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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zehntes Buch

Zehntes Buch

I

Unsre Erde ist für ihre lebendige Schöpfung eine eigengebildete Erde

Da der Ursprung der Menschengeschichte dem Philosophen sehr im dunkeln ist und schon in ihren ältesten Zeiten Sonderbarkeiten erscheinen, die der und  jener mit seinem System nicht zu fügen wußte, so ist  man auf den verzweifelnden Weg geraten, den Knoten zu zerschneiden und nicht nur die Erde als eine Trümmer voriger Bewohnung, sondern auch das Menschengeschlecht als einen überbliebenen, entkommenen  Rest anzusehen, der, nachdem der Planet in einem andern Zustande, wie man sagt, seinen Jüngsten Tag erlebt hatte, etwa auf Bergen oder in Höhlen sich diesem allgemeinen Gericht entzogen habe. Seine Menschenvernunft, Kunst und Tradition sei ein geretteter  Raub der untergegangenen Vorwelt [155], daher er teils  schon von Anfange her einen Glanz zeige, der sich  auf Erfahrungen vieler Jahrtausende gründe, teils auch nie ins Licht gesetzt werden könne, weil durch diese  überbliebene Menschen, wie durch einen Isthmus,  sich die Kultur zweier Welten verwirre und binde. Ist  diese Meinung wahr, so gibt es allerdings keine reine  Philosophie der Menschengeschichte; denn unser Geschlecht selbst und alle seine Künste wären nur ausgeworfene Schlacken einer vorigen Weltverwüstung.  Lasset uns sehen, was diese Hypothese, die aus der  Erde selbst sowie aus ihrer Menschengeschichte ein  unentwirrbares Chaos macht, für Grund habe.

In der Urbildung unsrer Erde hat sie, wie mich  dünkt, keinen; denn die ersten scheinbaren Verwüstungen und Revolutionen derselben setzen keine verlebte Menschengeschichte voraus, sondern gehören zu dem schaffenden Kreise selbst, durch welchen unsre  Erde erst bewohnbar worden. [156] Der alte Granit, der  innere Kern unsres Planeten, zeigt, soweit wir ihn  kennen, keine Spur von untergegangenen organischen  Wesen, weder daß er solche in sich enthielte, noch  daß seine Bestandteile dieselben voraussetzten.  Wahrscheinlich ragte er in seinen höchsten Spitzen  über die Wasser der Schöpfung empor, da sich auf  denselben keine Spur einer Meerwirkung findet; auf  diesen nackten Höhen aber konnte ein menschliches  Geschöpf sowenig atmen als sich nähren. Die Luft,  die diesen Klumpen umgab, war von Wasser und  Feuer noch nicht gesondert; beschwängert mit den  mancherlei Materien, die sich erst in vielfältigen Verbindungen und Perioden an die Grundlage der Erde  setzten und ihr allgemach Form gaben, konnte sie  dem feinsten Erdgeschöpf seinen Lebensatem sowenig erhalten als geben. Wo also zuerst lebendiges Gebilde entstand, war im Wasser; und es entstand mit  der Gewalt einer schaffenden Urkraft, die noch nirgend anders wirken konnte und sich also zuerst in der  unendlichen Menge von Schalentieren, dem einzigen,  was in diesem schwangern Meer leben konnte, organisierte. Bei fortgehender Ausbildung der Erde fanden  sie häufig ihren Untergang und ihre zerstörten Teile  wurden die Grundlage zu feinern Organisationen. Je  mehr der Urfels vom Wasser befreit und mit Absatzes desselben, d. i. der mit ihm verbundnen Elemente und Organisationen, befruchtet wurde, desto mehr eilte die Pflanzenschöpfung der Schöpfung des Wassers nach,  und auf jedem entblößten Erdstrich vegetierte, was  daselbst vegetieren konnte. Aber auch im Treibhause  dieses Reichs konnte noch kein Erdentier leben. Auf  Erdhöhen, auf denen jetzt lappländische Kräuter  wachsen, findet man versteinte Gewächse des heißesten Erdstrichs: ein offenbares Zeugnis, daß der Dunst auf ihnen damals dies Klima gehabt habe. Geläutert  indessen mußte diese Dunstluft schon in großem Grad sein, da sich so viele Massen aus ihr niedergesenkt  hatten und die zarte Pflanze vom Licht lebet; daß aber bei diesen Pflanzenabdrücken sich noch nirgend Erdentiere, geschweige denn Menschengebeine finden,  zeigt wahrscheinlich, daß solche auf der Erde damals  noch nicht vorhanden gewesen, weil weder zu ihrem  Gebilde der Stoff, noch zu ihrem Unterhalt Nahrung  bereitet war. So gehet's durch mancherlei Revolutionen fort, bis endlich in sehr obern Leim- oder Sandschichten erst die Elefanten- und Nashörnergerippe  erscheinen; denn was man in tiefern Versteinerungen  für Menschengebilde gehalten, ist alles zweifelhaft  und von genauern Naturforschern für Gerippe von  Seetieren erkläret worden. Auch auf der Erde fing die  Natur mit Bildungen des wärmsten Klima und, wie es scheint, der ungeheuersten Massen an, eben wie sie  im Meer mit gepanzerten Schaltieren und großen Ammonshörnern anfing; wenigstens haben sich bei den  so zahlreichen Gerippen der Elefanten, die spät zusammengeschwemmt sind und sich hie und da bis auf  die Haut erhalten haben, zwar Schlangen, Seetiere u.  dgl., nie aber Menschenkörper gefunden. Ja, wenn sie  auch gefunden wären, sind sie ohnstreitig von einem  sehr neuern Datum gegen die alten Gebirge, in denen  nichts von dieser Art Lebendigem vorkommt. So  spricht das älteste Buch der Erde mit seinen Ton-,  Schiefer-, Marmor-, Kalk- und Sandblättern, und was  spräche es hiemit für eine Umschaffung der Erde, die  ein Menschengeschlecht überlebt hätte, dessen Reste  wir wären? Vielmehr ist alles, was sie redet, da für,  daß unsre Erde aus ihrem Chaos von Materien und  Kräften unter der belebenden Wärme des schaffenden  Geistes sich zu einem eignen und ursprünglichen  Ganzen durch eine Reihe zubereitender Revolutionen  gebildet habe, bis auch zuletzt die Krone ihrer Schöpfung, das feine und zarte Menschengeschöpf, erscheinen konnte. Die Systeme also, die von zehnfacher  Veränderung der Weltgegenden und Pole, von hundertfältiger Umstürzung eines bewohnten und kultivierten Bodens, von Vertreibungen der Menschen aus  Gegend in Gegend oder von ihren Grabmälern unter  Felsen und Meeren reden und in der ganzen ältesten  Geschichte nur Graus und Entsetzen schildern, sie  sind, trotz aller unleugbaren Revolutionen der Erde,  dem Bau derselben entgegen oder von ihm wenigstens unbegründet. Die Risse und Gänge im alten Gestein  oder seine zusammengefallenen Wände sagen nichts  von einer vor unsrer Erde bewohnten Erde; ja, wenn  auch die alte Masse durch ein solches Schicksal zusammengeschmolzen wäre, so blieb gewiß kein lebendiger Rest der Urwelt für uns übrig. Die Erde sowohl  als die Geschichte ihrer Lebendigen, wie sie jetzt ist,  bleibt also für den Forscher ein reines ganzes Problem zur Auflösung. Einem solchen treten wir näher und  fragen:

 

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