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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zehntes Buch

IV

Asiatische Traditionen über die Schöpfung der Erde und den Ursprung des Menschengeschlechtes

Aber wo fangen wir in diesem wüsten Walde an, in dem soviel trügerische Stimmen und Irrlichte hie- und dahin locken und fahren? Ich habe nicht Lust zu der  Bibliothek von Träumen, die über diesen Punkt das  Menschengedächtnis drückt, nur eine Silbe hinzuzutun und unterscheide also, soviel ich kann, die Mutmaßung der Völker oder die Hypothesen ihrer Weisen von Tatsachen der Tradition sowie bei dieser die  Grade ihrer Gewißheit und ihre Zeiten. Das letzte  Volk Asiens, das sich des höchsten Altertums rühmet, die Sineser, haben nichts historisch Gewisses, das  über das 722. Jahr vor unsrer Zeitrechnung hinausginge. Die Reiche des Fohi und Hoangti sind Mythologie, und was vor Fohi hergeht, das Zeitalter der Geister oder der personifizierten Elemente, wird von den  Sinesen selbst als dichtende Allegorie betrachtet. Ihr  ältestes Buch [166], das 176 Jahr vor Christi Geburt  wiedergefunden oder vielmehr aus zwei, dem Bücherbrande entronnenen Exemplaren ergänzt ward, enthält weder Kosmogonie noch der Nation Anfang Yao regiert schon in demselben mit den Bergen seines  Reichs, den Großen; nur einen Befehl kostet es ihm,  so werden Gestirne beobachtet, Wasser abgeleitet,  Zeiten geordnet; Opfer und Geschäfte sind alle schon  in festgestellter Ordnung. Es bliebe uns also nur die  sinesische Metaphysik des großen ersten Y übrig [167],  wie aus 1 und 2 die 4 und 8 entstanden, wie nach Eröffnung des Himmels Puanku und die drei Hoangs als Wundergestalten regiert haben, bis erst mit dem ersten Stifter der Gesetze Gin-Hoang, der auf dem  Berge Hingma geboren war und Erd und Wasser in 9  Teile teilte, die menschlichere Geschichte anfinge.  Und dennoch geht die Mythologie dieser Art noch  viele Geschlechter hinunter, so daß vom Ursprünglichen wohl nichts auf sie zu gründen wäre, als etwa  daß sie den Wohnsitz dieser Könige und ihrer Wundergestalten auf die hohen asiatischen Berge setzt, die für heilig gehalten und mit der ganzen ältesten Fabelsage beehrt wurden. Ein großer Berg mitten auf der  Erde ist ihnen selbst in den Namen dieser alten Fabelwesen, die sie Könige nennen, sehr gefeiret.

Steigen wir nach Tibet hinauf, so finden wir die  Lagerung der Erde rings um einen höchsten Berg in  der Mitte noch ausgezeichneter, da sich die ganze Mythologie dieses geistlichen Reichs darauf gründet.  Fürchterlich beschreiben sie seine Höhe und Umfang;  Ungeheuer und Riesen sind Wächter an seinem  Rande, sieben Meere und sieben Goldberge rings um  ihn her. Auf seinem Gipfel wohnen die Lahen und in  verschiednen niedrigern Stufen andre Wesen. Durch  Aeonen von Weltaltern sanken jene Beschauer des  Himmels immer in gröbere Körper, endlich in die  Menschengestalt, in der ein häßliches Affenpaar ihre  Eltern waren; auch der Ursprung der Tiere wird aus  herabgestoßenen Lahen erkläret. [168] Eine harte Mythologie, die die Welt bergab in die Meere bauet,  diese mit Ungeheuern umpflanzet und das ganze System der Wesen zuletzt einem Ungeheuer, der ewigen  Notwendigkeit, in den Rachen gibt. Auch diese entehrende Tradition indessen, die den Menschen vom  Affen herleitet, ist mit spätern Ausbildungen so verwebet, daß viel dazu gehörte, sie als eine reine Ursage der Vorwelt zu betrachten.

Schätzbar wäre es, wenn wir vom alten Volk der  Hindus ihre älteste Tradition besäßen. Außerdem  aber, daß die erste Sekte des Brahma von den Anhängern Wischnu und Schiwens längst vertilgt ist, haben  wir an dem, was Europäer von ihren Geheimnissen  bisher erfuhren, offenbar nur junge Sagen, die entweder Mythologie für das Volk oder auslegende Lehrgebäude ihrer Weisen sind. Auch nach Provinzen gehen  sie märchenhaft auseinander, so daß wir, wie auf die  eigentliche Sanskritsprache, so auch auf den wahren  Wedam der Indier wahrscheinlich noch lange zu warten und dennoch auch in ihm von ihrer ältesten  Tradition wenig zu erwarten haben, da sie den ersten  Teil desselben selbst für verloren achten. Indessen  blicht auch durch manches spätere Märchen ein Goldkorn historischer Ursage hervor. Der Ganges z. B. ist  in ganz Indien heilig und fließt unmittelbar von den  heiligen Bergen, den Füßen des Weltschöpfers Brahma. In der achten Verwandlung erschien Wischnu als  Prassarama: noch bedeckte das Wasser alles Land bis zum Gebirge Gate; er bat den Gott des Meers, daß er  ihm Raum verschaffen und das Meer zurückziehen  machte, so weit, wenn er schösse, sein Pfeil reichte.  Der Gott versprach und Prassarama schoß; wie weit  der Pfeil flog, ward das Land trocken, die malabarische Küste. Offenbar sagt uns, wie auch Sonnerat anmerkt, die Erzählung, daß das Meer einst bis zum  Berge Gate gestanden habe und die malabarische  Küste jüngeres Land sei. Andere Sagen indischer  Völker erzählen den Ursprung der Erde aus dem Wasser auf andre Weise. Whishnu schwamm auf einem  Blatt; der erste Mensch entsprang aus ihm als eine  Blume. Auf der Oberfläche der Wasserwogen  schwamm ein Ei, das Brahma zur Reife brachte, aus  dessen Häuten die Luft und der Himmel ward, wie  aus seinem Inhalt Geschöpfe, Tiere und Menschen.  Doch man muß diese Sagen im Märchenton der kindlichen Indier selbst lesen. [169]

Das System Zoroasters [170] ist offenbar schon ein  philosophisches Lehrgebäude, das, wenn es auch mit  den Sagen andrer Sekten nicht vermischt wäre, dennoch schwerlich für eine Urtradition gelten könnte;  Spuren von dieser indes sind allerdings in ihm kennbar. Der große Berg Albordj in Mitte der Erde erscheinet wieder und streckt sich mit seinen Nebengebirgen rings um sie. Um ihn geht die Sonne; von ihm  rinnen die Ströme, Meere und Länder sind von ihm  aus verteilet. Die Gestalten der Dinge existierten zuerst in Urbildern, in Keimen, und wie alle Mythologien des höhern Asiens an Ungeheuern der Urwelt reich sind, so hat auch diese den großen Stier Kayamorts,  aus dessen Leichnam alle Geschöpfe der Erde wurden. Oben auf diesem Berge ist, wie dort auf dem  Berge der Lahen, das Paradies, der Sitz der seligen  Geister und verklärten Menschen, sowie der Urquell  der Ströme, das Wasser des Lebens. Übrigens ist das  Licht, das die Finsternis scheidet, sie zertrennet und  überwindet, das die Erde fruchtbar macht und alle Geschöpfe beseligt, offenbar der erste physische Grund  des ganzen Lichtsystems der Parsen, welche eine Idee sie auf gottesdienstliche, moralische und politische  Weise tausendfach anwandten.

Je tiefer wir westlich den Berg Asiens hinunterwandern, desto kürzer werden die Zeitalter der Sagen der  Urwelt. Man siehet ihnen allen schon eine spätere Abkunft, die Anwendung fremder Traditionen aus  höheren Erdstrichen auf niedrigere Länder an. In Lokalbestimmungen werden sie immer unpassender,  dafür aber gewinnen sie im System selbst an Ründe  und Klarheit, weil sich nur hie und da noch ein  Bruchstück der alten Fabel, und auch dies überall in  einem neuern Nationalgewande, zeiget. Ich wundre  mich daher, wie man auf der einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betrüger und auf der andern  zum ersten Propheten der Urwelt habe machen können, da ihm zu dieser schon die physische Lage seines Landes den Zugang versagte. Daß der Anfang dieses  Alls eine finstre Luft, ein dunkles trübes Chaos gewesen, daß dieses grenzen- und gestaltlos von unendlichen Zeiten her im wüsten Raum geschwebt, bis der  webende Geist mit seinen eignen Prinzipien in Liebe  verfiel und aus ihrer Vermischung ein Anfang der  Schöpfung wurde - diese Mythologie ist eine so alte  und den verschiedensten Völkern gemeine Vorstellungsart gewesen, daß dem Phönicier hiebei wenig zu  erdichten übrigblieb. Beinahe jedes Volk Asiens, die  Ägypter und Griechen mit eingeschlossen, erzählte  die Tradition vom Chaos oder vom bebrüteten Ei auf  seine Weise; warum konnten sich nicht also auch in  einem phönicischen Tempel geschriebene Traditionen dieser Art finden? Daß die ersten Samen der Geschöpfe in einem Schlamm gelegen und die ersten mit Verstand begabten Wesen eine Art Wundergestalten,  Spiegel des Himmels (Zophasemim) gewesen, die  nachher, durch den Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei Geschöpfe aus ihrer  Wundergestalt hervorbrachten, ist ebenfalls eine weitherrschende, hier nur verkürzte Sage, die mit andern  Ausbildungen über die medischen und tibetanischen  Gebirge bis nach Indien und Sina hinauf und bis  nach Phrygien und Thracien hinab reichet; denn noch  in der hesiodischen und orphischen Mythologie finden sich von ihr Reste. Wenn man nun aber vom Winde  Kolpias, d. i. der Stimme des Hauches Gottes, und  seinem Weibe, der Nacht, von ihren Söhnen, dem  Erstgebornen und dem Aeon, von ihren Enkeln, Geschlecht und Gattung, von ihren Urenkeln, Licht,  Feuer und Flamme, von ihren Ur-Urenkeln, den Bergen Cassius, Libanus, Antilibanus u. f. lange Genealogien lieset und diesen allegorischen Namen die Erfindungen des Menschengeschlechts zugeschrieben  findet, so gehört ein geduldiges Vorurteil dazu, in dieser mißverstandnen Verwirrung alter Sagen, die der  Zusammensetzer wahrscheinlich als Namen vor sich  fand und aus denen er Personen machte, eine Philosophie der Welt und eine älteste Menschengeschichte zu finden.

Tiefer hinab ins schwarze Ägypten wollen wir uns  um Traditionen der Urwelt nicht bemühen. In den  Namen ihrer ältesten Götter sind unleugbare Reste  einer schwesterlichen Tradition mit den Phöniciern;  denn die alte Nacht, der Geist, der Weltschöpfer, der  Schlamm, worin die Samen der Dinge lagen, kommen hier wieder. Da aber alles, was wir von der ältesten  Mythologie Ägyptens wissen, spät, ungewiß und dunkel, überdem jede mythologische Vorstellungsart dieses Landes ganz klimatisiert ist, so gehöret es nicht  zu unserm Zweck, unter diesen Götzengestalten oder  weiterhin in den Negermärchen nach Sagen der Urwelt zu graben, die zu einer Philosophie der ältesten  Menschengeschichte den Grund gäben. Auch historisch also bleibt uns auf der weiten Erde  nichts als die schriftliche Tradition übrig, die wir die  mosaische zu nennen pflegen. Ohn alles Vorurteil,  also auch ohne die mindeste Meinung darüber, welches Ursprungs sie sei, wissen wir, daß sie über 3000 Jahr alt und überhaupt das älteste Buch sei, das unser  junges Menschengeschlecht aufweiset. Ihr Anblick  soll es uns sagen, was diese kurzen, einfältigen Blätter sein wollen und können, indem wir sie nicht als  Geschichte, sondern als Tradition oder als eine alte  Philosophie der Menschengeschichte ansehn, die ich  deswegen auch sogleich von ihrem morgenländischen  poetischen Schmuck entkleide.

 

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