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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neuntes Buch

Neuntes Buch

I

So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet, so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab

Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhängig von Sinnen und Organen, zu  einer ihm ursprünglichen, reinen Potenz erhoben, sondern auch der sinnliche Mensch wähnet im Traum seines Lebens, er sei alles, was er ist, durch sich selbst  worden. Erklärlich ist dieser Wahn, zumal bei dem  sinnlichen Menschen. Das Gefühl der Selbsttätigkeit,  das ihm der Schöpfer gegeben hat, regt ihn zu Handlungen auf und belohnt ihn mit dem süßesten Lohn  einer selbstvollendeten Handlung. Die Jahre seiner  Kindheit sind vergessen; die Keime, die er darin empfing, ja, die er noch täglich empfängt, schlummern in  seiner Seele; er siehet und genießt nur den entsproßten Stamm und freut sich seines lebendigen Wuchses,  seiner früchtetragenden Zweige. Der Philosoph indessen, der die Genesis und den Umfang eines Menschenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die  ganze Kette der Bildung unsres Geschlechts in der  Geschichte verfolgen könnte, er müßte, dünkt mich,  da ihn alles an Abhängigkeit erinnert, sich aus seiner  idealischen Welt, in der er sich allein und allgenugsam  fühlet, gar bald in unsre wirkliche zurückfinden.

Sowenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt  nach aus sieh entspringt, sowenig ist er im Gebrauch  seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborner. Nicht nur  der Keim unsrer innern Anlagen ist genetisch wie  unser körperliches Gebilde, sondern auch jede Entwicklung dieses Keimes hängt vom Schicksal ab, das  uns hie- oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jahren die Hülfsmittel der Bildung um uns legte. Schon  das Auge mußte sehen, das Ohr hören lernen; und wie künstlich das vornehmste Mittel unsrer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Natur auch unsern ganzen Mechanismus samt der Beschaffenheit und Dauer unsrer  Lebensalter zu dieser fremden Beihülfe eingerichtet.  Das Hirn der Kinder ist weich und hangt noch an der  Hirnschale; langsam bildet es seine Streifen aus und  wird mit den Jahren erst fester, bis es allmählich sich  härtet und keine neuen Eindrücke mehr annimmt. So  sind die Glieder, so die Triebe des Kindes; jene sind  zart und zur Nachahmung eingerichtet, diese nehmen,  was sie sehen und hören, mit wunderbar-reger Aufmerksamkeit und innerer Lebenskraft auf. Der  Mensch ist also eine künstliche Maschine, zwar mit  genetischer Disposition und einer Fülle von Leben  begabt; aber die Maschine spielet sich nicht selbst,  und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie  spiele. Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unsrer Seele, eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die nach gegebnen fremden Vorbildern der Erzogne zuletzt als ein fremder  Künstler an sich vollendet.

Hier also liegt das Principium zur Geschichte der  Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte  gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so  wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht  der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben  darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so  wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit  notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.

Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts, eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht  nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebet.  Freilich, wenn jemand sagte, daß nicht der einzelne  Mensch, sondern das Geschlecht erzogen werde, so  spräche er für mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe sind, außer sofern sie in einzelnen Wesen existieren. Gäbe ich diesem allgemeinen Begriff nun auch alle Vollkommenheiten der  Humanität, Kultur und höchsten Aufklärung, die ein  idealischer Begriff gestattet, so hätte ich zur wahren  Geschichte unsres Geschlechts ebensoviel gesagt, als  wenn ich von der Tierheit, der Steinheit, der Metallheit im allgemeinen spräche und sie mit den herrlichsten, aber in einzelnen Individuen einander widersprechenden Attributen auszierte. Auf diesem Wege der  Averroischen Philosophie, nach der das ganze Menschengeschlecht nur eine, und zwar eine sehr niedrige  Seele besitzet, die sich dem einzelnen Menschen nur  teilweise mitteilet auf ihm soll unsre Philosophie der  Geschichte nicht wandern. Schränkte ich aber gegenseits beim Menschen alles auf Individuen ein und  leugnete die Kette ihres Zusammenhanges sowohl untereinander als mit dem Ganzen, so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgegen; denn kein einzelner von uns ist  durch sich selbst Mensch worden. Das ganze Gebilde  der Humanität in ihm hangt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das  irgend in einem Gliede eine seiner Seelenkräfte berührte. So werden Völker zuletzt Familien, Familien  gehen zu Stammvätern hinauf; der Strom der Geschichte enget sich bis zu seinem Quell, und der  ganze Wohnplatz unsrer Erde verwandelt sich endlich in ein Erziehungshaus unsrer Familie, zwar mit vielen Abteilungen, Klassen und Kammern, aber doch nach  einem Typus der Lektionen, der sich mit mancherlei  Zusätzen und Verändrungen durch alle Geschlechter  vom Urvater heraberbte. Trauen wir's nun dem eingeschränkten Verstande eines Lehrers zu, daß er die Abteilungen seiner Schüler nicht ohne Grund machte,  und finden, daß das Menschengeschlecht auf der Erde  allenthalben, und zwar den Bedürfnissen seiner Zeit  und Wohnung gemäß, eine Art künstlicher Erziehung  finde: welcher Verständige, der den Bau unsrer Erde  und das Verhältnis der Menschen zu ihm betrachtet,  wird nicht vermuten, daß der Vater unsres Geschlechts, der bestimmt hat, wie lange und weit Nationen wohnen sollen, diese Bestimmung auch als  Lehrer unsres Geschlechts gemacht habe? Wird, wer  ein Schiff betrachtet, eine Absicht des Werkmeisters  in ihm leugnen? Und wer das künstliche Gebilde unsrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen können, daß nicht auch in Absicht der geistigen Erziehung die klimatische Diversität der vielartigen Menschen ein  Zweck der Erdeschöpfung gewesen? Da aber der  Wohnplatz allein noch nicht alles ausmacht, indem  lebendige, uns ähnliche Wesen dazu gehören, uns zu  unterrichten, zu gewöhnen, zu bilden: mich dünkt, so  gibt es eine Erziehung des Menschengeschlechts und  eine Philosophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr  es eine Menschheit, d. i. eine Zusammenwirkung der  Individuen, gibt, die uns allein zu Menschen machte.

Sofort werden uns auch die Prinzipien dieser Philosophie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturgeschichte des Menschen selbst ist: sie heißen  Tradition und organische Kräfte. Alle Erziehung  kann nur durch Nachahmung und Übung, also durch  Übergang des Vorbildes ins Nachbild, werden; und  wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen? Der Nachahmende aber muß Kräfte haben, das  Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es wie  die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also, was und wieviel er aufnehme, wie er's sich zueigne, nutze und anwende: das  kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die Erziehung unsres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten.  Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die  sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung  des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette  der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans  Ende der Erde. Auch der Kalifornier und Feuerländer  lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen;  er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste,  die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also  wirklich kultiviert und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise. Das Gemälde der Nationen hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Räumen und Zeiten  wechseln; es kommt also auch bei ihm, wie bei jedem  Gemälde, auf den Standpunkt an, in dem man die Gestalten wahrnimmt. Legen wir den Begriff der europäischen Kultur zum Grunde, so findet sich diese allerdings nur in Europa; setzen wir gar noch willkürliche Unterschiede zwischen Kultur und Aufklärung  fest, deren keine doch, wenn sie rechter Art ist, ohne  die andre sein kann, so entfernen wir uns noch weiter  ins Land der Wolken. Bleiben wir aber auf der Erde  und sehen im allgemeinsten Umfange das an, was uns die Natur, die den Zweck und Charakter ihres Geschöpfs am besten kennen mußte, als menschliche  Bildung selbst vor Augen legt, so ist dies keine andre  als die Tradition einer Erziehung zu irgendeiner  Form menschlicher Glückseligkeit und Lebensweise  Diese ist allgemein wie das Menschengeschlecht, ja  unter den Wilden oft am tätigsten, wiewohl nur in  einem engern Kreise. Bleibt der Mensch unter Menschen, so kann er dieser bildenden oder mißbildenden  Kultur nicht entweichen: Tradition tritt zu ihm und  formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene  ist und wie diese sich bilden lassen, so wird der  Mensch, so ist er gestaltet. Selbst Kinder, die unter  die Tiere gerieten, nahmen, wenn sie einige Zeit bei  Menschen gelebt hatten, schon menschliche Kultur  unter dieselbe, wie die bekannten meisten Exempel  beweisen; dagegen ein Kind, das vom ersten Augenblick der Geburt an der Wölfin übergeben würde, der  einzige unkultivierte Mensch auf der Erde wäre.

Was folgt aus diesem festen und durch die ganze  Geschichte unsres Geschlechts bewährten Gesichtspunkt? Zuerst ein Grundsatz, der, wie unserm Leben,  so auch dieser Betrachtung Aufmunterung und Trost  gibt, nämlich: Ist das Menschengeschlecht nicht durch sich selbst entstanden, ja, wird es Anlagen in seiner  Natur gewahr, die keine Bewunderung genugsam preiset, so muß auch die Bildung dieser Anlagen vom  Schöpfer durch Mittel bestimmt sein, die seine weiseste Vatergüte verraten. Ward das leibliche Auge  vergebens so schön gebildet, und findet es nicht sogleich den goldnen Lichtstrahl vor sich, der für dasselbe, wie das Auge für den Lichtstrahl, erschaffen ist und die Weisheit seiner Anlage vollendet? So ist's mit allen Sinnen, mit allen Organen: sie finden ihre Mittel zur Ausbildung, das Medium, zu dem sie geschaffen  wurden. Und mit den geistigen Sinnen und Organen,  auf deren Gebrauch der Charakter des Menschengeschlechts sowie die Art und das Maß seiner Glückseligkeit beruhet: hier sollte es anders sein? Hier sollte  der Schöpfer seine Absicht, mithin die Absicht der  ganzen Natur, sofern sie vom Gebrauch menschlicher  Kräfte abhangt, verfehlt haben? Unmöglich! Jeder  Wahn hierüber muß an uns liegen, die wir dem  Schöpfer entweder falsche Zwecke unterschieben  oder, soviel an uns ist, sie vereiteln. Da aber auch  diese Vereitlung ihre Grenzen haben muß und kein  Entwurf des Allweisen von einem Geschöpf seiner  Gedanken verrückt werden kann, so lasset uns sicher  und gewiß sein, daß, was Absicht Gottes auf unsrer  Erde mit dem Menschengeschlecht ist, auch in seiner  verworrensten Geschichte unverkennbar bleibe. Alle  Werke Gottes haben dieses eigen, daß, ob sie gleich  alle zu einem unübersehlichen Ganzen gehören, jedes  dennoch auch für sich ein Ganzes ist und den göttlichen Charakter seiner Bestimmung an sich träget. So  ist's mit der Pflanze und mit dem Tier; wäre es mit  dem Menschen und seiner Bestimmung anders? Daß  Tausende etwa nur für einen, daß alle vergangenen  Geschlechter fürs letzte, daß endlich alle Individuen  nur für die Gattung, d. i. für das Bild eines abstrakten Namens, hervorgebracht wären? So spielt der Allweise nicht; er dichtet keine abgezognen Schattenträume; in jedem seiner Kinder liebet und fühlt er sich mit dem Vatergefühl, als ob dies Geschöpf das einzige seiner Welt wäre. Alle seine Mittel sind Zwecke,  alle seine Zwecke Mittel zu größern Zwecken, in  denen der Unendliche allerfüllend sich offenbaret.  Was also jeder Mensch ist und sein kann, das muß  Zweck des Menschengeschlechts sein; und was ist  dies? Humanität und Glückseligkeit auf dieser Stelle,  in diesem Grad, als dies und kein andres Glied der  Kette von Bildung, die durchs ganze Geschlecht reichet. Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist  du, der du sein solltest; verlaß die Kette nicht, noch  setze dich über sie hinaus, sondern schlinge dich an  sie! Nur in ihrem Zusammenhange, in dem, was du  empfängest und gibst, und also in beidem Fall tätig  wirst, nur da wohnt für dich Leben und Friede.

Zweitens. Sosehr es dem Menschen schmeichelt,  daß ihn die Gottheit zu ihrem Gehilfen angenommen  und seine Bildung hienieden ihm selbst und seinesgleichen überlassen habe, so zeigt doch eben dies von der Gottheit erwählte Mittel die Unvollkommenheit  unsres irdischen Daseins, indem wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden. Was  ist's für ein armes Geschöpf, das nichts aus sich selbst hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Übung bekommt  und, wie ein Wachs, darnach Gestalten annimmt!  Man sehe, wenn man auf seine Vernunft stolz ist, den  Spielraum seiner Mitbrüder an auf der weiten Erde  oder höre ihre vieltönige, dissonante Geschichte.  Welche Unmenschlichkeit gäbe es, zu der sich nicht  ein Mensch, eine Nation, ja oft eine Reihe von Nationen gewöhnen konnte, sogar daß ihrer viele und vielleicht die meisten das Fleisch ihrer Mitbrüder fraßen?  Welche törichte Einbildung wäre denkbar, die die  erbliche Tradition nicht hie oder da wirklich geheiligt  hätte? Niedriger also kann kein vernünftiges Geschöpf stehen, als der Mensch steht; denn er ist lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, sondern  sogar ein Zögling der Vernunft andrer. In welche  Hände er fällt, darnach wird er gestaltet, und ich glaube nicht, daß irgendeine Form der menschlichen Sitte  möglich sei, in der nicht ein Volk oder ein Individuum desselben existiert oder existiert habe. Alle Laster  und Greueltaten erschöpfen sich in der Geschichte,  bis endlich hie und da eine edlere Form menschlicher  Gedanken und Tugenden erscheinet. Nach dem vom  Schöpfer erwählten Mittel, daß unser Geschlecht nur  durch unser Geschlecht gebildet würde, war's nicht  anders möglich: Torheiten mußten sich vererben wie  die sparsamen Schätze der Weisheit; der Weg der  Menschen ward einem Labyrinth gleich, mit Abwegen auf allen Seiten, wo nur wenige Fußtapfen zum innersten Ziel führen. Glücklich ist der Sterbliche, der  dahin ging oder führte, dessen Gedanken, Neigungen  und Wünsche oder auch nur die Strahlen seines stillen Beispiels auf die schönere Humanität seiner Mitbrüder fortgewirkt haben. Nicht anders wirkt Gott auf der Erde als durch erwählte, größere Menschen; Religion  und Sprache, Künste und Wissenschaften, ja die Regierungen selbst können sich mit keiner schönern  Krone schmücken als mit diesem Palmzweige der sittlichen Fortbildung in menschlichen Seelen. Unser  Leib vermodert im Grabe, und unsers Namens Bild ist bald ein Schatte auf Erden; nur in der Stimme Gottes,  d. i. der bildenden Tradition einverleibt, können wir  auch mit namenloser Wirkung in den Seelen der Unsern tätig fortleben.

Drittens. Die Philosophie der Geschichte also, die  die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die  wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äußere  Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden. Grausenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer  auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende,  Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Namen, die in der  Geschichte der Kultur als Genien des Menschengeschlechts, als glänzende Sterne in der Nacht der Zeiten schimmern! Laß es sein, daß der Verfolg der  Äonen manches von ihrem Gebäude zertrümmerte  und vieles Gold in den Schlamm der Vergessenheit  senkte die Mühe ihres Menschenlebens war dennoch  nicht vergeblich; denn was die Vorsehung von ihrem  Werk retten wollte, rettete sie in andern Gestalten.  Ganz und ewig kann ohnedies kein Menschendenkmal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war  und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird,  sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält. Auch die wandelbare Gestalt und die Unvollkommenheit aller menschlichen Wirkung lag also im  Plan des Schöpfers. Torheit mußte erscheinen, damit  die Weisheit sie überwinde; zerfallende Brechlichkeit  auch der schönsten Werke war von ihrer Materie unzertrennlich, damit auf den Trümmern derselben eine  neue bessernde oder bauende Mühe der Menschen  stattfände; denn alle sind wir hier nur in einer Werkstätte der Übung. Jeder einzelne muß davon, und da  es ihm sodann gleich sein kann, was die Nachwelt mit seinen Werken vornehme, so wäre es einem guten  Geist sogar widrig, wenn die folgenden Geschlechter  solche mit toter Stupidität anbeten und nichts Eigenes unternehmen wollten. Er gönnet ihnen diese neue  Mühe; denn was er aus der Welt mitnahm, war seine  gestärkte Kraft, die innere reiche Frucht seiner  menschlichen Übung.

Goldene Kette der Bildung also, du, die die Erde  umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron  der Vorsehung reichet: seitdem ich dich ersah und in  deinen schönsten Gliedern, den Vater- und Mutter-,  den Freundes- und Lehrer-Empfindungen, verfolgte,  ist mir die Geschichte nicht mehr, was sie mir sonst  schien, ein Greuel der Verwüstung auf einer heiligen  Erde. Tausend Schandtaten stehen da, mit häßlichem  Lobe verschleiert; tausend andre stehn in ihrer ganzen Häßlichkeit daneben, um allenthalben doch das sparsame wahre Verdienst wirkender Humanität auszuzeichnen, das auf unsrer Erde immer still und verborgen ging und selten die Folgen kannte, die die Vorsehung aus seinem Leben, wie den Geist aus der Masse, hervorzog. Nur unter Stürmen konnte die edle Pflanze erwachsen; nur durch Entgegenstreben gegen falsche  Anmaßungen mußte die süße Mühe der Menschen  Siegerin werden; ja, oft schien sie unter ihrer reinen  Absicht gar zu erliegen. Aber sie erlag nicht. Das Samenkorn aus der Asche des Guten ging in der Zukunft desto schöner hervor, und mit Blut befeuchtet, stieg es meistens zur unverwelklichen Krone. Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr: es  ist unserm Geschlecht so nötig wie dem Strom seine  Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde.  Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius  der Humanität auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter.

 

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