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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried    Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünftes Buch

III

Aller Zusammenhang der Kräfte und Formen ist weder Rückgang noch Stillstand, sondern Fortschreitung

Die Sache scheinet durch sich klar; denn wie eine  lebendige Kraft der Natur, ohne daß eine feindliche  Übermacht sie einschränkte und zurückstieße, stillstehen oder zurückgehen könne, ist nicht begreiflich. Sie wirkte als ein Organ der göttlichen Macht, als eine  tätig gewordne Idee seines ewig dauernden Entwurfs  der Schöpfung, und so mußten sich wirkend ihre  Kräfte mehren. Auch alle Abweichungen müssen sie  wieder zur rechten Bahn lenken, da die oberste Güte  Mittel genug hat, die zurückprallende Kugel, ehe sie  sinkt, durch einen neuen Anstoß, durch eine neue Erweckung wieder zum Ziel zu führen. Doch die Metaphysik bleibe beiseite; wir wollen Analogien der  Natur betrachten.

Nichts in ihr steht still; alles strebt und rückt weiter. Könnten wir die erste Periode der Schöpfung  durchsehn, wie ein Reich der Natur auf das andre gebauet ward: welche Progression fortstrebender Kräfte  würde sich in jeder Entwicklung zeigen! Warum tragen wir und alle Tiere Kalkerde in unsern Gebeinen?  Weil sie einer der letzten Übergänge gröberer Erdbildungen war, der seiner innern Gestaltung nach schon  einer lebendigen Organisation zum Knochengebäude  dienen konnte. So ist's mit allen übrigen Bestandteilen unsres Körpers.

Als die Tore der Schöpfung geschlossen wurden,  standen die einmal erwählten Organisationen als bestimmte Wege und Pforten da, auf denen sich künftig  in den Grenzen der Natur die niedern Kräfte aufschwingen und weiterbilden sollten. Neue Gestalten  erzeugeten sich nicht mehr; es wandeln und verwandeln sich aber durch dieselbe untere Kräfte, und was  Organisation heißt, ist eigentlich nur eine Leiterin  derselben zu einer höhern Bildung.

Das erste Geschöpf, das ans Licht tritt und unter  dem Strahl der Sonne sich als eine Königin des unterirdischen Reichs zeigt, ist die Pflanze. Was sind ihre  Bestandteile? Salz, Öl, Eisen, Schwefel und was sonst an feinern Kräften das Unterirdische zu ihr hinaufzuläutern vermochte. Wie kam sie zu diesen Teilen?  Durch innere organische Kraft, durch welche sie unter Beihülfe der Elemente jene sich eigen zu machen strebet. Und was tut sie mit ihnen? Sie ziehet sie an sich,  verarbeitet sie in ihr Wesen und läutert sie weiter.  Giftige und gesunde Pflanzen sind also nichts als Leiterinnen der gröbern zu feinern Teilen; das ganze  Kunstwerk des Gewächses ist, Niedriges zu Höherem  hinaufzubilden.

Über der Pflanze stehet das Tier und zehrt von  ihren Säften. Der einzige Elefant ist ein Grab von  Millionen Kräutern; aber er ist ein lebendiges, aus- wirkendes Grab, er animalisiert sie zu Teilen sein  selbst: die niedern Kräfte gehn in feinere Formen des  Lebens über. So ist's mit allen fleischfressenden Tieren; die Natur hat die Übergänge rasch gemacht,  gleich als ob sie sich vor allem langsamen Tode  fürchtete. Darum verkürzte sie und beschleunigte die  Wege der Transformation in höhere Lebensformen.  Unter allen Tieren ist das Geschöpf der feinsten Organe, der Mensch, der größeste Mörder. Er kann beinah  alles, was an lebendiger Organisation nur nicht zu tief unter ihm steht, in seine Natur verwandeln.

Warum wählte der Schöpfer diese dem äußern Anblick nach zerstörende Einrichtung seiner lebendigen  Reiche? Waren es feindliche Mächte, die sich ins  Werk teilten und ein Geschlecht dem andern zur  Beute machten? Oder war es Ohnmacht des Schöpfers, der seine Kinder nicht anders zu erhalten wußte?  Nehmet die äußere Hülle weg, und es ist kein Tod in  der Schöpfung; jede Zerstörung ist Übergang zum höhern Leben, und der weise Vater machte diesen so  früh, so rasch, so vielfach, als es die Erhaltung der  Geschlechter und der Selbstgenuß des Geschöpfs, das sich seiner Hülle freuen und sie wo möglich  auswirken sollte, nur gestatten konnte. Durch tausend  gewaltsame Tode kam er dem langsamen Ersterben  vor und beförderte den Keim der blühenden Kraft zu  höhern Organen. Das Wachstum eines Geschöpfs,  was ist's anders als die stete Bemühung desselben,  mehrere organische Kräfte mit seiner Natur zu verbinden? Hierauf sind seine Lebensalter eingerichtet, und  sobald es dies Geschäft nicht mehr kann, muß es abnehmen und sterben. Die Natur dankt die Maschine  ab, die sie zu ihrem Zweck der gesunden Assimilation, der muntern Verarbeitung nicht mehr tüchtig findet.

Worauf beruhet die Kunst des Arztes, als eine Dienerin der Natur zu sein und den tausendfach-arbeitenden Kräften unsrer Organisation zu  Hülfe zu eilen? Verlorne Kräfte ersetzt sie, matte  stärkt, überwiegende schwächt und bändigt sie; wodurch? Durch Herbeiführung und Assimilation solcher oder entgegengesetzter Kräfte aus den niedern  Reichen.

Nichts anders sagt uns die Erzeugung aller lebendigen Wesen; denn so tief ihr Geheimnis liege, so ist's offenbar, daß organische Kräfte im Geschöpf zur größesten Wirksamkeit aufblühten und jetzt zu neuen  Bildungen streben. Da jeder Organismus das Vermögen hat, niedere Kräfte sich selbst zu assimilieren, so  hat er auch das Vermögen, sieh, gestärkt durch jene,  in der Blüte des Lebens fortzubilden und den Abdruck sein selbst mit allen in ihm wirkenden Kräften  an seiner Statt der Welt zu geben.

So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch  die niedrige Natur, und sollte er bei der edelsten und  mächtigsten stillstehen oder zurückgehen müssen?  Was das Tier zu seiner Nahrung bedarf, sind nur  pflanzenartige Kräfte, damit es pflanzenartige Teile  belebe; der Saft der Muskeln und Nerven dient nicht  mehr zur Nahrung irgendeines Erdwesens. Selbst das  Blut ist nur Raubtieren eine Erquickung; und bei Nationen, die durch Leidenschaft oder Notdurft dazu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Tiers  bemerket, zu dessen lebendiger Speise sie sich grausam entschlossen. Also ist das Reich der Gedanken  und Reize, wie es auch seine Natur fordert, hier ohne  sichtbaren Fort- und Übergang, und die Bildung der  Nationen hat es zu einem ersten Gesetz des menschlichen Gefühls gemacht, jedes Tier, das noch lebet in  seinem Blut, zur Speise nicht zu begehren. Offenbar  sind alle diese Kräfte von geistiger Art; daher man  vielleicht mancher Hypothesen über den Nervensaft  als über ein tastbares Vehikulum der Empfindungen  hätte überhoben sein mögen. Der Nervensaft, wenn er da ist, erhält die Nerven und das Gehirn gesund, so  daß sie ohne ihn nur unbrauchbare Stricke und Gefäße wären; sein Nutze ist also körperlich, und die  Wirkung der Seele nach ihren Empfindungen und  Kräften ist, was für Organe sie auch gebrauchen  möge, überall geistig.

Und wohin kehren nun diese geistigen Kräfte, die  allem Sinn der Menschen entgehen? Weise hat die  Natur hier einen Vorhang vorgezogen und läßt uns,  die wir hiezu keine Sinne haben, in das geistige Reich ihrer Verwandlungen und Übergänge nicht hineinschauen; wahrscheinlich würde sich auch der Blick  dahin mit unsrer Existenz auf Erden und alle den  sinnlichen Empfindungen, denen wir noch unterworfen sind, nicht vertragen. Sie legte uns also nur Übergänge aus den niedern Reichen und in den höhern nur  aufsteigende Formen dar; ihre tausend unsichtbare  Wege der Überleitung behielt sie sich selbst vor; und  so ward das Reich der Ungebornen die große hylê  oder der Hades, in welchen kein menschliches Auge  reichet. Zwar scheinet diesem Untergange die bestimmte Form entgegenzustehen, der jede Gattung  treu bleibt und in welcher sich auch das kleinste Gebein nicht verändert; allein auch hievon ist der Grund  sichtbar, da jedes Geschöpf nur durch Geschöpfe seiner Gattung organisiert werden kann und darf. Die  feste ordnungsreiche Mutter hat also die Wege genau  bestimmt, auf denen eine organische Kraft, sie sei  herrschend oder dienend, zur sichtbaren Wirksamkeit  gelangen sollte, und so kann ihren einmal bestimmten Formen nichts entschlüpfen. Im Menschenreich z.B.  herrscht die größeste Mannigfaltigkeit von Neigungen und Anlagen, die wir oft als wunderbar und widernatürlich anstaunen, aber nicht begreifen. Da nun auch  diese nicht ohne organische Gründe sein können, so  ließe sich, wenn uns über dies Dunkle der Schöpfungsstätte einige Vermutung vergönnt ist, das Menschengeschlecht als der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte ansehen, die in ihm zur Bildung der Humanität kommen sollten.

Aber nun weiter? Der Mensch hat hier das Bild der Gottheit getragen und der feinsten Organisation genossen, die ihm die Erde geben konnte, soll er rückwärts gehen und wieder Stein, Pflanze, Elefant werden? Oder stehet bei ihm das Rad der Schöpfung still  und hat kein andres Rad, worin es greife? Das letzte  lässet sich nicht gedenken, da im Reich der obersten  Güte und Weisheit alles verbunden ist und in ewigem  Zusammenhange Kraft in Kraft wirket. Schauen wir  nun zurück und sehen, wie hinter uns alles aufs Menschengebilde zu reifen scheint und sich im Menschen  wiederum von dem, was er sein soll und worauf er absichtlich gebildet worden, nur die erste Knospe und  Anlage findet, so müßte aller Zusammenhang, alle  Absicht der Natur ein Traum sein, oder auch er rückt  (auf welchen Wegen und Gängen es nun auch sein  möge), auch er rückt weiter. Lasset uns sehen, wie die ganze Anlage der Menschennatur uns darauf weise.

 

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