Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neuntes Buch

III

Durch Nachahmung, Vernunft und Sprache sind alle Wissenschaften und Künste des Menschengeschlechts erfunden worden

Sobald der Mensch, durch welchen Gott oder Genius es geschehen sei, auf den Weg gebracht war, eine  Sache als Merkmal sich zuzueignen und dem gefundnen Merkmal ein willkürliches Zeichen zu substituieren, d. i. sobald auch in den kleinsten Anfängen Sprache der Vernunft begann, sofort war er auf dem Wege  zu allen Wissenschaften und Künsten. Denn was tut  die menschliche Vernunft in Erfindung dieser, als bemerken und bezeichnen? Mit der schwersten Kunst,  der Sprache, war also gewissermaße ein Vorbild zu  allem gegeben.

Der Mensch z. B., der von den Tieren ein Merkmal der Benennung faßte, hatte damit auch den Grund gelegt, die zähmbaren Tiere zu bezähmen, die nutzbaren sich nutzbar zu machen und überhaupt alles in der  Natur für sich zu erobern; denn bei jeder dieser Zueignungen tat er eigentlich nichts als das Merkmal eines  zähmbaren, nützlichen, sich zuzueignenden Wesens  bemerken und es durch Sprache oder Probe bezeichnen. Am sanften Schaf z. E. bemerkte er die Milch,  die das Lamm sog, die Wolle, die seine Hand wärmte, und suchte das eine wie das andre sich zuzueignen.  Am Baum, zu dessen Früchten ihn der Hunger führte,  bemerkte er Blätter, mit denen er sich gürten könnte,  Holz, das ihn wärmte, u. f. So schwang er sich aufs  Roß, daß es ihn trage; er hielt es bei sich, daß es ihn  abermals trage; er sahe den Tieren, er sahe der Natur  ab, wie jene sich schützten und nährten, wie diese ihre Kinder erzog oder vor der Gefahr bewahrte. So kam  er auf den Weg aller Künste durch nichts als die innere Genesis eines abgesonderten Merkmals und durch  Festhaltung desselben in einer Tat oder sonst einem  Zeichen, kurz, durch Sprache. Durch sie, und durch  sie allein, ward Wahrnehmung, Anerkennung, Zurückerinnerung, Besitznehmung, eine Kette der Gedanken möglich, und so wurden mit der Zeit die Wissenschaften und Künste geboren, Töchter der bezeichnenden Vernunft und einer Nachahmung mit Absicht.  Schon Baco hat eine Erfindungskunst gewünscht; da  die Theorie derselben aber schwer und doch vielleicht unnütz sein würde, so wäre vielmehr eine Geschichte  der Erfindungen das lehrreiche Werk, das die Götter  und Genien des Menschengeschlechts ihren Nachkommen zum ewigen Muster machte. Allenthalben  würde man sehen, wie Schicksal und Zufall diesem  Erfinder ein neues Merkmal ins Auge, jenem eine  neue Bezeichnung als Werkzeug in die Seele gebracht und meistens durch eine kleine Zusammenrückung  zweier lange bekannter Gedanken eine Kunst befördert habe, die nachher auf Jahrtausende wirkte. Oft  war diese erfunden und ward vergessen; ihre Theorie  lag da, und sie ward nicht gebraucht, bis ein glücklicher andre das liegende Gold in Umlauf brachte oder  mit einem kleinen Hebel aus einem neuen Standpunkt  Welten bewegte. Vielleicht ist keine Geschichte, die  so augenscheinlich die Regierung eines höhern  Schicksals in menschlichen Dingen zeigt, als die Geschichte dessen, worauf unser Geist am stolzesten zu  sein pflegt, der Erfindung und Verbesserung der Künste. Immer war das Merkmal und die Materie seiner  Bezeichnung längst dagewesen, aber jetzt ward es bemerkt, jetzt ward es bezeichnet. Die Genesis der  Kunst, wie des Menschen, war ein Augenblick des  Vergnügens, eine Vermählung zwischen Idee und Zeichen, zwischen Geist und Körper.

Mit Hochachtung geschiehet es, daß ich die Erfindungen des menschlichen Geistes auf dies einfache  Principium seiner anerkennenden und bezeichnenden  Vernunft zurückführe; denn eben dies ist das wahre  Göttliche im Menschen, sein charakteristischer Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen,  gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; sie  denken in der Vernunft andrer und sind nur nachahmend weise; denn ist der, der die Kunst fremder  Künstler gebraucht, darum selbst Künstler? Aber der,  in dessen Seele sich eigne Gedanken erzeugen und  einen Körper sich selbst bilden, er, der nicht mit dem  Auge allein, sondern mit dem Geist siehet und nicht  mit der Zunge, sondern mit der Seele bezeichnet, er,  dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungsstätte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem  menschlichen Zweck anzuwenden er ist der eigentliche Mensch, und da er selten erscheint, ein Gott unter  den Menschen. Er spricht, und Tausende lallen ihm  nach; er erschafft, und andre spielen mit dem, was er  hervorbrachte; er war ein Mann, und vielleicht sind  Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie selten  die Erfinder im menschlichen Geschlecht gewesen,  wie träge und lässig man an dem hängt, was man hat,  ohne sich um das zu bekümmern, was uns fehlet: in  hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt  und die Geschichte der Völker; ja, die Geschichte der  Kultur wird es uns selbst genugsam weisen.

Mit Wissenschaften und Künsten ziehet sich also  eine neue Tradition durchs Menschengeschlecht, an  deren Kette nur wenigen Glücklichen etwas Neues anzureihen vergönnt war; die andern hangen an ihr wie  treufleißige Sklaven und ziehen mechanisch die Kette  weiter. Wie dieser Zucker- und Mohrentrank durch  manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir  gelangte, und ich kein andres Verdienst habe, als ihn  zu trinken, so ist unsre Vernunft und Lebensweise,  unsre Gelehrsamkeit und Kunsterziehung, unsre  Kriegs- und Staatsweisheit ein Zusammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn unser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir  uns von Jugend auf baden oder ersäufen.

Eitel ist also der Ruhm so manches europäischen  Pöbels, wenn er in dem, was Aufklärung, Kunst und  Wissenschaft heißt, sich über alle drei Weltteile setzt  und, wie jener Wahnsinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europas aus keiner Ursache für die seinen hält, als weil er im Zusammenfluß dieser Erfindungen und Traditionen geboren worden. Armseliger,  erfandest du etwas von diesen Künsten? Denkst du  etwas bei allen deinen eingesognen Traditionen? Daß  du jene brauchen gelernt hast, ist die Arbeit einer Maschine; daß du den Saft der Wissenschaft in dich ziehest, ist das Verdienst des Schwammes, der nun eben  auf dieser feuchten Stelle gewachsen ist. Wenn du  dem Otahiten ein Kriegsschiff zulenkst und auf den  Hebriden eine Kanone donnerst, so bist du wahrlich  weder klüger noch geschickter als der Hebride und  Otahite, der sein Boot künstlich lenkt und sich dasselbe mit eigner Hand erbaute. Eben dies war's, was alle  Wilden dunkel empfanden, sobald sie die Europäer  näher kennenlernten. In der Rüstung ihrer Werkzeuge  dünkten sie ihnen unbekannte, höhere Wesen, vor  denen sie sich beugten, die sie mit Ehrfurcht grüßten;  sobald sie sie verwundbar, sterblich, krankhaft und in  sinnlichen Übungen schwächer als sich selbst sahen,  fürchteten sie die Kunst und erwürgten den Mann, der nichts weniger als mit seiner Kunst eins war. Auf alle  Kultur Europas ist dies anwendbar Darum, weil die  Sprache eines Volks, zumal in Büchern, gescheut und fein ist, darum ist nicht jeder fein und gescheut, der  diese Bücher lieset und diese Sprache redet. Wie er  sie lieset, wie er sie redet, das wäre die Frage; und  auch dann dächte und spräche er immer doch nur  nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft eines andern. Der Wilde, der in seinem engern  Kreise eigentümlich denkt und sich in ihm wahrer, bestimmter und nachdrücklicher ausdrückt, er, der in der Sphäre seines wirklichen Lebens Sinne und Glieder,  seinen praktischen Verstand und seine wenigen Werkzeuge mit Kunst und Gegenwart des Geistes zu gebrauchen weiß: offenbar ist er, Mensch gegen Mensch gerechnet, gebildeter als jene politische oder gelehrte  Maschine, die wie ein Kind auf einem sehr hohen Gerüst steht, das aber leider fremde Hände, ja, das oft  die ganze Mühe der Vorwelt erbaute. Der Naturmensch dagegen ist ein zwar beschränkter, aber gesunder und tüchtiger Mann auf der Erde. Niemand  wird's leugnen, daß Europa das Archiv der Kunst und  des aussinnenden menschlichen Verstandes sei; das  Schicksal der Zeitenfolge hat in ihm seine Schätze  niedergelegt; sie sind in ihm vermehrt worden und  werden gebrauchet. Darum aber hat nicht jeder, der  sie gebraucht, den Verstand des Erfinders; vielmehr  ist dieser einesteils durch den Gebrauch müßig worden; denn wenn ich das Werkzeug eines Fremden  habe, so erfinde ich mir schwerlich selbst ein Werkzeug.

Eine weit schwerere Frage ist's noch, was Künste  und Wissenschaften zur Glückseligkeit der Menschen  getan oder wiefern sie diese vermehrt haben; und ich  glaube, weder mit Ja noch Nein kann die Frage  schlechthin entschieden werden, weil, wie allenthalben so auch hier, auf den Gebrauch des Erfundenen  alles ankommt. Daß feinere und künstlichere Werkzeuge in der Welt sind und also mit wenigerm mehr  getan, mithin manche Menschenmühe geschont und  erspart werden kann, wenn man sie schonen und sparen mag, darüber ist keine Frage. Auch ist es unstreitig, daß mit jeder Kunst und Wissenschaft ein neues  Band der Geselligkeit, d. i. jenes gemeinschaftlichen  Bedürfnisses, geknüpft sei, ohne welches künstliche  Menschen nicht mehr leben mögen. Ob aber gegenseitig jedes vermehrte Bedürfnis auch den engen Kreis  der menschlichen Glückseligkeit erweitere, ob die  Kunst der Natur je etwas wirklich zuzusetzen  vermochte oder ob diese vielmehr durch jene in manchem entübriget und entkräftet werde, ob alle wissenschaftlichen und Künstlergaben nicht auch Neigungen in der menschlichen Brust rege gemacht hätten, bei  denen man viel seltner und schwerer zur schönsten  Gabe des Menschen, der Zufriedenheit, gelangen  kann, weil diese Neigungen mit ihrer inneren Unruh  der Zufriedenheit unaufhörlich widerstreben; ja endlich, ob durch den Zusammendrang der Menschen und ihre vermehrte Geselligkeit nicht manche Länder und  Städte zu einem Armenhause, zu einem künstlichen  Lazarett und Hospital worden sind, in dessen eingeschlossener Luft die blasse Menschheit auch künstlich siechet, und da sie von so vielen unverdienten Almosen der Wissenschaft, Kunst und Staatsverfassung ernährt wird, großenteils auch die Art der Bettler angenommen habe, die sich auf alle Bettlerkünste legen  und dafür der Bettler Schicksal erdulden: über dies  und so manches andre mehr soll uns die Tochter der  Zeit, die helle Geschichte, unterweisen.

Boten des Schicksals also, ihr Genien und Erfinder, auf welcher nutzbar-gefährlichen Höhe übet ihr euren  göttlichen Beruf! Ihr erfandet, aber nicht für euch;  auch lag es in eurer Macht nicht, zu bestimmen, wie  Welt und Nachwelt eure Erfindungen anwenden, was  sie an solche reihen, was sie nach Analogie derselben  Gegenseitiges oder Neues erfinden würde. 

Jahrhundertelang lag oft die Perle begraben, und  Hähne scharreten darüber hin, bis sie vielleicht ein  Unwürdiger fand und in die Krone des Monarchen  pflanzte, wo sie nicht immer mit wohltätigem Glanz  glänzet. Ihr indessen tatet euer Werk und gabt der  Nachwelt Schätze hin, die entweder euer unruhiger  Geist aufgrub oder die euch das waltende Schicksal in die Hand spielte. Dem waltenden Schicksal also überließet ihr auch die Wirkungen und den Nutzen eures  Fundes; und dieses tat, was es zu tun für gut fand. In  periodischen Revolutionen bildete es entweder Gedanken aus oder ließ sie untergehen und wußte immer das Gift mit dem Gegengift, den Nutzen mit dem  Schaden zu mischen und zu mildern. Der Erfinder des Pulvers dachte nicht daran, welche Verwüstungen sowohl des politischen als des physischen Reichs  menschlicher Kräfte der Funke seines schwarzen  Staubes mit sich führte; noch weniger konnte er  sehen, was auch wir jetzt kaum zu mutmaßen wagen,  wie in dieser Pulvertonne, dem fürchterlichen Thron  mancher Despoten, abermals zu einer andern Verfassung der Nachwelt ein wohltätiger Same keime. Denn reinigt das Ungewitter nicht die Luft? Und muß, wenn die Riesen der Erde vertilgt sind, nicht Herkules  selbst seine Hand an wohltätigere Werke legen? Der  Mann, der die Richtung der Magnetnadel zuerst bemerkte, sah weder das Glück noch das Elend voraus,  das dieses Zaubergeschenk, unterstützt von tausend  andern Künsten, auf alle Weltteile bringen würde, bis  auch hier vielleicht eine neue Katastrophe alte Übel  ersetzt oder neue Übel erzeuget. So mit dem Glase,  dem Gelde, dem Eisen, der Kleidung, der Schreib- und Buchdruckerkunst, der Sternseherei und allen  Wissenschaften der künstlichen Regierung. Der wunderbare Zusammenhang, der bei der Entwicklung und  periodischen Fortleitung dieser Erfindungen zu herrschen scheint, die sonderbare Art, wie eine die Wirkung der andern einschränkt und mildert: das alles gehört zur obern Haushaltung Gottes mit unserm Geschlecht, der wahren Philosophie seiner Geschichte.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats