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Johann Gottfried
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VReligion ist die älteste und heiligste Tradition der ErdeMüde und matt von allen Veränderungen des Erdenrundes nach Gegenden, Zeiten und Völkern, finden wir denn nichts auf demselben, das der gemeinschaftliche Besitz und Vorzug unsres Brudergeschlechts sei? Nichts als die Anlage zur Vernunft, Humanität und Religion, der drei Grazien des menschlichen Lebens. Alle Staaten entstanden spät, und noch später entstanden in ihnen Wissenschaften und Künste; aber Familien sind das ewige Werk der Natur, die fortgehende Haushaltung, in der sie den Samen der Humanität dem Menschengeschlecht einpflanzet und selbst erziehet. Sprachen wechseln mit jedem Volk, in jedem Klima; in allen Sprachen aber ist ein und dieselbe merkmalsuchende Menschenvernunft kennbar. Religion endlich, so verschieden ihre Hülle sei, auch unter dem ärmsten, rohesten Volk am Rande der Erde finden sich ihre Spuren. Der Grönländer und Kamtschadale, der Feuerländer und Papu hat Äußerungen von ihr, wie seine Sagen oder Gebräuche zeigen, ja, gäbe es unter den Anziken oder den verdrängten Waldmenschen der indischen Inseln irgendein Volk, das ganz ohne Religion wäre, so wäre selbst dieser Mangel von ihrem äußerst verwilderten Zustande Zeuge. Woher kam nun Religion diesen Völkern? Hat jeder Elende sich seinen Gottesdienst etwa wie eine natürliche Theologie erfunden? Diese Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. Auch gab ihnen von außen zu dieser Erfindung nichts Anlaß; denn wenn sie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Tieren oder der Natur ablernten, welchem Tier, welchem Naturgegenstande sahen sie Religion ab? Von welchem derselben hätten sie Gottesdienst gelernet? Tradition ist also auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Kultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche. Sogleich folget hieraus, daß sich die religiöse Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als dessen sich die Vernunft und Sprache selbst bediente, der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt sein will, muß jede Einrichtung ein sichtbares Zeichen haben, wenn sie für andre und für die Nachwelt sein soll: wie konnte das Unsichtbare sichtbar oder eine verlebte Geschichte den Nachkommen aufbehalten werden als durch Worte oder Zeichen? Daher ist auch bei den rohesten Völkern die Sprache der Religion immer die älteste, dunkelste Sprache, oft ihren Geweiheten selbst, viel mehr den Fremdlingen unverständlich. Die bedeutenden heiligen Symbole jedes Volks, so klimatisch und national sie sein mochten, wurden nämlich oft in wenigen Geschlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder; denn jeder Sprache, jedem Institut mit willkürlichen Zeichen müßte es so ergehen, wenn sie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit ihren Gegenständen oft zusammengehalten würden und also im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war solche lebendige Zusammenhaltung schwer oder unmöglich; denn das Zeichen betraf entweder eine unsichtbare Idee oder eine vergangene Geschichte. Es konnte also auch nicht fehlen, daß die Priester, die ursprünglich Weise der Nation waren, nicht immer ihre Weisen blieben. Sobald sie nämlich den Sinn des Symbols verloren, waren sie stumme Diener der Abgötterei oder mußten redende Lügner des Aberglaubens werden. Und sie sind's fast allenthalben reichlich geworden; nicht aus vorzüglicher Betrugsucht, sondern weil es die Sache so mit sich führte. Sowohl in der Sprache als in jeder Wissenschaft, Kunst und Einrichtung waltet dasselbe Schicksal der Unwissende, der reden oder die Kunst fortsetzen soll, muß verbergen, muß erdichten, muß heucheln; ein falscher Schein tritt an die Stelle der verlornen Wahrheit. Dies ist die Geschichte aller Geheimnisse auf der Erde, die anfangs allerdings viel Wissenswürdiges verbargen, zuletzt aber, insonderheit seitdem menschliche Weisheit sich von ihnen getrennt hatte, in elenden Tand ausarteten; und so wurden die Priester derselben, bei ihrem leergewordnen Heiligtum, zuletzt arme Betrüger. Wer sie am meisten als solche darstellete, waren die Regenten und Weisen. Jene nämlich, die ihr hoher Stand, mit aller Macht bekleidet, gar bald auf zwanglose Ungebundenheit führte, hielten es für Pflicht ihres Standes, auch die unsichtbaren höheren Mächte einzuschränken und also die Symbole derselben als Puppenwerk des Pöbels entweder zu dulden oder zu vernichten. Daher der unglückliche Streit zwischen dem Thron und Altar bei allen halbkultivierten Nationen, bis man endlich beide gar zu verbinden suchte und damit das unförmliche Ding eines Altars auf dem Thron oder eines Throns auf dem Altar zur Welt brachte. Notwendig mußten die entarteten Priester bei diesem ungleichen Streit allemal verlieren; denn sichtbare Macht stritt mit dem unsichtbaren Glauben; der Schatte einer alten Tradition sollte mit dem Glanz des goldenen Zepters kämpfen, den ehedem der Priester selbst geheiligt und dem Monarchen in die Hand gegeben hatte. Die Zeiten der Priesterherrschaft gingen also mit der wachsenden Kultur vorüber; der Despot, der ursprünglich seine Krone im Namen Gottes geführt hatte, fand es leichter, sie in seinem eignen Namen zu tragen, und das Volk war jetzt durch Regenten und Weise zu diesem andern Zepter gewöhnet. Nun ist es erstens unleugbar, daß nur Religion es gewesen sei, die den Völkern allenthalben die erste Kultur und Wissenschaft brachte, ja daß diese ursprünglich nichts als eine Art religiöser Tradition waren. Unter allen wilden Völkern ist noch jetzt ihre wenige Kultur und Wissenschaft mit der Religion verbunden. Die Sprache ihrer Religion ist eine erhabnere feierliche Sprache, die nicht nur die heiligen Gebräuche mit Gesang und Tanz begleitet, sondern auch meistens von den Sagen der Urwelt ausgeht, mithin das einzige ist, was diese Völker von alten Nachrichten, dem Gedächtnis der Vorwelt oder einem Schimmer der Wissenschaft übrig haben. Die Zahl und das Bemerken der Tage, der Grund aller Zeitrechnung, war oder ist überall heilig; die Wissenschaft des Himmels und der Natur, wie sie auch sein möge, haben die Magier aller Weltteile sich zugeeignet. Auch die Arznei- und Wahrsagerkunst, die Wissenschaft des Verborgnen und Auslegung der Träume, die Kunst der Charaktere, die Aussöhnung mit den Göttern, die Befriedigung der Verstorbnen, Nachrichten von ihnen - kurz, das ganze dunkle Reich der Fragen und Aufschlüsse über die der Mensch so gern beruhigt sein möchte, ist in den Händen ihrer Priester, so daß bei vielen Völkerschaften der gemeinschaftliche Gottesdienst und seine Feste beinah das einzige ist, das die unabhängigen Familien zum Schatten eines Ganzen verbindet. Die Geschichte der Kultur wird zeigen, daß dieses bei den gebildetsten Völkern nicht anders gewesen. Ägypter und alle Morgenländer bis zum Rande der östlichen Welt hinauf, in Europa alle gebildete Nationen des Altertums, Etrusker, Griechen und Römer, empfingen die Wissenschaften aus dem Schoß und unter dem Schleier religiöser Traditionen; so ward ihnen Poesie und Kunst, Musik und Schrift, Geschichte und Arzneikunst, Naturlehre und Metaphysik, Astronomie und Zeitrechnung, selbst die Sitten- und Staatslehre gegeben. Die ältesten Weisen taten nichts als das, was ihnen als Same gegeben war, sondern und zu eignen Gewächsen erziehen; welche Entwicklung sodann mit den Jahrhunderten fortging. Auch wir Nordländer haben unsre Wissenschaften in keinem als dem Gewande der Religion erhalten, und so kann man kühn mit der Geschichte aller Völker sagen »Der religiösen Tradition in Schrift und Sprache ist die Erde ihre Samenkörner aller höhern Kultur schuldig.« Zweitens. Die Natur der Sache selbst bestätigt diese historische Behauptung; denn was war's, das den Menschen über die Tiere erhob und auch in der rohesten Ausartung ihn verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzusinken? Man sagt: »Vernunft und Sprache.« So wie er aber zur Vernunft nicht ohne Sprache kommen konnte, so konnte er zu beiden nicht anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren, durch die Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gelangen. Eine Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im ganzen Chaos der Wesen, das ihn umgab, mußte also jeder ersten Bildung und Verknüpfung abgezogner Vernunftideen vorausgehn und zum Grunde liegen. Dies ist das Gefühl der Wilden von den Kräften der Natur, auch wenn sie keinen ausgedrückten Begriff von Gott haben: ein lebhaftes und wirksames Gefühl, wie selbst ihre Abgöttereien und ihr Aberglaube zeiget. Bei allen Verstandesbegriffen bloß sichtbarer Dinge handelt der Mensch dem Tier ähnlich; zur ersten Stufe der höheren Vernunft mußte ihn die Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung, heben. Diese Vorstellung ist auch beinah das einzige, was rohe Nationen von transzendenter Vernunft besitzen und andere Völker nur in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der Seele nach dem Tode war's ein gleiches. Wie der Mensch auch zu ihrem Begriff gekommen sein möge, so ist dieser Begriff, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das einzige, das den Menschen im Tode vom Tier unterscheidet Keine wilde Nation kann sich die Unsterblichkeit einer Menschenseele philosophisch erweisen, sowenig es vielleicht ein Philosoph tun kann, denn auch dieser vermag nur den Glauben an sie, der im menschlichen Herzen liegt, durch Vernunftgründe zu bestärken; allgemein aber ist dieser Glaube auf der Erde. Auch der Kamtschadale hat ihn, wenn er seinen Toten den Tieren hinlegt, auch der Neuholländer hat ihn, wenn er den Leichnam ins Meer senket. Kleine Nation verscharret die Ihren, wie man ein Tier verscharrt; jeder Wilde geht sterbend ins Reich der Väter, ins Land der Seelen. Religiöse Tradition hierüber und das innige Gefühl eines Daseins, das eigentlich von keiner Vernichtung weiß, geht also vor der entwickelnden Vernunft voraus; sonst würde diese auf den Begriff der Unsterblichkeit schwerlich gekommen sein oder ihn sehr kraftlos abstrahiert haben. Und so ist der allgemeine Menschenglaube an die Fortdauer unsres Daseins die Pyramide der Religion auf allen Gräbern der Völker. Endlich, die göttlichen Gesetze und Regeln der Humanität, die sich, wenn auch nur in Resten, bei dem wildesten Volk äußern, sollten sie nach Jahrtausenden etwa von der Vernunft ersonnen sein und diesem wandelbaren Gebilde der menschlichen Abstraktion ihre Grundfeste zu danken haben? Ich kann's, selbst der Geschichte nach, nicht glauben. Wären die Menschen wie Tiere auf die Erde gestreuet, sich die innere Gestalt der Humanität erst selbst zu erfinden, so müßten wir noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion und Sitten kennen; denn wie der Mensch gewesen ist, ist er noch auf der Erde. Nun sagt uns aber keine Geschichte, keine Erfahrung, daß irgendwo menschliche Orang-Utangs leben; und die Märchen, die der späte Diodor oder der noch spätere Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenschlichen Menschen erzählen, zeigen sich entweder selbst in ihrem fabelhaften Grunde oder verdienen wenigstens auf das Zeugnis dieser Schriftsteller noch keinen Glauben. So sind auch gewiß die Sagen übertrieben, die die Dichter, um das Verdienst ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Völkern der Vorwelt geben; denn schon die Zeit, in der diese Dichter lebten, und der Zweck ihrer Beschreibung schließt sie von der Zahl historischer Zeugen aus. Wilder als der Neusee- oder der Feuerländer ist auch, nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein europäisches, geschweige ein griechisches Volk gewesen; und jene inhumanen Nationen haben Humanität, Vernunft und Sprache Kein Menschenfresser frißt seine Brüder und Kinder; der unmenschliche Gebrauch ist ihnen ein grausames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechselseitigen Schrecken der Feinde. Er ist also nichts mehr und minder als das Werk einer groben politischen Vernunft, die bei jenen Nationen die Humanität in Absicht dieser wenigen Opfer des Vaterlandes so bezwang, wie wir Europäer sie in Absicht anderer Dinge noch jetzt bezwungen haben. Gegen Fremde schämeten sie sich ihrer grausamen Handlung, wie wir Europäer uns doch der Menschenschlachten nicht schämen; ja gegen jeden Kriegsgefangnen, den dies traurige Los nicht trifft, beweisen sie sich brüderlich und edel. Alle diese Züge also, auch wenn der Hottentott sein lebendiges Kind vergräbt und der Eskimo seinem alten Vater das Alter verkürzet, sind Folgen der traurigen Not, die indes nie das ursprüngliche Gefühl der Humanität widerleget. Viel sonderbarere Greuel hat unter uns die mißgeleitete Vernunft oder die ausgelaßne Üppigkeit erzeuget Ausschweifungen, an welche die Polygamie der Neger schwerlich reichet. Wie nun deswegen unter uns niemand leugnen wird, daß auch in die Brust des Sodomiten, des Unterdrückers, des Meuchelmörders das Gebilde der Humanität gegraben sei, ob er's gleich durch Leidenschaften und freche Gewohnheit fast unkenntlich machte, so vergönne man mir, nach allem, was ich über die Nationen der Erde gelesen und geprüft habe, diese innere Anlage zur Humanität so allgemein als die menschliche Natur, ja eigentlich für diese Natur selbst anzunehmen. Sie ist älter als die spekulative Vernunft, die durch Bemerkung und Sprache sich erst dem Menschen angebildet hat, ja, die in praktischen Fällen kein Richtmaß in sich hatte, wenn sie es nicht von jenem dunklen Gebilde in uns borgte. Sind alle Pflichten des Menschen nur Konventionen, die er als Mittel der Glückseligkeit sich selbst aussann und durch Erfahrung feststellte, so hören sie augenblicks auf, meine Pflichten zu sein, wenn ich mich von ihrem Zweck, der Glückseligkeit, lossage. Der Syllogismus der Vernunft ist nun vollendet. Aber wie kamen sie denn in die Brust dessen, der nie über Glückseligkeit und die Mittel dazu spekulierend dachte? Wie kamen Pflichten der Ehe, der Vater- und Kindesliebe, der Familie und der Gesellschaft in den Geist eines Menschen, ehe er Erfahrungen des Guten und Bösen über jede derselben gesammlet hatte und also auf tausendfache Art zuerst ein Unmensch hätte sein müssen, ehe er ein Mensch ward? Nein, gütige Gottheit, dem mörderischen Ungefähr überließest du dein Geschöpf nicht. Den Tieren gabst du Instinkt, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität, in die Seele: der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur, er kann sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses tun, und du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen. Die Regel der Gerechtigkeit, die Grundsätze des Rechts der Gesellschaft, selbst die Monogamie als die dem Menschen natürlichste Ehe und Liebe, die Zärtlichkeit gegen Kinder, die Pietät gegen Wohltäter und Freunde, selbst die Empfindung des mächtigsten, wohltätigsten Wesens sind Züge dieses Bildes, die hie und da bald unterdrückt, bald ausgebildet sind, allenthalben aber noch die Uranlage des Menschen selbst zeigen, der er sich, sobald er sie wahrnimmt, auch nicht entsagen darf. Das Reich dieser Anlagen und ihrer Ausbildung ist die eigentliche Stadt Gottes auf der Erde, in welcher alle Menschen Bürger sind, nur nach sehr verschiednen Klassen und Stufen. Glücklich ist, wer zur Ausbreitung dieses Reichs der wahren innern Menschenschöpfung beitragen kann er beneidet keinem Erfinder seine Wissenschaft und keinem Könige seine Krone. Wer aber ist's nun, der uns sage, wo und wie diese aufweckende Tradition der Humanität und Religion auf der Erde entstand und sich mit so manchen Verwandelungen bis an den Rand der Welt fortbreitete, wo sie sich in den dunkelsten Resten verlieret? Wer lehrte den Menschen Sprache, wie noch jetzt jedes Kind dieselbe von andern lernet und niemand sich seine Vernunft erfindet? Welches waren die ersten Symbole, die der Mensch faßte, so daß eben im Schleier der Kosmogonie und religiöser Sagen die ersten Keime der Kultur unter die Völker kamen? Wo hangt der erste Ring der Kette unsres Geschlechts und seiner geistig-moralischen Bildung? Lasset uns sehen, was uns darüber die Naturgeschichte der Erde samt der ältesten Tradition sage.
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Wolfgang
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