Ohnstreitig kommt viel darauf an, wozu das Gehirn für den Körper gebraucht werde, wohin und zu  welchen Lebensverrichtungen es seine Nerven sende.  Wenn man also Gehirn- und Nervengebäude gegeneinander wöge, so gäbe es schon ein feineres und dennoch kein reines Verhältnis: denn das Gewicht beider  zeigt doch nie weder die Feinheit der Nerven noch die Absicht ihrer Wege.

3. Also käme zuletzt alles auf die feinere Ausarbeitung, auf die proportionierte Lage der Teile gegeneinander und, wie es scheint, am meisten auf den  weiten und freien Sammelplatz an, die Eindrücke und Empfindungen aller Nerven mit der größesten Kraft,  mit der schärfsten Wahrheit, endlich auch mit dem  freiesten Spiel der Mannigfaltigkeit zu verknüpfen  und zu dem unbekannten göttlichen Eins, das wir Ge- danke nennen, energisch zu vereinen, wovon uns die  Größe des Gehirns an sich nichts saget. Indessen sind diese berechnenden Erfahrungen [27]  schätzbar und geben, zwar nicht die letzten, aber sehr  belehrende und weiterhin leitende Resultate, deren ich einige, um auch hier die aufsteigende Einförmigkeit  des Ganges der Natur zu zeigen, anzuführen wage.

1. In den kleinern Tieren, bei denen der Kreislauf  und die organische Wärme noch unvollkommen ist,  findet sich auch ein kleineres Gehirn und wenigere  Nerven. Die Natur hat ihnen, wie wir schon bemerkt  haben, an innigem oder fein verbreitetem Reiz ersetzt, was sie ihnen an Empfindung versagen mußte; denn  wahrscheinlich konnte der ausarbeitende Organismus  dieser Geschöpfe ein größeres Gehirn weder hervorbringen noch ertragen.

2. In den Tieren von wärmerm Blut wächst auch  die Masse des Gehirns in dem Verhältnis, wie ihre  künstlichere Organisation wächset; zugleich treten  hier aber auch andre Rücksichten ein, die insonderheit das Verhältnis der Nerven und Muskelkräfte gegeneinander zu bestimmen scheinet. In Raubtieren ist das Gehirn kleiner; bei ihnen herrschen Muskelkräfte, und auch ihre Nerven sind großenteils Dienerinnen desselben und des tierischen Reizes. Bei grasfressenden ruhigen Tieren wird das Gehirn größer, obwohl es auch  bei ihnen sich größtenteils noch in Nerven der Sinne  zu verbrauchen scheinet. Die Vögel haben viel Gehirn; denn sie mußten in ihrem kältern Elemente wärmeres Blut haben. Der Kreislauf ist auch zusammengedrängter in ihrem meistens kleineren Körper, und  so füllet bei dem verliebten Sperlinge das Gehirn den  ganzen Kopf und ist 1/5 vom Gewicht seines Körpers.

3. Bei jungen Geschöpfen ist das Gehirn größer als bei erwachsenen; offenbar weil es flüssiger und zarter  ist, also auch einen größern Raum einnimmt,  deswegen aber kein größeres Gewicht gibt. In ihm ist  noch der Vorrat jener zarten Befeuchtung zu allen Lebensverrichtungen und innern Wirkungen, durch welche das Geschöpf sich in seinen jüngern Jahren Fertigkeiten bilden und also viel aufwenden soll. Mit den Jahren wird es trockner und fester; denn die Fertigkeiten sind gebildet da, und der Mensch sowohl als das  Tier ist nicht mehr so leichter, so anmutiger, so flüchtiger Eindrücke fähig. Kurz, die Größe des Gehirns  bei einem Geschöpf scheint eine notwendige Mitbedingung, nicht aber die einzige, nicht die erste Bedingung zu sein zu seiner größern Fähigkeit und Verstandesübung. Unter allen Tieren hat der Mensch, wie schon die Alten wußten, verhältnismäßig das größeste Gehirn, worin ihm aber der Affe nichts nachgibt; ja  das Pferd wird hierin übertroffen vom Esel.

Also muß etwas anders hinzukommen, das die feinere Denkungskraft des Geschöpfs physiologisch fördert; und was könnte dies, nach dem Stufengange von Organisationen, den uns die Natur vors Auge gelegt  hat, anders sein als der Bau des Gehirns selbst, die  vollkommenere Ausarbeitung seiner Teile und Säfte,  endlich die schönere Lage und Proportion desselben  zur Empfängnis geistiger Empfindungen und Ideen in  der glücklichsten Lebenswärme. Lasset uns ihr Buch  aufschlagen, die feinsten Blätter, die sie je  geschrieben, die Gehirntafeln selbst; denn da der  Zweck ihrer Organisationen auf Empfindung, auf  Wohlsein, auf Glückseligkeit eines Geschöpfs geht,  so muß das Haupt endlich das sicherste Archiv werden, in dem wir ihre Gedanken finden:

1. In Geschöpfen, bei denen das Gehirn kaum anfängt, erscheinet es noch sehr einfach: es ist wie eine  Knospe oder ein paar Knospen des fortsprießenden  Rückenmarkes, die nur den nötigsten Sinnen Nerven  erteilen. Bei Fischen und Vögeln, die, nach Willis  Bemerkung, im ganzen Bau des Gehirns Ähnlichkeit  haben, nimmt die Zahl der Erhöhungen bis zu fünf  und mehreren zu; sie sondern sich auch deutlicher  auseinander. In den Tieren von wärmerem Blut endlich unterscheidet sich das kleine und große Gehirn  kenntlich: die Flügel des letzten breiten sich der Organisation des Geschöpfs zufolge auseinander, und  die einzelnen Teile treten zu eben dem Zweck in Verhältnis. Die Natur hat also, so wie bei der ganzen Bildung ihrer Geschlechter, so auch bei dem Inbegriff  und Ziel derselben, dem Gehirn, nur einen Haupttypus, auf den sie es vom niedrigsten Wurm und Insekt  anlegt, den sie bei allen Gattungen nach der verschiednen äußern Organisation des Geschöpfs im  kleinen zwar verändert, aber verändernd fortführt,  vergrößert, ausbildet und beim Menschen zuletzt aufs  künstlichste vollendet. Sie kommt mit dem kleinen  Hirn eher zustande als mit dem großen, da jenes seinem Ursprunge nach dem Rückenmark näher und verwandter. also auch bei mehreren Gattungen gleichförmiger ist, bei denen die Gestalt des großen Gehirns  noch sehr variieret. Es ist dieses auch nicht zu verwundern, da vom kleinern Gehirn so wichtige Nerven  für die tierische Organisation entspringen, so daß die  Natur in Ausbildung der edelsten Gedankenkräfte  ihren Weg von dem Rücken nach den vordern Teilen  nehmen mußte.

2. Bei dem größern Gehirn zeiget sich die mehrere  Ausarbeitung seiner Flügel in den edlern Teilen auf  mehr als eine Weise. Nicht nur sind seine Furchen  künstlicher und tiefer, und der Mensch hat derselben  mehrere und mannigfaltere als irgendein anderes Geschöpf; nicht nur ist die Rinde des Hirns beim Menschen der zarteste und feinste Teil seiner Glieder, der  sich ausdunstend bis auf 1/25 verlieret, sondern auch  der Schatz, den diese Rinde bedecket und durchflicht,  das Mark des Gehirns, ist bei den edlern Tieren und  am meisten beim Menschen in seinen Teilen unterschiedner, bestimmter und vergleichungsweise größer  als bei allen andern Geschöpfen. Beim Menschen  überwiegt das große Gehirn das kleine um ein vieles,  und das größere Gewicht desselben zeigt seine innere  Fülle und mehrere Ausarbeitung.

3. Nun zeigen alle bisherigen Erfahrungen, die der  gelehrteste Physiolog aller Nationen, Haller, gesammlet, wie wenig sich das unteilbare Werk der Ideenbildung in einzelnen materiellen Teilen des Gehirns materiell und zerstreut aufsuchen lasse; ja mich dünkt,  wenn alle diese Erfahrungen auch nicht vorhanden  wären, hätte man aus der Beschaffenheit der Ideenbildung selbst darauf kommen müssen. Was ist's, daß  wir die Kraft unsres Denkens nach ihren verschiednen Verhältnissen bald Einbildungskraft und Gedächtnis,  bald Witz und Verstand nennen? daß wir die Triebe,  zu begehren, vom reinen Willen absondern und endlich gar Empfindungs- und Bewegungskräfte teilen?  Die mindeste genauere Überlegung zeigt, daß diese  Fähigkeiten nicht örtlich sein können, als ob in dieser  Gegend des Gehirns der Verstand, in jener das Gedächtnis und die Einbildungskraft, in einer andern die  Leidenschaften und sinnlichen Kräfte wohnen; denn  der Gedanke unsrer Seele ist ungeteilt, und jede dieser Wirkungen ist eine Frucht der Gedanken. Es wird  daher beinah ungereimt, abstrahierte Verhältnisse als  einen Körper zergliedern zu wollen und, wie Medea  die Glieder ihres Bruders hinwarf, die Seele auseinander zu werfen. Entgehet uns bei dem gröbsten Sinne  das Material der Empfindung, das vom Nervensaft  (wenn dieser auch da wäre) ein so verschiednes Ding  ist: wieviel weniger wird uns die geistige Verbindung  aller Sinne und Empfindungen empfindbar werden,  daß wir dieselbe nicht nur sehen und hören, sondern  auch in den verschiedenen Teilen des Gehirns so willkürlich erwecken könnten, als ob wir ein Klavichord  spielten. Der Gedanke, dieses auch nur zu erwarten,  ist mir fremde.

4. Noch fremder wird er mir, wenn ich den Bau des Gehirns und seiner Nerven betrachte. Wie anders ist  hier die Haushaltung der Natur, als wie sich unsre abstrahierte Psychologie die Sinne und Kräfte der Seele  denket! Wer würde aus der Metaphysik erraten, daß  die Nerven der Sinne also entstehn, sich also trennen  und verbinden? Und doch sind dies die einzigen Gegenden des Gehirns, die wir in ihren organischen  Zwecken kennen, weil uns ihre Wirkung vors Auge  gelegt ist. Also bleibt uns nichts übrig, als diese heilige Werkstätte der Ideen, das innere Gehirn, wo sich  die Sinne einander nähern, als die Gebärmutter anzusehen, in denen sich die Frucht der Gedanken unsichtbar und unzerteilt bildet. Ist jene gesund und frisch  und gewährt der Frucht nicht nur die gehörige Geistes - und Lebenswärme, sondern auch den geräumigen  Ort, die schickliche Stätte, auf welcher die Empfindungen der Sinne und des ganzen Körpers von der unsichtbaren organischen Kraft, die hier alles durchwebt, erfasset und, wenn ich metaphorisch reden darf, in den lichten Punkt vereinigt werden können, der höhere Besinnung heißt, so wird, wenn äußere  Umstände des Unterrichts und der Ideenweckung dazukommen, das feinorganisierte Geschöpf der Vernunft fähig. Ist dieses nicht, fehlen dem Gehirn wesentliche Teile oder feinere Säfte, nehmen gröbere  Sinne den Platz ein, oder findet es sich endlich in  einer verschobenen, zusammengedruckten Lage was  wird die Folge sein, als daß jene feine Zusammenstrahlung der Ideen nicht stattfinde, daß das Geschöpf ein Knecht der Sinne bleibe?

5. Die Bildung der verschiednen Tiergehirne  scheint dies augenscheinlich darzulegen, und eben  hieraus, verglichen mit der äußern Organisation und  Lebensweise des Tieres, wird man sich Rechenschaft  geben können, warum die Natur, die überall auf einen Typus ausging, ihn nicht allenthalben erreichen konnte und jetzt so, jetzt anders abwechseln mußte. Der  Hauptsinn vieler Geschöpfe ist der Geruch: er ist  ihnen der notwendigste zur Unterhaltung und ihres Instinkts Führer. Nun siehe, wie sich im Gesicht des  Tiers die Nase hervordrängt, so drängen sich auch im  Gehirn desselben die Geruchnerven hervor, als ob zu  ihnen allein der Vorderteil des Hauptes gemacht wäre. Breit, hohl und markig gehen sie daher, daß sie fortgesetzte Gehirnkammern scheinen; bei manchen Gattungen gehen die Stirnhöhlen weit herauf, um vielleicht auch den Sinn des Geruchs zu verstärken, und  so, wenn ich so sagen darf, ist ein großer Teil der  Tierseele geruchartig. Die Sehnerven folgen, da nach  dem Geruch dieser Sinn dem Geschöpf der nötigste  war; sie gelangen schon mehr zur mittlern Region des  Gehirns, wie sie auch einem feineren Sinn dienen. Die andern Nerven, die ich nicht hererzählen will, folgen  in der Maße, wie die äußere und innere Organisation  einen Zusammenhang der Teile fordert, so daß z.B. die Nerven und Muskeln der Teile des Hinterhaupts den  Mund, die Kinnbacken u. f. stützen und beseelen. Sie  schließen also gleichsam das Antlitz und machen das  äußere Gebilde so zu einem Ganzen, wie es nach dem  Verhältnis innerer Kräfte das Innere war; nur berechne man dieses nicht bloß auf das Gesicht, sondern auf den ganzen Körper. Es ist sehr angenehm, die verschiednen Verhältnisse verschiedner Gestalten vergleichend durchzugehn und die innern Gewichte zu  betrachten, die die Natur für jedes Geschöpf aufhing.  Wo sie versagte, erstattete sie; wo sie verwirren  mußte, verwirrete sie weise, d. i. der äußern Organisation des Geschöpfs und seiner ganzen Lebensweise  harmonisch. Sie hatte aber immer ihren Typus im  Auge und wich ungern von ihm ab, weil ein gewisses  analoges Empfinden und Erkennen der Hauptzweck  war, zu dem sie alle Erdorganisationen bilden wollte.  Bei Vögeln, Fischen und den verschiedensten Landtieren ist dies in einer fortgehenden Analogie zu zeigen.

6. Und so kommen wir auf den Vorzug des Menschen in seiner Gehirnbildung. Wovon hängt er ab?  Offenbar von seiner vollkommnern Organisation im  ganzen und zuletzt von seiner aufrechten Stellung.  Jedes Tiergehirn ist nach der Bildung seines Kopfs,  oder vielmehr diese nach ihm, geformt, weil die Natur von innen aus wirket. Zu welchem Gange, zu welchem Verhältnis der Teile gegeneinander, zu welchem Habitus endlich sie das Geschöpf bestimmte, darnach  mischte und ordnete sie auch seine organischen Kräfte. Und so ward das Gehirn groß oder klein, breit oder schmal, schwer oder leicht, viel- oder einartig, nachdem seine Kräfte waren und in welchem Verhältnis  sie gegeneinander wirkten. Darnach wurden auch die  Sinne des Geschöpfs stark oder schwach, herrschend  oder dienend. Höhlen und Muskeln des Vorder- und  Hinterhaupts bildeten sich, nachdem die Lymphe gravitierte, kurz, nach dem Winkel der organischen  Hauptrichtung. Von zahlreichen Proben, die hierüber aus Gattungen und Geschlechtern angeführt werden  könnten, führe ich nur zwei oder drei an. Was bildet  den organischen Unterschied unsers Haupts vom  Kopf des Affen? Der Winkel seiner Hauptrichtung.  Der Affe hat alle Teile des Gehirns, die der Mensch  hat; er hat sie aber nach der Gestalt seines Schädels in einer zurückgedrückten Lage, und diese hat er, weil  sein Kopf unter einem andern Winkel geformt und er  nicht zum aufrechten Gange gemacht ist. Sofort wirkten alle organischen Kräfte anders: Der Kopf ward  nicht so hoch, nicht so breit, nicht so lang wie der  unsre; die niedern Sinne traten mit dem Unterteil des  Gesichts hervor, und es ward ein Tiergesicht, so wie  sein zurückgeschobnes Gehirn immer nur ein Tiergehirn blieb; wenn er auch alle Teile des menschlichen  Gehirns hätte, er hat sie in andrer Lage, in anderm  Verhältnis. Die parisischen Zergliederer fanden in  ihren Affen die Vorderteile menschenähnlich, die innern aber von dem kleinen Gehirn alle im Verhältnis  tiefer; die Zirbeldrüse war konisch, ihre Spitze nach  dem Hinterhaupt gekehrt u. f. - lauter Verhältnisse  aus diesem Winkel der Hauptrichtung zu seinem  Gange, zu seiner Gestalt und Lebensweise. Der Affe,  den Blumenbach [28] zergliederte, war noch tierischer,  wahrscheinlich weil er von einer niedrigern Art war;  daher sein größeres Cerebellum, daher die andern fehlende Unterschiede in den wichtigsten Regionen.  Beim Orang-Utang fallen diese weg, weil sein Haupt  minder zurückgebogen, sein Gehirn minder zurückgedrückt ist; indessen noch zurückgedrückt genug, wenn  man es mit dem hoch- und rund- und freigewölbten  menschlichen Gehirn vergleicht, der einzigen schönen Kammer der vernünftigen Ideenbildung. Warum hat  das Pferd kein Wundernetz (Rete mirabile) gleich andern Tieren? Weil sein Haupt emporsteht und sich die Hauptader schon einigermaßen dem Menschen ähnlich, ohne diese Versiegungen wie bei hangenden  Tierhäuptern, erhebet. Es ward also auch ein edleres,  rasches, mutiges Tier, von vieler Wärme, von wenigem Schlaf; da hingegen bei Geschöpfen, denen ihr  Haupt niedersank, die Natur im Bau des Gehirns soviel andre Anstalten vorzukehren hatte, sogar daß sie  die Hauptteile desselben mit einer beinern Wand unterschied. Alles kam also auf die Richtung an, nach  und zu der sie das Haupt der Organisation des ganzen Körpers gemäß formte. Ich schweige von mehrern  Beispielen mit dem Wunsch, daß forschende Zergliederer, insonderheit bei menschenähnlichen Tieren, auf dies innere Verhältnis der Teile nach der Lage gegeneinander und nach der Richtung des Haupts in  seiner Organisation zum Ganzen Rücksicht nehmen  möchten; hier, glaube ich, wohnt der Unterschied  einer Organisation zu diesem oder jenem Instinkt, zur  Wirkung einer Tier- oder Menschenseele; denn jedes  Geschöpf ist in allen seinen Teilen ein lebendig zusammenwirkendes Ganze.

7. Selbst der Winkel der menschlichen Wohlgestalt oder Mißbildung scheinet sich aus diesem einfachen  und allgemeinen Gesetz der Bildung des Haupts zum  aufrechten Gange bestimmen zu lassen; denn da diese  Form des Kopfs, diese Ausbreitung des Gehirns in  seine weiten und schönen Hemisphäre, mithin die  innere Bildung zur Vernunft und Freiheit nur auf einer aufrechten Gestalt möglich war, wie das Verhältnis  und die Gravitation dieser Teile selbst, die Proportion ihrer Wärme und die Art ihres Blutumlaufs zeiget, so  konnte auch aus diesem innern Verhältnis nichts anders als die menschliche Wohlgestalt werden. Warum  neiget sich die griechische Form des Oberhaupts so  angenehm vor? Weil sie den weitesten Raum eines  freien Gehirns umschließt, ja auch schöne, gesunde  Stirnhöhlen verrät, also einen Tempel jugendlich-schöner und reiner Menschengedanken. Das  Hinterhaupt dagegen ist klein; denn das tierische Cerebellum soll nicht überwiegen. So ist's mit den an- dern Teilen des Gesichts; sie zeigen als sinnliche Organe die schönste Proportion der sinnlichen Kräfte  des Gehirns an, und jede Abweichung davon ist tierisch. Ich bin gewiß, daß wir über die Zusammenstimmung dieser Teile einst noch eine so schöne Wissenschaft haben werden, als uns die bloß erratende Physiognomik schwerlich allein gewähren kann. Im Innern liegt der Grund des Äußern, weil durch organische Kräfte alles von innen heraus gebildet ward und  jedes Geschöpf eine so ganze Form der Natur ist, als  ob sie nichts anders geschaffen hätte.

Blick also auf gen Himmel, o Mensch, und erfreue  dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den  der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt, knüpfte! Gingest du wie ein  Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen  Richtung für Mund und Nase geformt und darnach  der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit, unsichtbar in dich gesenket? Selbst die Elenden, die unter die Tiere gerieten, verloren es: wie sich ihr Haupt mißbildete, verwilderten auch die inneren Kräfte; gröbere Sinnen  zogen das Geschöpf zur Erde nieder. Nun aber durch  die Bildung deiner Glieder zum aufrechten Gange  bekam das Haupt seine schöne Stellung und Richtung; mithin gewann das Hirn, dies zarte, ätherische  Himmelsgewächs, völligen Raum, sich umherzubreiten und seine Zweige abwärts zu versenden. Gedankenreich wölbte sich die Stirn, die tierischen Organe  traten zurück, es ward eine menschliche Bildung Je  mehr sich der Schädel hob, desto tiefer trat das Gehör  hinab; es fügte sich mit dem Gesicht freundschaftlicher zusammen, und beide Sinne bekamen einen innern Zutritt zur heiligen Kammer der Ideenbildung.  Das kleinere Gehirn, die sprossende Blüte des  Rückens und der sinnlichen Lebenskräfte, trat, da es  bei den Tieren herrschender war, mit dem andern Gehirn in ein untergeordnetes milderes Verhältnis. Die  Strahlen der wunderbar schönen gestreiften Körper  wurden bei dem Menschen gezeichneter und feiner;  ein Fingerzeig auf das unendlich feinere Licht, das in  dieser mittlern Region zusammen- und auseinanderstrahlet. So ward, wenn ich in einem Bilde reden darf, die Blume gebildet, die auf dem verlängerten Rückenmark nur emporsproßte, sich aber vornweg zu einem  Gewächs voll ätherischer Kräfte wölbet, das nur auf  diesem emporstrebenden Baum erzeugt werden konnte.

Denn ferner: Die ganze Proportion der organischen  Kräfte eines Tiers ist der Vernunft noch nicht günstig. In seiner Bildung herrschen Muskelkräfte und sinnliche Lebensreize, die nach dem Zweck des Geschöpfs  in jede Organisation eigen verteilt sind und den herrschenden Instinkt jedweder Gattung bilden. Mit der  aufrechten Gestalt des Menschen stand ein Baum da,  dessen Kräfte so proportioniert sind, daß sie dem Gehirn, als ihrer Blume und Krone, die feinsten und  reichsten Säfte geben sollten. Mit jedem Aderschlag  erhebt sich mehr als der sechste Teil des Bluts im  menschlichen Körper allein zum Haupt; der Hauptstrom desselben erhebt sich gerade und krümmet sich  sanft und teilt sich allmählich, also daß auch die entferntesten Teile des Haupts von seinem und seiner  Brüder Strömen Nahrung und Wärme erhalten. Die  Natur bot alle ihre Kunst auf, die Gefäße desselben zu verstärken, seine Macht zu schwächen und zu verfeinern, es lange im Gehirne zu halten und, wenn es sein Werk getan hat, es sanft vom Haupt zurückzuleiten.  Es entsprang aus Stämmen, die, dem Herzen nahe,  noch mit aller Kraft der ersten Bewegung wirken, und vom ersten Lebensanfange an arbeitet die ganze Gewalt des jungen Herzens auf diese, die empfindlichsten und edelsten Teile. Die äußern Glieder bleiben  noch ungeformt, damit zuerst nur das Haupt und die  innern Teile aufs zartste bereitet werden. Mit Verwundern sieht man nicht nur das gewaltige Übermaß  derselben, sondern auch ihre feine Struktur in den einzelnen Sinnen des Ungebornen, als ob die große  Künstlerin denselben allein zum Gehirn und zu den  Kräften innerer Bewegung erschaffen wollte, bis sie  allmählich auch die andern Glieder als Werkzeuge  und Darstellung des Innern nachholet. Schon also im  Mutterleibe wird der Mensch zur aufrechten Stellung  und zu allem, was von ihr abhängt, gebildet. In keinem hangenden Tierleibe wird er getragen; ihm ist  eine künstlichere Formungsstätte bereitet, die auf  ihrer Basis ruhet. Da sitzt der kleine Schlafende, und  das Blut dringt zu seinem Haupt, bis dieses durch  seine eigne Schwere sinket. Kurz, der Mensch ist, was er sein soll (und dazu wirken alle Teile), ein aufstrebender Baum, gekrönt mit der schönsten Krone einer  feinern Gedankenbildung.

 

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