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Johann Gottfried
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VAllgemeine Betrachtungen über die Geschichte dieser StaatenWir haben bisher die Staatsverfassungen Asiens betrachtet, die sich nebst dem hohen Alter auch der festesten Dauer rühmen: Was haben sie in der Geschichte der Menschheit geleistet? Was lernt an ihnen der Philosoph der Menschengeschichte? 1. Geschichte setzt einen Anfang voraus, Geschichte des Staats und der Kultur einen Beginn derselben; wie dunkel ist dieser bei allen Völkern, die wir bisher betrachtet haben! Wenn meine Stimme hier etwas vermöchte, so würde ich sie anwenden, um jeden scharfsinnig- bescheidenen Forscher der Geschichte zum Studium des Ursprungs der Kultur in Asien, nach seinen berühmtesten Reichen und Völkern, jedoch ohne Hypothese, ohne den Despotismus einer Privatmeinung, zu ermuntern. Eine genaue Zusammenhaltung sowohl der Nachrichten als Denkmale, die wir von diesen Nationen haben, zumal ihrer Schrift und Sprache, der ältesten Kunstwerke und Mythologie oder der Grundsätze und Handgriffe, deren sie sich in ihren wenigen Wissenschaften noch jetzt bedienen: dies alles, verglichen mit dem Ort, den sie bewohnen, und dem Umgange, den sie haben konnten, würde gewiß ein Band ihrer Aufklärung entwickeln, wo wahrscheinlich das erste Glied dieser Kultur weder in Selinginsk noch im griechischen Baktra geknüpft wäre. Die fleißigen Versuche eines Deguignes, Bayers, Gatterers u. a., die kühnem Hypothesen Baillys, Paws, Delisle u. f., die nützlichen Bemühungen in Sammlung und Bekanntmachung asiatischer Sprachen und Schritten sind Vorarbeiten zu einem Gebäude, dessen ersten sichern Grundstein ich gesetzt zu sehen wünschte. Vielleicht wäre er die Trümmer vom Tempel einer Protogäa, die sich uns in so vielen Naturdenkmalen zeigt. 2. Das Wort »Zivilisation eines Volks« ist schwer auszusprechen, zu denken aber und auszuüben noch schwerer. Daß ein Ankömmling im Lande eine ganze Nation aufkläre oder ein König die Kultur durch Gesetze befehle, kann nur durch Beihülfe vieler Nebenumstände möglich werden; denn Erziehung, Lehre, bleibendes Vorbild allein bildet. Daher kam's denn, daß alle Völker sehr bald auf das Mittel fielen, einen unterrichtenden, erziehenden, aufklärenden Stand in ihren Staatskörper aufzunehmen und solchen den andern Ständen vorzusetzen oder zwischenzuschieben. Lasst dieses die Stufe einer noch sehr unvollkommenen Kultur sein, sie ist indessen für die Kindheit des Menschengeschlechts notwendig; denn wo keine dergleichen Erzieher des Volks waren, da blieb dies ewig in seiner Unwissenheit und Trägheit. Eine Art Brahmanen, Mandarine, Talapoinen, Lamen u. f. war also jeder Nation in ihrer politischen Jugend nötig; ja, wir sehen, daß eben diese Menschengattung allein die Samenkörner der künstlichen Kultur in Asien weit umhergetragen habe. Sind solche da, so kann der Kaiser Yao zu seinen Dienern Hi und Ho sagen194: »Geht hin und beobachtet die Sterne, bemerkt die Sonne und teilt das Jahr.« Sind Hi und Ho keine Astronomen, so ist sein kaiserlicher Befehl vergeblich. 3. Es ist ein Unterschied zwischen Kultur der Gelehrten und Kultur des Volkes. Der Gelehrte muß Wissenschaften wissen, deren Ausübung ihm zum Nutzen des Staats befohlen ist; er bewahrt solche auf und vertraut sie denen, die zu seinem Stande gehören, nicht dem Volke. Dergleichen sind auch bei uns die höhere Mathematik und viele andere Kenntnisse, die nicht zum gemeinen Gebrauch, also auch nicht fürs Volk dienen. Dies waren die sogenannten geheimen Wissenschaften der alten Staatsverfassungen, die der Priester oder Brahmane nur seinem Stande vorbehielt, weil er auf die Ausübung derselben angenommen war und jede andere Klasse der Staatsglieder ein anderes Geschäft hatte. So ist die Algebra noch jetzt eine geheime Wissenschaft; denn es verstehn sie wenige in Europa, obwohl es keinem durch Befehle verboten ist, sie verstehen zu lernen. Nun haben wir zwar, unnützer- und schädlicherweise, in vielen Stücken den Kreis der gelehrten und Volkskultur verwirrt und diese beinah bis zum Umfange jener erweitert; die alten Staatseinrichter, die menschlicher dachten, dachten hierin auch klüger. Die Kultur des Volks setzten sie in gute Sitten und nützliche Künste; zu großen Theorien, selbst in der Weltweisheit und Religion, hielten sie das Volk nicht geschaffen, noch solche ihm zuträglich. Daher die alte Lehrart in Allegorien und Märchen, dergleichen die Brahmanen ihren ungelehrten Stämmen noch jetzt vortragen; daher in Sina der Unterschied in allgemeinen Begriffen beinah nach jeder Klasse des Volks, wie ihn die Regierung festgestellt hat und nicht unweise festhält. Wollen wir also eine ostasiatische Nation mit den unsern in Ansehung der Kultur vergleichen, so ist notwendig zu wissen, wohin jenes Volk die Kultur setze und von welcher Menschenklasse man rede. Hat eine Nation oder eine seiner Klassen gute Sitten und Künste, hat sie die Begriffe und Tugenden, die zu seiner Arbeit und dem gnüglichen Wohlsein seines Lebens hinreichen, so hat es die Aufklärung, die ihm gnug ist; gesetzt, es wüßte sich auch nicht eine Mondfinsternis zu erklären und erzählte darüber die bekannte Drachengeschichte. Vielleicht erzählte sie ihm sein Lehrer eben deswegen, damit ihm über die Sonnen- und Sternenbahnen kein graues Haar wüchse. Unmöglich kann ich mir vorstellen, daß alle Nationen in ihren Individuen dazu auf der Erde sein, um einen metaphysischen Begriff von Gott zu haben, als ob sie ohne diese Metaphysik, die zuletzt vielleicht auf einem Wort beruht, abergläubische, barbarische Unmenschen sein müßten. Ist der Japaner ein kluger, herzhafter, geschickter, nützlicher Mensch, so ist er kultiviert, er möge von seinem Buddha und Amida denken, wie er wolle. Erzählt er euch hierüber Märchen, so erzählt ihm dafür andere Märchen, und ihr seid quitt. 4. Selbst ein ewiger Fortgang in der gelehrten Kultur gehört nicht zur wesentlichen Glückseligkeit eines Staats, wenigstens nicht nach dem Begriff der alten östlichen Reiche. In Europa machen alle Gelehrte einen eignen Staat aus, der, auf die Vorarbeiten vieler Jahrhunderte gebaut, durch gemeinschaftliche Hülfsmittel und durch die Eifersucht der Reiche gegeneinander künstlich erhalten wird; denn der allgemeinen Natur tut der Gipfel der Wissenschaft, nach dem wir streben, keine Dienste. Ganz Europa ist ein gelehrtes Reich, das teils durch innern Welteifer, teils in den neuern Jahrhunderten durch hülfreiche Mittel, die es auf dem ganzen Erdboden suchte, eine idealische Gestalt gewonnen hat, die nur der Gelehrte durchschaut und der Staatsmann nutzt. Wir also können in diesem einmal begonnenen Lauf nicht mehr stehenbleiben: wir haschen dem Zauberbilde einer höchsten Wissenschaft und Anerkenntnis nach, das wir zwar nie erreichen werden, das uns aber immer im Gange erhält, solange die Staatsverfassung Europas dauert. Nicht also ist's mit den Reichen, die nie in diesem Konflikt gewesen. Das runde Sina hinter seinen Bergen ist ein einförmiges verschlossenes Reich; alle Provinzen auch sehr verschiedener Völker, nach den Grundsätzen einer alten Staatsverfassung eingerichtet, sind durchaus nicht im Wetteifer gegeneinander, sondern im tiefsten Gehorsam. Japan ist eine Insel, die, wie das alte Britannien, jedem Fremdlinge feind ist und in ihrer stürmischen See zwischen Felsen wie eine Welt für sich besteht. So Tibet, mit Gebirgen und barbarischen Völkern umgeben; so die Verfassung der Brahmanen, die jahrhundertelang unter dem Druck ächzt. Wie könnte in diesen Reichen der Keim fortwachsender Wissenschaft schießen, der in Europa durch jede Felsenwand bricht? Wie könnten sie selbst die Früchte dieses Baums von den gefährlichen Händen der Europäer aufnehmen, die ihnen das, was rings um sie ist, politische Sicherheit, ja ihr Land selbst rauben? Also hat sich nach wenigen Versuchen jede Schnecke in ihr Haus gezogen und verachtet auch die schönste Rose, die ihr eine Schlange brächte. Die Wissenschaft ihrer anmaßlichen Gelehrten ist auf ihr Land berechnet, und selbst von den willfährtigen Jesuiten nahm Sina nicht mehr an, als es nicht entbehren zu können glaubte. Käme es in Umstände der Not, so würde es vielleicht mehr annehmen; da aber die meisten Menschen, und noch mehr die großen Staatskörper, sehr harte, eiserne Tiere sind, denen die Gefahr nah ankommen müßte, ehe sie ihren alten Gang ändern, so bleibt ohne Wunder und Zeichen alles, wie es ist, ohne daß es deswegen den Nationen an Fähigkeit zur Wissenschaft fehlte. An Triebfedern fehlt es ihnen; denn die uralte Gewohnheit wirkt jeder neuen Triebfeder entgegen. Wie langsam hat Europa selbst seine besten Künste gelernt! 5. Das Dasein eines Reichs kann in sich selbst und gegen andere geschätzt werden; Europa ist in der Notwendigkeit, beiderlei Maßstab zu gebrauchen; die asiatischen Reiche haben nur einen. Keins von diesen Ländern hat andere Welten aufgesucht, um sie als ein Postament seiner Größe zu gebrauchen oder durch ihren Überfluß sich Gift zu bereiten; jedes nutzt, was es hat, und ist in sich selbst gnüglich. Sogar seine eignen Goldbergwerke hat Sina untersagt, weil es aus Gefühl seiner Schwäche sie nicht zu nutzen getraute; der auswärtige sinesische Handel ist ganz ohne Unterjochung fremder Völker. Bei dieser kargen Weisheit haben alle diese Länder sich den unleugbaren Vorteil verschafft, ihr Inneres desto mehr nutzen zu müssen, weil sie es weniger durch äußern Handel ersetzten. Wir Europäer dagegen wandeln als Kaufleute oder als Räuber in der ganzen Welt umher und vernachlässigen oft das Unsrige darüber; die britannischen Inseln selbst sind lange nicht wie Japan und Sina gebaut. Unsere Staatskörper sind also Tiere, die, unersättlich am Fremden, Gutes und Böses, Gewürze und Gift, Kaffee und Tee, Silber und Gold verschlingen und in einem hohen Fieberzustande viel angestrengte Lebhaftigkeit beweisen; jene Länder rechnen nur auf ihren inwendigen Kreislauf. Ein langsames Leben, wie der Murmeltiere, das aber eben deswegen lange gedauert hat und noch lange dauren kann, wenn nicht äußere Umstände das schlafende Tier töten. Nun ist's bekannt, daß die Alten in allem auf längere Dauer rechneten, wie in ihren Denkmalen, so auch in ihren Staatsgebäuden; wir wirken lebhaft und gehen vielleicht um so schneller die kurzen Lebensalter durch, die auch uns das Schicksal zumaß. 6. Endlich kommt es bei allen irdischen und menschlichen Dingen auf Ort und Zeit sowie bei den verschiednen Nationen auf ihren Charakter an, ohne welchen sie nichts vermögen. Läge Ostasien uns zur Seite, es wäre lange nicht mehr, was es war. Wäre Japan nicht die Insel, die es ist, so wäre es nicht, was es ist, worden. Sollten sich diese Reiche allesamt jetzt bilden, so würden sie schwerlich werden, was sie vor drei, vier Jahrtausenden wurden; das ganze Tier, das Erde heißt und auf dessen Rücken wir wohnen, ist jetzt Jahrtausende älter. Wunderbare, seltsame Sache überhaupt ist's um das, was genetischer Geist und Charakter eines Volks heißt. Er ist unerklärlich und unauslöschlich: so alt wie die Nation, so alt wie das Land, das sie bewohnte. Der Brahmane gehört zu seinem Weltstrich; kein anderer, glaubt er, ist seiner heiligen Natur wert. So der Sinese und Japaner; allenthalben außer seinem Lande ist er eine unzeitig verpflanzte Staude. Was der Einsiedler Indiens sich an seinem Gott, der Sinese sich an seinem Kaiser denkt, denken wir uns nicht an demselben; was wir für Wirksamkeit und Freiheit des Geistes, für männliche Ehre und Schönheit des Geschlechts schätzen, denken sich jene weit anders. Die Eingeschlossenheit der indischen Weiber wird ihnen nicht unerträglich; der leere Prunk eines Mandarinen wird jedem andern als ihm ein sehr kaltes Schauspiel dünken. So ist's mit allen Gewohnheiten der vielgestaltigen menschlichen Form, ja mit allen Erscheinungen auf unserer runden Erde. Wenn unser Geschlecht bestimmt ist, auf dem ewigen Wege einer Asymptote sich einem Punkt der Vollkommenheit zu nähern, den es nicht kennt und den es mit aller tantalischen Mühe nie erreicht: ihr Sinesen und Japanesen, ihr Lamas und Brahmanen, so seid ihr auf dieser Wallfahrt in einer ziemlich ruhigen Ecke des Fahrzeuges. Ihr laßt euch den unerreichbaren Punkt nicht kümmern und bleibt, wie ihr vor Jahrtausenden wärt. 7. Tröstend ist's für den Forscher der Menschheit, wenn er bemerkt, daß die Natur bei allen Übeln, die sie ihrem Menschengeschlecht zuteilte, in keiner Organisation den Balsam vergaß, der ihm seine Wunden wenigstens lindert. Der asiatische Despotismus, diese beschwerliche Last der Menschheit, findet nur bei Nationen statt, die ihn tragen wollen, d. i. die seine drückende Schwere minder fühlen. Mit Ergebung erwartet der Inder sein Schicksal, wenn in der ärgsten Hungersnot seinen abgezehrten Körper schon der Hund verfolgt, dem er sinkend zur Speise werden wird; er stützt sich an, damit er stehend sterbe, und geduldig wartend sieht ihm der Hund ins blasse Todesantlitz: eine Resignation, von der wir keinen Begriff haben und die dennoch oft mit den stärksten Stürmen der Leidenschaft wechselt. Sie ist indessen nebst mancherlei Erleichterungen der Lebensart und des Klima das mildernde Gegengift gegen so viele Übel jener Staatsverfassungen, die uns unerträglich dünken. Lebten wir dort, so würden wir sie nicht ertragen dürfen, weil wir Sinn und Mut gnug hätten, die böse Verfassung zu ändern, oder wir erschlafften auch und ertrügen die Übel wie jene Indier geduldig. Große Mutter Natur, an welche Kleinigkeiten hast du das Schicksal unseres Geschlechts geknüpft! Mit der veränderten Form eines menschlichen Kopfs und Gehirns, mit einer kleinen Veränderung im Bau der Organisation und der Nerven, die das Klima, die Stammesart und die Gewohnheit bewirkt, ändert sich auch das Schicksal der Welt, die ganze Summe dessen, was allenthalben auf Erden die Menschheit tue und die Menschheit leide. |
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Wolfgang
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