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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neuntes Buch

II

Das sonderbare Mittel zur Bildung der Menschen ist Sprache

Im Menschen, ja selbst im Affen, findet sich ein  sonderbarer Trieb der Nachahmung, der keinesweges  die Folge einer vernünftigen Überlegung, sondern ein  unmittelbares Erzeugnis der organischen Sympathie  scheinet. Wie eine Saite der andern zutönt und mit der reinern Dichtigkeit und Homogeneität aller Körper  auch ihre vibrierende Fähigkeit zunimmt, so ist die  menschliche Organisation, als die feinste von allen,  notwendig auch am meisten dazu gestimmt, den  Klang aller andern Wesen nachzuhallen und in sich  zu fühlen. Die Geschichte der Krankheiten zeigt, daß  nicht nur Affekten und körperliche Wunden, daß  selbst der Wahnsinn sich sympathetisch fortbreiten  konnte.

Bei Kindern sehen wir also die Wirkungen dieses  Consensus gleichgestimmter Wesen im hohen Grade;  ja eben auch dazu sollte ihr Körper lange Jahre ein  leicht zurücktönendes Saitenspiel bleiben. Handlungen und Gebärden, selbst Leidenschaften und Gedanken gehen unvermerkt in sie über, so daß sie auch zu  dem, was sie noch nicht üben können, wenigstens  gestimmt werden und einem Triebe, der eine Art geistiger Assimilation ist, unwissend folgen. Bei allen  Söhnen der Natur, den wilden Völkern, ist's nicht anders. Geborne Pantomimen, ahmen sie alles, was  ihnen erzählt wird oder was sie ausdrücken wollen,  lebhaft nach und zeigen damit in Tänzen, Spielen,  Scherz und Gesprächen ihre eigentliche Denkart.  Nachahmend nämlich kam ihre Phantasie zu diesen  Bildern; in Typen solcher Art bestehet der Schatz  ihres Gedächtnisses und ihrer Sprache; daher gehen  auch ihre Gedanken so leicht in Handlung und lebendige Tradition über.

Durch alle diese Mimik indessen wäre der Mensch  noch nicht zu seinem künstlichen Geschlechtscharakter, der Vernunft, gekommen; zu ihr kommt er allein  durch Sprache. Lasset uns bei diesem Wunder einer  göttlichen Einsetzung verweilen; es ist außer der Genesis lebendiger Wesen vielleicht das größeste der Erdeschöpfung.

Wenn uns jemand ein Rätsel vorlegte, wie Bilder  des Auges und alle Empfindungen unsrer verschiedensten Sinne nicht nur in Töne gefaßt, sondern auch diesen Tönen mit inwohnender Kraft so mitgeteilt werden sollen, daß sie Gedanken ausdrücken und Gedanken erregen, ohne Zweifel hielte man dies Problem für den Einfall eines Wahnsinnigen, der, höchst ungleiche Dinge einander substituierend, die Farbe zum Ton,  den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedächte. Die Gottheit hat das  Problem tätig aufgelöset. Ein Hauch unsres Mundes  wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele. Von einem bewegten Lüftchen hangt alles ab, was Menschen je auf  der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden; denn alle liefen wir noch in Wäldern umher,  wenn nicht dieser göttliche Odem uns angehaucht  hätte und wie ein Zauberton auf unsern Lippen  schwebte. Die ganze Geschichte der Menschheit also  mit allen Schätzen ihrer Tradition und Kultur ist  nichts als eine Folge dieses aufgelösten göttlichen  Rätsels. Was uns dasselbe noch sonderbarer macht,  ist, daß wir selbst nach seiner Auflösung bei täglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zusammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehör und  Sprache hangen zusammen; denn bei den Abartungen  der Geschöpfe verändern sich ihre Organe offenbar  miteinander. Auch sehen wir, daß zu ihrem Consensus der ganze Körper eingerichtet worden; die innere  Art der Zusammenwirkung aber begreifen wir nicht.  Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude,  Töne werden, daß, was unser Ohr hört, auch die  Zunge reget, daß Bilder und Empfindungen geistige  Merkmale, daß diese Merkmale bedeutende, ja bewegende Sprache sein können - das alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichsam,  den der Schöpfer zwischen den verschiedensten Sinnen und Trieben, Kräften und Gliedern seines Geschöpfs ebenso wunderbar hat errichten wollen, als er  Leib und Seele zusammenfügte.

Wie sonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das  einzige wenigstens das beste Mittel unsrer Gedanken  und Empfindungen sein sollte! Ohne sein unbegreifliches Band mit allen ihm so ungleichen Handlungen  unsrer Seele wären diese Handlungen ungeschehen,  die feinen Zubereitungen unsres Gehirns müßig, die  ganze Anlage unsres Wesens unvollendet geblieben,  wie die Beispiele der Menschen, die unter die Tiere  gerieten, zeigen. Die Taub- und Stummgebornen, ob  sie gleich jahrelang in einer Welt von Gebärden und  andern Ideenzeichen lebten, betrugen sich dennoch  nur wie Kinder oder wie menschliche Tiere. Nach der  Analogie dessen, was sie sahen und nicht verstanden,  handelten sie; einer eigentlichen Vernunftverbindung  waren sie durch allen Reichtum des Gesichts nicht  fähig worden. Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein  Wort hat; die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles  Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es  durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung,  dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibet; eine reine Vernunft  ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. Mit  den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen  der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache  hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die  ungeheure Flut seiner Affekten in Dämme einschloß  und ihr durch Worte vernünftige Denkmale setzte.  Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, keine  Zauberrute hat Wüsten in Gärten verwandelt: die  Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der  Menschen. Durch sie vereinigten sie sich, bewillkommend einander, und schlossen den Bund der Liebe.  Gesetze stiftete sie und verband Geschlechter; nur  durch sie ward eine Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele möglich. Noch jetzt sehe ich die Helden Homers und fühle Ossians Klagen, obgleich die Schatten der Sänger und ihrer Helden so lange der Erde entflohn sind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat sie unsterblich gemacht und bringt ihre Gestalten vor mich; die Stimme der  Verstorbenen ist in meinem Ohr; ich höre ihre längstverstummeten Gedanken. Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten,  kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende Seele an die Seele des ersten und vielleicht des  letzten denkenden Menschen geknüpfet: kurz, Sprache ist der Charakter unsrer Vernunft, durch welchen  sie allein Gestalt gewinnet und sich fortpflanzet.

Indessen zeigt eine kleine nähere Ansicht, wie unvollkommen dies Mittel unsrer Bildung sei, nicht nur  als Werkzeug der Vernunft, sondern auch als Band  zwischen Menschen und Menschen betrachtet, so daß  man sich beinah kein unwesenhafteres, leichteres,  flüchtigeres Gewebe denken kann, als womit der  Schöpfer unser Geschlecht verknüpfen wollte. Gütiger Vater, war kein andrer Kalkül unsrer Gedanken,  war keine innigere Verbindung menschlicher Geister  und Herzen möglich?

1. Keine Sprache drückt Sachen aus, sondern nur  Namen; auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von  ihnen, die sie mit Worten bezeichnet: eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unsres  Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte  Gestalt gibt. Alle unsre Metaphysik ist Metaphysik,  d. i. ein abgezognes, geordnetes Namenregister hinter  Beobachtungen der Erfahrung. Als Ordnung und Register kann diese Wissenschaft sehr brauchbar sein  und muß gewissermaße in allen andern unsern künstlichen Verstand leiten; für sich aber und als Natur der Sache betrachtet, gibt sie keinen einzigen vollständigen und wesentlichen Begriff, keine einzige innige  Wahrheit. All unsre Wissenschaft rechnet mit abgezognen einzelnen äußern Merkmalen, die das Innere der  Existenz keines einzigen Dinges berühren, weil zu  dessen Empfindung und Ausdruck wir durchaus kein  Organ haben. Keine Kraft in ihrem Wesen kennen  wir, können sie auch nie kennenlernen; denn selbst  die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und  fühlen wir zwar, aber wir kennen sie nicht. Keinen  Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen wir also, da wir weder das, was wirkt, noch  was gewirkt wird, im Innern einsehn und vom Sein  eines Dinges durchaus keinen Begriff haben. Unsre  arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name saget.

2. Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mögen? Nichts minder! Diese  Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen  ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die  Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen,  mit Schällen und Ziffern; denn daß ein wesentlicher  Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde  kennet. Und wieviel mehr als zwo sind ihrer auf der  Erde! in denen allen doch die Vernunft rechnet und  sich mit dem Schattenspiel einer willkürlichen Zusammenordnung begnüget. Warum dies? Weil sie  selbst nur unwesentliche Merkmale besitzt und es am  Ende ihr gleichgültig ist, mit diesen oder jenen Ziffern zu bezeichnen. Trüber Blick auf die Geschichte des  Menschengeschlechtes! Irrtümer und Meinungen sind  unsrer Natur also unvermeidlich, nicht etwa nur aus  Fehlern des Beobachters, sondern der Genesis selbst  nach, wie wir zu Begriffen kommen und diese durch  Vernunft und Sprache fortpflanzen. Dächten wir Sachen statt abgezogner Merkmale und sprächen die  Natur der Dinge aus statt willkürlicher Zeichen, so  lebe wohl, Irrtum und Meinung, wir sind im Lande  der Wahrheit. Jetzt aber, wie fern sind wir demselben, auch wenn wir dicht an ihm zu stehen glauben, da,  was ich von einer Sache weiß, nur ein äußeres abgerissenes Symbol derselben ist, in ein anderes willkürliches Symbol gekleidet. Verstehet mich der andre?  Verbindet er mit dem Wort die Idee, die ich damit  verband, oder verbindet er gar keine? Er rechnet indessen mit dem Wort weiter und gibt es andern vielleicht gar als eine leere Nußschale. So ging's bei allen philosophischen Sekten und Religionen Der Urheber  hatte von dem, was er sprach, wenigstens klaren, obgleich darum noch nicht wahren Begriff; seine Schüler und Nachfolger verstanden ihn auf ihre Weise, d. i. sie belebten mit ihren Ideen seine Worte, und zuletzt  tönten nur leere Schälle um das Ohr der Menschen.  Lauter Unvollkommenheiten, die in unserm einzigen  Mittel der Fortpflanzung menschlicher Gedanken liegen; und doch sind wir mit unsrer Bildung an diese  Kette geknüpft, sie ist uns unentweichbar.

Große Folgen liegen hierin für die Geschichte der  Menschheit. Zuerst: Schwerlich kann unser Geschlecht nach diesem von der Gottheit erwählten Mittel der Bildung für die bloße Spekulation oder für die  reine Anschauung gemacht sein; denn beide liegen  sehr unvollkommen in unserm Kreise. Nicht für die  reine Anschauung, die entweder ein Trug ist, weil  kein Mensch das Innere der Sachen siehet, oder die  wenigstens, da sie keine Merkmale und Worte zuläßt,  ganz unmitteilbar bleibet. Kaum vermag der Anschauende den andern auf den Weg zu führen, auf  dem er zu seinen unnennbaren Schätzen gelangte, und muß es ihm selbst und seinem Genius überlassen,  wiefern auch er dieser Anschauungen teilhaftig werde. Notwendig wird hiemit eine Pforte zu tausend vergeblichen Qualen des Geistes und zu unzähligen Arten  des listigen Betruges eröffnet, wie die Geschichte  aller Völker zeiget. Zur Spekulation kann der Mensch ebensowenig geschaffen sein, da sie ihrer Genesis und Mitteilung nach nicht vollkommener ist und nur zu  bald die Köpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfüllet. Ja wenn sich diese beide Extreme, Spekulation  und Anschauung, gar gesellen wollen und der metaphysische Schwärmer auf eine wortlose Vernunft voll  Anschauungen weiset: armes Menschengeschlecht, so  schwebst du gar im Raum der Undinge zwischen  kalter Hitze und warmer Kälte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen sicherern, den Mittelweg  geführet. Nur Verstandesideen sind's, die wir durch  sie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unsrer Kräfte, zum gesunden Gebrauch unsres Lebens, kurz, zu Bildung der Humanität in uns  genug sind. Nicht Äther sollen wir atmen, dazu auch  unsre Maschine nicht gemacht ist, sondern den gesunden Duft der Erde.

Und oh, sollten die Menschen im Gebiet wahrer  und nutzbarer Begriffe so weit voneinander entfernt  sein, als es die stolze Spekulation wähnet? Die Geschichte der Nationen sowohl als die Natur der Vernunft und Sprache verbietet mir fast, dies zu glauben.  Der arme Wilde, der wenige Dinge sah und noch weniger Begriffe zusammenfügte, verfuhr in ihrer Verbindung nicht anders als der Erste der Philosophen.  Er hat Sprache wie sie und durch diese seinen Verstand und sein Gedächtnis, seine Phantasie und Zurückerinnerung tausendfach geübet. Ob in einem kleinern oder größern Kreise, dieses tut nichts zur Sache,  zu der menschlichen Art nämlich, wie er sie übte. Der Weltweise Europens kann keine einzige Seelenkraft  nennen, die ihm eigen sei; ja selbst im Verhältnis der  Kräfte und ihrer Übung erstattet die Natur reichlich.  Bei manchen Wilden z. B. ist das Gedächtnis, die  Einbildungskraft, praktische Klugheit, schneller  Entschluß, richtiges Urteil, lebhafter Ausdruck in  einer Blüte, die bei der künstlichen Vernunft europäischer Gelehrten selten gedeihet. Diese hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern freilich unendlich  feine und künstliche Kombinationen, an die der Naturmensch nicht denket; eine sitzende Rechenmaschine aber, wäre sie das Urbild aller menschlichen Vollkommenheit, Glückseligkeit und Stärke? Laß es sein,  daß jener in Bildern denke, was er abstrakt zu denken  noch nicht vermag; selbst wenn er noch keinen entwickelten Gedanken, d. i. kein Wort von Gott, hätte  und er genösse Gott als den großen Geist der Schöpfung tätig in seinem Leben oh, so lebet er dankbar,  indem er zufrieden lebet, und wenn er sich in Wortziffern keine unsterbliche Seele erweisen kann und  glaubt dieselbe, so geht er mit glücklicherm Mut als  mancher zweifelnde Wortweise ins Land der Väter. Lasset uns also die gütige Vorsehung anbeten, die  durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Innern die Menschen einander gleicher machte, als es ihr Äußeres zeiget. Alle kommen  wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache  durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Väter.  Wie nun der ungelehrigste Sprachschüler der wäre,  der vom ersten Gebrauch der Worte Ursach und Rechenschaft foderte, so muß ein ähnlicher Glaube an so schwere Dinge, als die Beobachtung der Natur und  die Erfahrung sind, uns mit gesunder Zuversicht  durchs ganze Leben leiten. Wer seinen Sinnen nicht  traut, ist ein Tor und muß ein leerer Spekulant werden; dagegen wer sie trauend übt und eben dadurch  erforscht und berichtigt, der allein gewinnet einen  Schatz der Erfahrung für sein menschliches Leben.  Ihm ist sodann die Sprache mit allen ihren Schranken  genug; denn sie sollte den Beobachter nur aufmerksam  machen und ihn zum eignen, tätigen Gebrauch seiner  Seelenkräfte leiten. Ein feineres Idiom, durchdringend wie der Sonnenstrahl, könnte teils nicht allgemein  sein, teils wäre es für die jetzige Sphäre unsrer gröbern Tätigkeit ein wahres Übel. Ein gleiches ist's mit  der Sprache des Herzens: sie kann wenig sagen, und  doch siegt sie genug; ja gewissermaße ist unsre  menschliche Sprache mehr für das Herz als für die  Vernunft geschaffen. Dem Verstande kann die Gebärde, die Bewegung, die Sache selbst zu Hülfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber blieben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische  Strom sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinüberbrächte. Auch darum also hat der Schöpfer die Musik der Töne zum Organ unsrer Bildung gewählt, eine Sprache für die Empfindung, eine Vater- und Mutter-, Kindes- und Freundessprache. Geschöpfe, die sich einander noch nicht innig berühren können, stehn wie hinter Gegittern und flüstern einander  zu das Wort der Liebe; bei Wesen, die die Sprache  des Lichts oder eines andern Organs sprächen, veränderte sich notwendig die ganze Gestalt und Kette ihrer Bildung.

Zweitens. Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen  Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen; denn in jede derselben ist der Verstand eines Volks und sein Charakter  gepräget. Nicht nur die Sprachwerkzeuge ändern sich  mit den Regionen, und beinah jeder Nation sind einige Buchstaben und Laute eigen, sondern die Namengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Äußerungen des Affekts, den  Interjektionen, ändert sich überall auf der Erde. Bei  Dingen des Anschauens und der kalten Betrachtung  wächst diese Verschiedenheit noch mehr, und bei den  uneigentlichen Ausdrücken den Bildern der Rede,  endlich beim Bau der Sprache, beim Verhältnis, der  Ordnung, dem Consensus der Glieder zueinander ist  sie beinah unermeßlich, noch immer aber also, daß  sich der Genius eines Volks nirgend besser als in der  Physiognomie seiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine  Nation viele Namen oder viel Handlung hat, wie es  Personen und Zeiten ausdrückt, welche Ordnung der  Begriffe es liebet, alle dies ist oft in feinen Zügen äußerst charakteristisch. Manche Nation hat für das  männliche und weibliche Geschlecht eine eigne Sprache; bei andern unterscheiden sich im bloßen Wort  »ich« gar die Stände. Tätige Völker haben einen  Überfluß von Modis der Verben, feinere Nationen  eine Menge Beschaffenheiten der Dinge, die sie zu  Abstraktionen erhöhten. Der sonderbarste Teil der  menschlichen Sprachen endlich ist die Bezeichnung  ihrer Empfindungen, die Ausdrücke der Liebe und  Hochachtung, der Schmeichelei und der Drohung, in  denen sich die Schwachheiten eines Volks oft bis zum Lächerlichen offenbaren. [153] Warum kann ich noch  kein Werk nennen, das den Wunsch Bacos, Leibniz',  Sulzers u. a. nach einer allgemeinen Physiognomik  der Völker aus ihren Sprachen nur einigermaßen erfüllet habe? Zahlreiche Beiträge zu demselben gibt's  in den Sprachbüchern und Reisebeschreibern einzelner Nationen; unendlich schwer und weitläuftig dürfte die Arbeit auch nicht werden, wenn man das Nutzlose vorbeiginge und, was sich ins Licht stellen läßt, desto besser gebrauchte. An lehrreicher Anmut würde es  keinen Schritt fehlen, weil alle Eigenheiten der Völker in ihrem praktischen Verstande, in ihren Phantasien,  Sitten und Lebensweisen wie ein Garte des Menschengeschlechts dem Beobachter zum mannigfaltigsten Gebrauch vorlägen und am Ende sich die reichste Architektonik menschlicher Begriffe, die beste Logik und Metaphysik des gesunden Verstandes daraus  ergäbe. Der Kranz ist noch aufgesteckt, und ein andrer Leibniz wird ihn zu seiner Zeit finden.

Eine ähnliche Arbeit wäre die Geschichte der Sprache einiger einzelnen Völker nach ihren Revolutionen, wobei ich insonderheit die Sprache unsres Vaterlandes für uns zum Beispiel nehme. Denn ob sie gleich  nicht, wie andre, mit fremden Sprachen vermischt  worden, so hat sie sich dennoch wesentlich, und  selbst der Grammatik nach, von Otfrieds Zeiten her  verändert. Die Gegeneinanderstellung verschiedner  kultivierter Sprachen mit den verschiednen Revolutionen ihrer Völker würde mit jedem Strich von Licht  und Schatten gleichsam ein wandelbares Gemälde der mannigfaltigen Fortbildung des menschlichen Geistes  zeigen, der, wie ich glaube, seinen verschiednen  Mundarten nach noch in allen seinen Zeitaltern auf  der Erde blühet. Da sind Nationen in der Kindheit,  der Jugend, dem männlichen und hohen Alter unsres  Geschlechts; ja, wie manche Völker und Sprachen  sind durch Einimpfung andrer oder wie aus der Asche entstanden!

Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift.  Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung  unsres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der  gelehrten Bildung. Alle Nationen, die außer dem  Wege dieser künstlichen Tradition lagen, sind nach  unsern Begriffen unkultiviert geblieben; die daran  auch nur unvollkommen teilnahmen, erhoben sich zu  einer Verewigung der Vernunft und der Gesetze in  Schriftzügen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den  flüchtigen Geist nicht nur in Worte, sondern in Buchstaben zu fesseln, erfand, er wirkte als ein Gott unter  den Menschen. [154]

Aber was bei der Sprache sichtbar war, ist hier  noch viel mehr sichtbar, nämlich daß auch dies Mittel der Verewigung unsrer Gedanken den Geist und die  Rede zwar bestimmt aber auch eingeschränkt und auf  mannigfaltige Weise gefesselt habe. Nicht nur, daß  mit den Buchstaben allmählich die lebendigen Akzente und Gebärden erloschen, sie, die vorher der Rede  so starken Eingang ins Herz verschafft hatten; nicht  nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteristischen Idiome einzelner Stämme und Völker dadurch  weniger ward, auch das Gedächtnis der Menschen und ihre lebendige Geisteskraft schwächte sich bei diesem künstlichen Hilfsmittel vorgezeichneter Gedankenformen. Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre längst  erlegen die menschliche Seele, wenn nicht durch mancherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserm Geist wiederum Luft schaffte. In Buchstaben gefesselt, schleicht der Verstand zuletzt mühsam einher; unsre besten Gedanken verstummen in toten schriftlichen Zügen. Dies alles indessen hindert nicht, die  Tradition der Schrift als die dauerhafteste, stilleste,  wirksamste Gottesanstalt anzusehen, dadurch Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken und sich das ganze Menschengeschlecht vielleicht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zusammenfindet.

 

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