Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
         http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried
Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Viertes Buch

V

Der Mensch ist zur zartesten Gesundheit, zugleich aber zur stärksten Dauer, mithin zur Ausbreitung über die Erde organisieret

Mit dem aufgerichteten Gange gewann der Mensch  eine Zartheit, Wärme und Stärke, die kein Tier erlangen konnte. Im Stande der Wildheit wäre er großenteils, insonderheit auf dem Rücken, mit Haaren bedecket, und das wäre denn die Decke, über deren Entziehung der ältere Plinius die Natur so jammernd anklagt. Die wohltätige Mutter hat dem Menschen eine  schönere Hülle gegeben, seine zarte und doch so harte Haut, die den Unfällen jeder Jahrszeit, den Abwechselungen jedes Klima zu widerstehen vermag, wenn einige Kunst, die diesem Geschöpf zweite Natur ist,  Hülfe leistet.

Und zu dieser sollte ihn nicht nur die nackte Dürftigkeit, sondern etwas Menschlicheres und Schöneres, die holde Scham, leiten. Was auch einige Philosophen sagen mögen, so ist sie dem Menschen, ja schon ein  dunkles Analogon derselben einigen Tierarten, natürlich; denn auch die Äffin bedecket sich, und der Elefant suchet zur Begattung einsame dunkle Wälder.  Wir kennen beinah keine noch so tierische Nation [32]  auf der Erde, die nicht, zumal bei den Weibern von  den Jahren an, da die Triebe erwachen, die Bedeckung liebe; zumal auch die empfindliche Zartheit dieser  Teile und andre Umstände eine Hülle fordern. Noch  ehe der Mensch also seine andern Glieder gegen die  Wut der Elemente, gegen den Stich der Insekten durch Kleider oder Salben zu schützen suchte, führte ihn  eine Art sinnlicher Ökonomie des schnellesten und  notwendigsten Triebes auf die Verhüllung. Unter  allen edlern Tieren will das Weib gesuchet sein und  bietet sich nicht dar; sie erfüllet damit unwissend Absichten der Natur, und bei den Menschen ist das zartere Weib auch die weise Bewahrerin der holdseligen  Scham, die bei der aufrechten Gestalt sich gar bald  entwickeln mußte. -

Also bekam der Mensch Kleidung, und sobald er  diese und einige andere Kunst hatte, war er vermögend, jedes Klima der Erde auszudauren und in Besitz zu nehmen. Wenige Tiere, fast der Hund allein, haben ihm in alle Gegenden nachfolgen können, und doch  mit welcher Veränderung ihrer Gestalt, mit welcher  Abartung ihres angebornen Temperamentes! Der  Mensch allein hat sich am wenigsten und in wesentlichen Teilen gar nicht verändert. Man erstaunt, wie  ganz und einförmig sich seine Natur erhalten, wenn  man die Abänderungen seiner wandernden Mitbrüder  unter den Tieren siehet. Seine zarte Natur ist so  bestimmt, so vollkommen organisiert, daß er auf einer höchsten Stufe stehet und wenige Varietäten, die nicht einmal Anomalien zu nennen sind, sich an ihm möglich fanden.

Wodurch nun dieses? Abermals durch seine aufrechte Gestalt, durch nichts anders. Gingen wir, wie  Bär und Affe, auf allen vieren, so lasset uns nicht  zweifeln, daß auch die Menschenrassen (wenn mir das unedle Wort erlaubt ist) ihr eingeschränkteres Vaterland haben und nie verlassen würden. Der Menschenbär würde sein kaltes, der Menschenaffe sein warmes  Vaterland lieben; so wie wir noch gewahr werden,  daß, je tierischer eine Nation ist, desto mehr ist sie  mit Banden des Leibes und der Seele an ihr Land und  Klima befestigt.

Als die Natur den Menschen erhob, erhob sie ihn  zur Herrschaft über die Erde. Seine aufrechte Gestalt  gab ihm mit einem feiner organisierten Bau auch  einen künstlichern Blutumlauf, eine vielartigere Mischung der Lebenssäfte, also auch jene innigere, festere Temperatur der Lebenswärme, mit der er allein ein Bewohner Siberiens und Afrikas sein konnte. Nur  durch seinen aufgerichteten, künstlichern, organischen Bau ward er vermögend, eine Hitze und Kälte zu ertragen, die kein andres Erdengeschöpf umfasset, und  sich dennoch nur im kleinsten Maß zu verändern. Nun ward mit diesem zarteren Bau und mit allem,  was daraus folgte, auch freilich einer Reihe Krankheiten die Tür geöffnet, von denen das Tier nichts weiß  und die Moscati [33] beredt herzählet. Das Blut, das  seinen Kreislauf in einer aufrechten Maschine verrichtet, das Herz, das in eine schiefe Lage gedrängt ist,  die Eingeweide, die in einem stehenden Behältnis ihr  Werk treiben: allerdings sind diese Teile bei uns mehreren Gefahren der Zerrüttung ausgesetzt als in einem  tierischen Körper. Insonderheit, scheint es, muß das  weibliche Geschlecht seine größere Zartheit auch teurer als wir erkaufen. - Indessen ist auch hierin die  Wohltat der Natur tausendfach ersetzend und mildernd; denn unsre Gesundheit, unser Wohlsein, alle  Empfindungen und Reize unsres Wesens sind geistiger und feiner. Kein Tier genießt einen einzigen Augenblick menschlicher Gesundheit und Freude; es kostet keinen Tropfen des Nektarstroms, den der  Mensch trinkt; ja auch bloß körperlich betrachtet,  sind seine Krankheiten zwar weniger an der Zahl,  weil sein Körperbau gröber ist, aber dafür desto fortwirkender und fester. Sein Zellengewebe, seine Nervenhäute, seine Arterien, Knochen, sein Gehirn sogar  ist härter als das unsre; daher auch alle Landtiere  rings um den Menschen (vielleicht den einzigen Elefanten ausgenommen der in seinen Lebensperioden  uns nahe kommt) kürzer als der Mensch leben und  des Todes der Natur, d. i. an einem verhärtenden  Alter, viel früher als er sterben. Ihn hat also die Natur zum längsten und dabei zum gesundesten, freudenreichsten Leben bestimmt, das eine Erdorganisation  fassen konnte. Nichts hilft sich vielartiger und leichter als die vielartige menschliche Natur; und es haben  alle Ausschweifungen des Wahnsinns und der Laster,  deren freilich kein Tier fähig ist, dazu gehört, unsre  Maschine in dem Maß, wie sie in manchen Ständen  geschwächt und verdorben ist, zu schwächen und zu  verderben. Wohltätig hatte die Natur jedem Klima die Kräuter gegeben, die seinen Krankheiten dienen, und  nur die Verwirrung aller Klimate hat aus Europa den  Pfuhl von Übeln machen können, den kein Volk, das  der Natur gemäß lebet, bei sich findet. Indessen auch  für diese selbsterrungenen Übel hat sie uns ein selbst- errungenes Gute gegeben, das einzige, dessen wir  dafür wert waren, den Arzt, der, wenn er der Natur  folget, ihr aufhilft, und wenn er ihr nicht folgen darf  oder kann, den Kranken wenigstens wissenschaftlich begräbet.

Und o welche mütterliche Sorgfalt und Weisheit  der göttlichen Haushaltung war's, die auch die Lebensalter und die Dauer unsres Geschlechts bestimmte! Alle lebendige Erdgeschöpfe, die sich bald zu  vollenden haben, wachsen auch bald; sie werden früh  reif und sind schnell am Ziel des Lebens. Der  Mensch, wie ein Baum des Himmels aufrecht  gepflanzt, wächset langsam. Er bleibt gleich dem Elefanten am längsten im Mutterleibe; die Jahre seiner  Jugend dauren lange, unvergleichbar länger als irgendeines Tieres Die glückliche Zeit also, zu lernen,  zu wachsen, sich seines Lebens zu freuen und es auf  die unschuldigste Weise zu genießen, zog die Natur  so lang, als sie sie ziehen konnte. Manche Tiere sind  in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah schon im Augenblick der Geburt ausgebildet; sie sind aber auch desto  unvollkommener und sterben desto früher. Der  Mensch muß am längsten lernen, weil er am meisten  zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigenerlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt. Würde nachher auch durch das unnennbare Heer der Zufälle und Gefahren sein Leben abgekürzet, so hat er doch seine  sorgenfreie lange Jugend genossen, da mit seinem  Körper und Geist auch die Welt um ihn her wuchs, da mit seinem langsam heraufsteigenden, immer erweiterten Gesichtskreise auch der Kreis seiner Hoffnungen sich weitete und sein jugendlich edles Herz in rascher Neugier, in ungeduldiger Schwärmerei für alles  Große, Gute und Schöne immer heftiger schlagen  lernte. Die Blüte des Geschlechtstriebes entwickelt  sich bei einem gesunden, ungereizten Menschen später als bei irgendeinem Tier; denn er soll lange leben  und den edelsten Saft seiner Seelen- und Leibeskräfte  nicht zu früh verschwenden. Das Insekt, das der Liebe früh dienet, stirbt auch früh; alle keusche einpaarige  Tiergeschlechter leben länger, als die ohne Ehe leben  Der lüsterne Hahn stirbt bald; die treue Waldtaube  kann 50 Jahre leben. Für den Liebling der Natur hienieden ist also auch die Ehe geordnet, und die ersten,  frischesten Jahre seines Lebens soll er gar als eine  eingehüllete Knospe der Unschuld sich selbst leben.  Es folgen darauf lange Jahre der männlichen und heitersten Kräfte, in denen seine Vernunft reift, die bei  dem Menschen, sogar mit den Zeugungskräften, in ein den Tieren unbekanntes hohes Alter hinauf grünet, bis endlich der sanfte Tod kommt und den fallenden  Staub sowohl als den eingeschlossenen Geist von der  ihnen selbst fremden Zusammenfügung erlöset. Die  Natur hat also an die brechliche Hütte des menschlichen Leibes alle Kunst verwandt, die ein Gebilde der  Erde fassen konnte, und selbst in dem, was das Leben kürzt und schwächet, hat sie wenigstens den kürzern  mit dem empfindlichern Genuß, die aufreibende mit  der inniger gefühlten Kraft vergolten.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats