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Johann Gottfried Herderaus Ideen zur Philosophie der Geschichte der MenschheitNeuntes Buch |
IIDas sonderbare Mittel zur Bildung der Menschen ist SpracheIm Menschen, ja selbst im Affen, findet sich ein sonderbarer Trieb der Nachahmung, der keinesweges die Folge einer vernünftigen Überlegung, sondern ein unmittelbares Erzeugnis der organischen Sympathie scheinet. Wie eine Saite der andern zutönt und mit der reinern Dichtigkeit und Homogeneität aller Körper auch ihre vibrierende Fähigkeit zunimmt, so ist die menschliche Organisation, als die feinste von allen, notwendig auch am meisten dazu gestimmt, den Klang aller andern Wesen nachzuhallen und in sich zu fühlen. Die Geschichte der Krankheiten zeigt, daß nicht nur Affekten und körperliche Wunden, daß selbst der Wahnsinn sich sympathetisch fortbreiten konnte. Bei Kindern sehen wir also die Wirkungen dieses Consensus gleichgestimmter Wesen im hohen Grade; ja eben auch dazu sollte ihr Körper lange Jahre ein leicht zurücktönendes Saitenspiel bleiben. Handlungen und Gebärden, selbst Leidenschaften und Gedanken gehen unvermerkt in sie über, so daß sie auch zu dem, was sie noch nicht üben können, wenigstens gestimmt werden und einem Triebe, der eine Art geistiger Assimilation ist, unwissend folgen. Bei allen Söhnen der Natur, den wilden Völkern, ist's nicht anders. Geborne Pantomimen, ahmen sie alles, was ihnen erzählt wird oder was sie ausdrücken wollen, lebhaft nach und zeigen damit in Tänzen, Spielen, Scherz und Gesprächen ihre eigentliche Denkart. Nachahmend nämlich kam ihre Phantasie zu diesen Bildern; in Typen solcher Art bestehet der Schatz ihres Gedächtnisses und ihrer Sprache; daher gehen auch ihre Gedanken so leicht in Handlung und lebendige Tradition über. Durch alle diese Mimik indessen wäre der Mensch noch nicht zu seinem künstlichen Geschlechtscharakter, der Vernunft, gekommen; zu ihr kommt er allein durch Sprache. Lasset uns bei diesem Wunder einer göttlichen Einsetzung verweilen; es ist außer der Genesis lebendiger Wesen vielleicht das größeste der Erdeschöpfung. Wenn uns jemand ein Rätsel vorlegte, wie Bilder des Auges und alle Empfindungen unsrer verschiedensten Sinne nicht nur in Töne gefaßt, sondern auch diesen Tönen mit inwohnender Kraft so mitgeteilt werden sollen, daß sie Gedanken ausdrücken und Gedanken erregen, ohne Zweifel hielte man dies Problem für den Einfall eines Wahnsinnigen, der, höchst ungleiche Dinge einander substituierend, die Farbe zum Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedächte. Die Gottheit hat das Problem tätig aufgelöset. Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele. Von einem bewegten Lüftchen hangt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden; denn alle liefen wir noch in Wäldern umher, wenn nicht dieser göttliche Odem uns angehaucht hätte und wie ein Zauberton auf unsern Lippen schwebte. Die ganze Geschichte der Menschheit also mit allen Schätzen ihrer Tradition und Kultur ist nichts als eine Folge dieses aufgelösten göttlichen Rätsels. Was uns dasselbe noch sonderbarer macht, ist, daß wir selbst nach seiner Auflösung bei täglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zusammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehör und Sprache hangen zusammen; denn bei den Abartungen der Geschöpfe verändern sich ihre Organe offenbar miteinander. Auch sehen wir, daß zu ihrem Consensus der ganze Körper eingerichtet worden; die innere Art der Zusammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude, Töne werden, daß, was unser Ohr hört, auch die Zunge reget, daß Bilder und Empfindungen geistige Merkmale, daß diese Merkmale bedeutende, ja bewegende Sprache sein können - das alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichsam, den der Schöpfer zwischen den verschiedensten Sinnen und Trieben, Kräften und Gliedern seines Geschöpfs ebenso wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zusammenfügte. Wie sonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige wenigstens das beste Mittel unsrer Gedanken und Empfindungen sein sollte! Ohne sein unbegreifliches Band mit allen ihm so ungleichen Handlungen unsrer Seele wären diese Handlungen ungeschehen, die feinen Zubereitungen unsres Gehirns müßig, die ganze Anlage unsres Wesens unvollendet geblieben, wie die Beispiele der Menschen, die unter die Tiere gerieten, zeigen. Die Taub- und Stummgebornen, ob sie gleich jahrelang in einer Welt von Gebärden und andern Ideenzeichen lebten, betrugen sich dennoch nur wie Kinder oder wie menschliche Tiere. Nach der Analogie dessen, was sie sahen und nicht verstanden, handelten sie; einer eigentlichen Vernunftverbindung waren sie durch allen Reichtum des Gesichts nicht fähig worden. Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat; die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibet; eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. Mit den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Flut seiner Affekten in Dämme einschloß und ihr durch Worte vernünftige Denkmale setzte. Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, keine Zauberrute hat Wüsten in Gärten verwandelt: die Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der Menschen. Durch sie vereinigten sie sich, bewillkommend einander, und schlossen den Bund der Liebe. Gesetze stiftete sie und verband Geschlechter; nur durch sie ward eine Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele möglich. Noch jetzt sehe ich die Helden Homers und fühle Ossians Klagen, obgleich die Schatten der Sänger und ihrer Helden so lange der Erde entflohn sind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat sie unsterblich gemacht und bringt ihre Gestalten vor mich; die Stimme der Verstorbenen ist in meinem Ohr; ich höre ihre längstverstummeten Gedanken. Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende Seele an die Seele des ersten und vielleicht des letzten denkenden Menschen geknüpfet: kurz, Sprache ist der Charakter unsrer Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnet und sich fortpflanzet. Indessen zeigt eine kleine nähere Ansicht, wie unvollkommen dies Mittel unsrer Bildung sei, nicht nur als Werkzeug der Vernunft, sondern auch als Band zwischen Menschen und Menschen betrachtet, so daß man sich beinah kein unwesenhafteres, leichteres, flüchtigeres Gewebe denken kann, als womit der Schöpfer unser Geschlecht verknüpfen wollte. Gütiger Vater, war kein andrer Kalkül unsrer Gedanken, war keine innigere Verbindung menschlicher Geister und Herzen möglich? 1. Keine Sprache drückt Sachen aus, sondern nur Namen; auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet: eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unsres Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt gibt. Alle unsre Metaphysik ist Metaphysik, d. i. ein abgezognes, geordnetes Namenregister hinter Beobachtungen der Erfahrung. Als Ordnung und Register kann diese Wissenschaft sehr brauchbar sein und muß gewissermaße in allen andern unsern künstlichen Verstand leiten; für sich aber und als Natur der Sache betrachtet, gibt sie keinen einzigen vollständigen und wesentlichen Begriff, keine einzige innige Wahrheit. All unsre Wissenschaft rechnet mit abgezognen einzelnen äußern Merkmalen, die das Innere der Existenz keines einzigen Dinges berühren, weil zu dessen Empfindung und Ausdruck wir durchaus kein Organ haben. Keine Kraft in ihrem Wesen kennen wir, können sie auch nie kennenlernen; denn selbst die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und fühlen wir zwar, aber wir kennen sie nicht. Keinen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen wir also, da wir weder das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Innern einsehn und vom Sein eines Dinges durchaus keinen Begriff haben. Unsre arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name saget. 2. Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mögen? Nichts minder! Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern; denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. Und wieviel mehr als zwo sind ihrer auf der Erde! in denen allen doch die Vernunft rechnet und sich mit dem Schattenspiel einer willkürlichen Zusammenordnung begnüget. Warum dies? Weil sie selbst nur unwesentliche Merkmale besitzt und es am Ende ihr gleichgültig ist, mit diesen oder jenen Ziffern zu bezeichnen. Trüber Blick auf die Geschichte des Menschengeschlechtes! Irrtümer und Meinungen sind unsrer Natur also unvermeidlich, nicht etwa nur aus Fehlern des Beobachters, sondern der Genesis selbst nach, wie wir zu Begriffen kommen und diese durch Vernunft und Sprache fortpflanzen. Dächten wir Sachen statt abgezogner Merkmale und sprächen die Natur der Dinge aus statt willkürlicher Zeichen, so lebe wohl, Irrtum und Meinung, wir sind im Lande der Wahrheit. Jetzt aber, wie fern sind wir demselben, auch wenn wir dicht an ihm zu stehen glauben, da, was ich von einer Sache weiß, nur ein äußeres abgerissenes Symbol derselben ist, in ein anderes willkürliches Symbol gekleidet. Verstehet mich der andre? Verbindet er mit dem Wort die Idee, die ich damit verband, oder verbindet er gar keine? Er rechnet indessen mit dem Wort weiter und gibt es andern vielleicht gar als eine leere Nußschale. So ging's bei allen philosophischen Sekten und Religionen Der Urheber hatte von dem, was er sprach, wenigstens klaren, obgleich darum noch nicht wahren Begriff; seine Schüler und Nachfolger verstanden ihn auf ihre Weise, d. i. sie belebten mit ihren Ideen seine Worte, und zuletzt tönten nur leere Schälle um das Ohr der Menschen. Lauter Unvollkommenheiten, die in unserm einzigen Mittel der Fortpflanzung menschlicher Gedanken liegen; und doch sind wir mit unsrer Bildung an diese Kette geknüpft, sie ist uns unentweichbar. Große Folgen liegen hierin für die Geschichte der Menschheit. Zuerst: Schwerlich kann unser Geschlecht nach diesem von der Gottheit erwählten Mittel der Bildung für die bloße Spekulation oder für die reine Anschauung gemacht sein; denn beide liegen sehr unvollkommen in unserm Kreise. Nicht für die reine Anschauung, die entweder ein Trug ist, weil kein Mensch das Innere der Sachen siehet, oder die wenigstens, da sie keine Merkmale und Worte zuläßt, ganz unmitteilbar bleibet. Kaum vermag der Anschauende den andern auf den Weg zu führen, auf dem er zu seinen unnennbaren Schätzen gelangte, und muß es ihm selbst und seinem Genius überlassen, wiefern auch er dieser Anschauungen teilhaftig werde. Notwendig wird hiemit eine Pforte zu tausend vergeblichen Qualen des Geistes und zu unzähligen Arten des listigen Betruges eröffnet, wie die Geschichte aller Völker zeiget. Zur Spekulation kann der Mensch ebensowenig geschaffen sein, da sie ihrer Genesis und Mitteilung nach nicht vollkommener ist und nur zu bald die Köpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfüllet. Ja wenn sich diese beide Extreme, Spekulation und Anschauung, gar gesellen wollen und der metaphysische Schwärmer auf eine wortlose Vernunft voll Anschauungen weiset: armes Menschengeschlecht, so schwebst du gar im Raum der Undinge zwischen kalter Hitze und warmer Kälte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen sicherern, den Mittelweg geführet. Nur Verstandesideen sind's, die wir durch sie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unsrer Kräfte, zum gesunden Gebrauch unsres Lebens, kurz, zu Bildung der Humanität in uns genug sind. Nicht Äther sollen wir atmen, dazu auch unsre Maschine nicht gemacht ist, sondern den gesunden Duft der Erde. Und oh, sollten die Menschen im Gebiet wahrer und nutzbarer Begriffe so weit voneinander entfernt sein, als es die stolze Spekulation wähnet? Die Geschichte der Nationen sowohl als die Natur der Vernunft und Sprache verbietet mir fast, dies zu glauben. Der arme Wilde, der wenige Dinge sah und noch weniger Begriffe zusammenfügte, verfuhr in ihrer Verbindung nicht anders als der Erste der Philosophen. Er hat Sprache wie sie und durch diese seinen Verstand und sein Gedächtnis, seine Phantasie und Zurückerinnerung tausendfach geübet. Ob in einem kleinern oder größern Kreise, dieses tut nichts zur Sache, zu der menschlichen Art nämlich, wie er sie übte. Der Weltweise Europens kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen sei; ja selbst im Verhältnis der Kräfte und ihrer Übung erstattet die Natur reichlich. Bei manchen Wilden z. B. ist das Gedächtnis, die Einbildungskraft, praktische Klugheit, schneller Entschluß, richtiges Urteil, lebhafter Ausdruck in einer Blüte, die bei der künstlichen Vernunft europäischer Gelehrten selten gedeihet. Diese hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern freilich unendlich feine und künstliche Kombinationen, an die der Naturmensch nicht denket; eine sitzende Rechenmaschine aber, wäre sie das Urbild aller menschlichen Vollkommenheit, Glückseligkeit und Stärke? Laß es sein, daß jener in Bildern denke, was er abstrakt zu denken noch nicht vermag; selbst wenn er noch keinen entwickelten Gedanken, d. i. kein Wort von Gott, hätte und er genösse Gott als den großen Geist der Schöpfung tätig in seinem Leben oh, so lebet er dankbar, indem er zufrieden lebet, und wenn er sich in Wortziffern keine unsterbliche Seele erweisen kann und glaubt dieselbe, so geht er mit glücklicherm Mut als mancher zweifelnde Wortweise ins Land der Väter. Lasset uns also die gütige Vorsehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Innern die Menschen einander gleicher machte, als es ihr Äußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Väter. Wie nun der ungelehrigste Sprachschüler der wäre, der vom ersten Gebrauch der Worte Ursach und Rechenschaft foderte, so muß ein ähnlicher Glaube an so schwere Dinge, als die Beobachtung der Natur und die Erfahrung sind, uns mit gesunder Zuversicht durchs ganze Leben leiten. Wer seinen Sinnen nicht traut, ist ein Tor und muß ein leerer Spekulant werden; dagegen wer sie trauend übt und eben dadurch erforscht und berichtigt, der allein gewinnet einen Schatz der Erfahrung für sein menschliches Leben. Ihm ist sodann die Sprache mit allen ihren Schranken genug; denn sie sollte den Beobachter nur aufmerksam machen und ihn zum eignen, tätigen Gebrauch seiner Seelenkräfte leiten. Ein feineres Idiom, durchdringend wie der Sonnenstrahl, könnte teils nicht allgemein sein, teils wäre es für die jetzige Sphäre unsrer gröbern Tätigkeit ein wahres Übel. Ein gleiches ist's mit der Sprache des Herzens: sie kann wenig sagen, und doch siegt sie genug; ja gewissermaße ist unsre menschliche Sprache mehr für das Herz als für die Vernunft geschaffen. Dem Verstande kann die Gebärde, die Bewegung, die Sache selbst zu Hülfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber blieben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische Strom sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinüberbrächte. Auch darum also hat der Schöpfer die Musik der Töne zum Organ unsrer Bildung gewählt, eine Sprache für die Empfindung, eine Vater- und Mutter-, Kindes- und Freundessprache. Geschöpfe, die sich einander noch nicht innig berühren können, stehn wie hinter Gegittern und flüstern einander zu das Wort der Liebe; bei Wesen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs sprächen, veränderte sich notwendig die ganze Gestalt und Kette ihrer Bildung. Zweitens. Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen; denn in jede derselben ist der Verstand eines Volks und sein Charakter gepräget. Nicht nur die Sprachwerkzeuge ändern sich mit den Regionen, und beinah jeder Nation sind einige Buchstaben und Laute eigen, sondern die Namengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Äußerungen des Affekts, den Interjektionen, ändert sich überall auf der Erde. Bei Dingen des Anschauens und der kalten Betrachtung wächst diese Verschiedenheit noch mehr, und bei den uneigentlichen Ausdrücken den Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Verhältnis, der Ordnung, dem Consensus der Glieder zueinander ist sie beinah unermeßlich, noch immer aber also, daß sich der Genius eines Volks nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine Nation viele Namen oder viel Handlung hat, wie es Personen und Zeiten ausdrückt, welche Ordnung der Begriffe es liebet, alle dies ist oft in feinen Zügen äußerst charakteristisch. Manche Nation hat für das männliche und weibliche Geschlecht eine eigne Sprache; bei andern unterscheiden sich im bloßen Wort »ich« gar die Stände. Tätige Völker haben einen Überfluß von Modis der Verben, feinere Nationen eine Menge Beschaffenheiten der Dinge, die sie zu Abstraktionen erhöhten. Der sonderbarste Teil der menschlichen Sprachen endlich ist die Bezeichnung ihrer Empfindungen, die Ausdrücke der Liebe und Hochachtung, der Schmeichelei und der Drohung, in denen sich die Schwachheiten eines Volks oft bis zum Lächerlichen offenbaren. [153] Warum kann ich noch kein Werk nennen, das den Wunsch Bacos, Leibniz', Sulzers u. a. nach einer allgemeinen Physiognomik der Völker aus ihren Sprachen nur einigermaßen erfüllet habe? Zahlreiche Beiträge zu demselben gibt's in den Sprachbüchern und Reisebeschreibern einzelner Nationen; unendlich schwer und weitläuftig dürfte die Arbeit auch nicht werden, wenn man das Nutzlose vorbeiginge und, was sich ins Licht stellen läßt, desto besser gebrauchte. An lehrreicher Anmut würde es keinen Schritt fehlen, weil alle Eigenheiten der Völker in ihrem praktischen Verstande, in ihren Phantasien, Sitten und Lebensweisen wie ein Garte des Menschengeschlechts dem Beobachter zum mannigfaltigsten Gebrauch vorlägen und am Ende sich die reichste Architektonik menschlicher Begriffe, die beste Logik und Metaphysik des gesunden Verstandes daraus ergäbe. Der Kranz ist noch aufgesteckt, und ein andrer Leibniz wird ihn zu seiner Zeit finden. Eine ähnliche Arbeit wäre die Geschichte der Sprache einiger einzelnen Völker nach ihren Revolutionen, wobei ich insonderheit die Sprache unsres Vaterlandes für uns zum Beispiel nehme. Denn ob sie gleich nicht, wie andre, mit fremden Sprachen vermischt worden, so hat sie sich dennoch wesentlich, und selbst der Grammatik nach, von Otfrieds Zeiten her verändert. Die Gegeneinanderstellung verschiedner kultivierter Sprachen mit den verschiednen Revolutionen ihrer Völker würde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichsam ein wandelbares Gemälde der mannigfaltigen Fortbildung des menschlichen Geistes zeigen, der, wie ich glaube, seinen verschiednen Mundarten nach noch in allen seinen Zeitaltern auf der Erde blühet. Da sind Nationen in der Kindheit, der Jugend, dem männlichen und hohen Alter unsres Geschlechts; ja, wie manche Völker und Sprachen sind durch Einimpfung andrer oder wie aus der Asche entstanden! Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unsres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bildung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieser künstlichen Tradition lagen, sind nach unsern Begriffen unkultiviert geblieben; die daran auch nur unvollkommen teilnahmen, erhoben sich zu einer Verewigung der Vernunft und der Gesetze in Schriftzügen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den flüchtigen Geist nicht nur in Worte, sondern in Buchstaben zu fesseln, erfand, er wirkte als ein Gott unter den Menschen. [154] Aber was bei der Sprache sichtbar war, ist hier noch viel mehr sichtbar, nämlich daß auch dies Mittel der Verewigung unsrer Gedanken den Geist und die Rede zwar bestimmt aber auch eingeschränkt und auf mannigfaltige Weise gefesselt habe. Nicht nur, daß mit den Buchstaben allmählich die lebendigen Akzente und Gebärden erloschen, sie, die vorher der Rede so starken Eingang ins Herz verschafft hatten; nicht nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteristischen Idiome einzelner Stämme und Völker dadurch weniger ward, auch das Gedächtnis der Menschen und ihre lebendige Geisteskraft schwächte sich bei diesem künstlichen Hilfsmittel vorgezeichneter Gedankenformen. Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre längst erlegen die menschliche Seele, wenn nicht durch mancherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserm Geist wiederum Luft schaffte. In Buchstaben gefesselt, schleicht der Verstand zuletzt mühsam einher; unsre besten Gedanken verstummen in toten schriftlichen Zügen. Dies alles indessen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteste, stilleste, wirksamste Gottesanstalt anzusehen, dadurch Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken und sich das ganze Menschengeschlecht vielleicht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zusammenfindet.
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