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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zwölftes Buch

I

Babylon, Assyrien, Chaldäa

In der weiten Nomadenstrecke des vorderen Asiens mußten die fruchtbaren und anmutigen Ufer des Euphrat und Tigris gar bald eine Menge weidender Horden zu sich locken und, da sie zwischen Bergen und Wüsteneien wie ein Paradies in die Mitte gelagert sind, solche auch gern an sich behalten. Zwar hat jetzt diese Gegend viel von ihrer Anmut verloren, da sie fast von aller Kultur entblößt und seit Jahrhunderten dem Raube streifender Horden ausgesetzt gewesen; einzelne Striche indessen bestätigen noch das allgemeine Zeugnis der alten Schriftsteller, die sich im Lobe an ihr erschöpfen.196 Hier war also das Vaterland der ersten Monarchien unserer Weltgeschichte und zugleich eine frühe Werkstätte nützlicher Künste.

Bei dem ziehenden Nomadenleben nämlich war nichts natürlicher, als daß es einem ehrgeizigen Scheik in den Sinn kam, die schönen Ufer des Euphrats sich zuzueignen und zu Behauptung derselben mehrere Horden an sich zu fesseln. Die ebräische Nachricht nennt diesen Scheik Nimrod, der durch die Städte Babel, Edessa, Nesibin und Ktesiphon sein Reich gegründet habe; und in der Nähe setzt sie ihm ein anderes, das assyrische Reich durch die Städte Resan, Ninive, Adiabene und Kalach entgegen. Die Lage dieser Reiche nebst ihrer Natur und Entstehung knüpft den ganzen Faden des Schicksals, der sich nachher bis zu ihrem Untergange entwickelt hat; denn da beide, von verschiednen Volksstämmen gegründet, sich einander zu nahe lagen, was konnte nach dem streifenden Hordengeist dieser Weltgegend anders folgen, als daß sie einander anfeindeten, mehrmals unter eine Oberherrschaft gerieten und durch den Zudrang nördlicher Bergvölker sich so und anders zerteilten? Dies ist die kurze Geschichte der Reiche am Euphrat und Tigris, die in so alten Zeiten und bei verstümmelten Nachrichten aus dem Munde mehrerer Völker freilich nicht ohne Verwirrung sein konnte. Worin indes Annalen und Märchen einig sind, ist der Ursprung, der Geist und die Verfassung dieser Reiche. Aus kleinen Anfängen nomadischer Völker waren sie entstanden, der Charakter erobernder Horden blieb ihnen auch immer eigen. Selbst der Despotismus, der in ihnen aufkam, und die mancherlei Kunstweisheit, die insonderheit Babylon berühmt gemacht hat, sind völlig im Geist des Erdstrichs und des Nationalcharakters seiner Bewohner.

Denn was waren jene ersten Städte, die diese fabelhaften Weltmonarchen gründeten? Große, gesicherte Horden, das feste Lager eines Stammes, der diese fruchtbaren Gegenden genoß und auf die Plünderung anderer auszog. Daher der ungeheure Umfang Babylons so bald nach seiner Anlage dies- und jenseit des Stromes; daher seine Ungeheuern Mauern und Türme. Die Mauern waren hohe, dicke Wälle aus gebrannter Erde, die ein weitläuftiges Heerlager der Nomaden beschützen sollten; die Türme waren Wachttürme; die ganze Stadt, mit Gärten vermischt, war nach Aristoteles' Ausdruck ein Peloponnesus. Reichlich verlieh diese Gegend den Stoff zu solcher Nomadenbauart, den Ton nämlich, den man zu Ziegelsteinen gebrauchen, und das Erdpech, womit man jene verkitten lernte. Die Natur erleichterte also den Menschen ihre Arbeit, und da nach Nomadenart die Anlagen einmal gemacht waren, so konnten nach ebendieser Art sie leicht auch bereichert und verschönt werden, wenn nämlich die Horde auszog und raubte.

Und was sind jene gerühmten Eroberungen eines Ninus, einer Semiramis u. f. anders als Streitereien, wie solche die Araber, Kurden und Turkumannen noch jetzt treiben? Selbst ihrer Stammesart nach waren die Assyrer streifende Bergvölker, die durch keinen andern Charakter auf die Nachwelt gekommen sind, als daß sie erobert und geplündert haben. Von den frühesten Zeiten an werden insonderheit Araber im Dienst dieser Welteroberer genannt, und man kennt die ewige Lebensart dieses Volkes, die so lange dauren wird, als die arabische Wüste dauert. Späterhin treten Chaldäer auf den Schauplatz, ihrer Stammart und ihren ersten Wohnsitzen nach räuberische Kurden.197 Sie haben sich in der Weltgeschichte durch nichts als Verwüstungen ausgezeichnet; denn der Name, der ihnen von Wissenschaften zukam, ist wahrscheinlich nur ein mit dem Königreich Babylonien erbeuteter Ehrenname. Die schöne Gegend also, die diese Ströme umgrenzt, kann man in den ältesten und neuern Zeiten für einen Sammelplatz ziehender Nomaden oder raubender Völker ansehen, die an die hier befestigten Orte ihre Beute zusammentrugen, bis sie dem wohllüstigen warmen Himmelsstrich selbst unterlagen und, in Üppigkeit ermattet, andern zum Raube wurden.

Auch die gerühmten Kunstwerke einer Semiramis, ja noch eines Nebukadnezars sagen schwerlich etwas anders. Nach Ägypten hinab gingen die frühesten Züge der Assyrer; mithin wurden die Kunstwerke dieser friedlichen, gesitteten Nation wahrscheinlich das erste Vorbild der Verschönerungen Babels. Die gerühmten kolossischen Bildsäulen Belus', die Bildnisse auf den ziegelsteinernen Mauern der großen Stadt scheinen völlig nach ägyptischer Art, und daß die fabelhafte Königin zum Berge Bagisthan hinzog, um seinem Rücken ihr Bildnis aufzuprägen, war gewiß eine ägyptische Nachahmung. Sie wurde nämlich zu diesem Zuge gezwungen, da das südliche Land ihr keine Granitfelsen zu ewigen Denkmalen, wie Ägypten, darbot. Auch was Nebukadnezar hervorbrachte, waren nichts als Kolossen, Ziegelpaläste und hangende Gärten. Man suchte dem Umfange nach zu übertreffen, was man dem Stoff und der Kunst nach nicht haben konnte, und gab dem schwachem Denkmal wenigstens durch angenehme Gärten einen babylonischen Charakter. Ich bedaure daher den Untergang dieser ungeheuren Tonmassen so gar sehr nicht, denn hohe Werke der Kunst sind sie wahrscheinlich nicht gewesen; was ich wünschte, wäre, daß man in ihren Schutthaufen nach Tafeln chaldäischer Schrift suchte, die sich nach den Zeugnissen mehrerer Reisenden auch gewiß darin finden würden.198

Nicht eigentlich ägyptische, sondern Nomadenund späterhin Handelskünste sind das Eigentum dieser Gegend gewesen, wie es auch ihre Naturlage wollte. Der Euphrat überschwemmte und mußte daher in Kanälen abgeleitet werden, damit ein größerer Strich Landes von ihm Fruchtbarkeit erhielte; daher die Erfindungen der Räder und Pumpwerke, wenn diese nicht auch von den Ägyptern gelernt waren. Die Gegend in einiger Entfernung dieser Ströme, die einst bewohnt und fruchtbar war, darbt jetzt, weil ihr der Fleiß arbeitender Hände fehlt. Von der Viehzucht war hier zum Ackerbau ein leichter Schritt, da die Natur selbst den stetigen Bewohner dazu einlud. Die schönen Garten- und Feldfrüchte dieser Ufer, die mit freiwilliger, ungeheurer Kraft aus der Erde hervorschießen und die geringe Mühe ihrer Pflege reichlich belohnen, machten, fast ohne daß er's wußte, den Hirten zum Ackermann und zum Gärtner. Ein Wald von schönen Dattelbäumen gab ihm statt der unsichern Zelte Stämme zu seiner Wohnung und Früchte zur Speise; die leichtgebrannte Tonerde half diesem Bau auf, so daß sich der Zeltbewohner unvermerkt in einer bessern, obgleich leimernen Wohnung sähe.

Ebendiese Erde gab ihm Gefäße und mit ihnen hundert Bequemlichkeiten der häuslichen Lebensweise. Man lernte das Brot backen, Speisen zurichten, bis man endlich durch den Handel zu jenen üppigen Gastmahlen und Festen stieg, durch welche in sehr alten Zeiten die Babylonier berühmt waren. Wie man kleine Götzenbilder, Teraphim, in gebrannter Erde schuf lernte man bald auch kolossische Statuen brennen und formen, von deren Modellen man zu Formen des Metallgusses sehr leicht hinaufstieg. Wie man dem weichen Ton Bilder oder Schriftzüge einprägte, die durchs Feuer befestigt blieben, so lernte man damit unvermerkt, auf gebrannten Ziegelsteinen Kenntnisse der Vorwelt erhalten, und baute auf die Beobachtungen älterer Zeiten weiter. Selbst die Astronomie war eine glückliche Nomadenerfindung dieser Gegend. Auf ihrer weiten schönen Ebne saß der weidende Hirt und bemerkte in müßiger Ruhe den Auf- und Untergang der glänzenden Sterne seines unendlichen, heitern Horizontes. Er benannte sie, wie er seine Schafe nannte, und schrieb ihre Veränderungen in sein Gedächtnis. Auf den platten Dächern der babylonischen Häuser, auf welchen man sich nach der Hitze des Tages angenehm erholte, setzte man diese Beobachtungen fort, bis endlich ein eigner, dazu gestifteter Orden sich dieser reizenden und zugleich unentbehrlichen Wissenschaft annahm und die Jahrbücher des Himmels Zeiten hindurch fortsetzte. So lockte die Natur die Menschen selbst zu Kenntnissen und Wissenschaften, daß also auch diese ihre Geschenke so lokale Erzeugnisse sind als irgendein anderes Produkt der Erde. Am Fuß des Kaukasus gab sie durch Naphthaquellen den Menschen das Feuer in die Hände, daher sich die Fabel des Prometheus ohne Zweifel aus jenen Gegenden herschreibt; in den angenehmen Dattelwäldern am Euphrat erzog sie mit sanfter Macht den umherziehenden Hirten zum fleißigen Anwohner der Flecken und Städte.

Eine Reihe anderer babylonischer Künste sind daher entsprossen, daß diese Gegend ein Mittelpunkt des Handels der Ost- und Westwelt von alten Zeiten her war und immerhin sein wird. Im mittlern Persien hat sich kein berühmter Staat gebildet, weil kein Fluß ins Meer strömt; aber am Indus, am Ganges und hier am Euphrat und Tigris, welche belebtere Punkte der Erde! Hier war der Persische Meerbusen nahe199, wo eine frühe Niederlage indischer Waren auch Babylon bereicherte und zu einer Mutter des handelnden Fleißes machte. Die babylonische Pracht in Leinwand, Teppichen, Stickereien und andern Gewanden ist bekannt; der Reichtum schuf Üppigkeit; Üppigkeit und Fleiß brachten beide Geschlechter näher zusammen als in andern asiatischen Provinzen, wozu die Regierung einiger Königinnen vielleicht nicht wenig beitrug. Kurz, die Bildung dieses Volks ging so ganz von seiner Lage und Lebensart aus, daß es ein Wunder wäre, wenn sich bei solchen Anlässen an diesem Ort der Welt nichts Merkwürdiges hätte erzeugen sollen. Die Natur hat ihre Lieblingsplätze auf der Erde, die insonderheit an den Ufern der Ströme und an erlesnen Küsten des Meers der Menschen Tätigkeit aufwecken und belohnen. Wie am Nil ein Ägypten, am Ganges ein Indien entstand, so erschuf sich hier ein Ninive und Babel, in spätem Zeiten ein Seleucia und Palmyra. Ja, wenn Alexander zur Erfüllung seines Wunsches gelangt wäre, von Babel aus die Welt zu regieren, welch eine andere Gestalt hätte diese reizende Gegend auf lange Jahrhunderte erhalten!

Auch an den Schriftcharakteren nehmen die Assyrer und Babylonier teil: ein Eigentum, das die Nomadenstämme des vordem Asiens von undenklichen Zeiten her unter ihre Vorzüge gerechnet haben. Ich lasse es dahingestellt sein, welchem Volk eigentlich diese herrliche Erfindung gebühre200; gnug aber, alle aramäische Stämme rühmten sich dieses Geschenkes der Vorwelt und haßten mit einer Art von Religionshaß die Hieroglyphen. Ich kann mich daher nicht überreden, daß die Babylonier Hieroglyphen gebraucht haben: ihre Zeichendeuter deuteten Sterne, Begebenheiten, Zufälle, Traumbilder, geheime Schriftzüge, aber nicht Hieroglyphen. Auch die Schrift des Schicksals, die jenem schwelgenden Belsazar erschien201, bestand in Silbenworten, die nach Art der morgenländischen Schreibkunst ihm in verschlungenen Zügen vorkamen, nicht aber in Bildern. Selbst jene Gemälde, die Semiramis auf ihre Mauern setzte, die syrischen Buchstaben, die sie dem Felsen zu ihrem Bildnis einhauen ließ, bestätigen in den ältesten Zeiten den hieroglyphenfreien Gebrauch der Buchstaben unter diesen Völkern. Durch sie allein war es möglich, daß die Babylonier so frühe schon geschriebene Kontrakte, Jahrbücher ihres Reichs und eine fortgesetzte Reihe von Himmelsbeobachtungen haben konnten; durch sie allein haben sie sich eigentlich dem Andenken der Welt als ein gebildetes Volk eingezeichnet. Zwar sind weder ihre astronomischen Verzeichnisse noch eine ihrer Schritten auf uns gekommen, ob jene gleich noch dem Aristoteles zugesandt werden konnten; indessen, daß sie dies Volk nur gehabt hat, ist ihm schon rühmlich.

Übrigens muß man sich an der Chaldäerweisheit nicht unsere Weisheit denken. Die Wissenschaften, die Babylon besaß, waren einer abgeschlossenen gelehrten Zunft anvertraut, die bei dem Verfall der Nation zuletzt eine häßliche Betrügerin wurde. Chaldäer hießen sie wahrscheinlich von der Zeit an, da Chaldäer über Babylon herrschten; denn da seit Belus' Zeiten die Zunft der Gelehrten ein Orden des Staats und eine Stiftung der Regenten war, so schmeichelten diese wahrscheinlich ihren Beherrschern damit, daß sie den Namen ihrer Nation trugen. Sie waren Hofphilosophen und sanken als solche auch zu allen Betrügereien und schnöden Künsten der Hofphilosophie hinunter. Wahrscheinlich haben sie in diesen Zeiten ihre alte Wissenschaft sowenig als das Tribunal in Sina die seinigen vermehrt.

Glücklich und zugleich unglücklich war diese schöne Erdstrecke, da sie einem Bergstrich nahe lag, von welchem sich soviel wilde Völker hinabdrängten. Das assyrische und babylonische Reich wurde von Chaldäern und Medern, diese wurden von den Persern überwunden, bis zuletzt alles eine unterjochte Wüste war und sich der Sitz des Reichs in die nordischen Gegenden hinaufzog. Weder im Kriege noch in der Staatsverfassung haben wir also von diesen Reichen viel zu lernen. Ihre Angriffe waren roh, ihre Eroberungen nur Streifereien; ihre politische Verfassung war jene elende Satrapenregierung, die in den Morgenländern dieser Gegenden fast immer geherrscht hat. Daher denn die unbefestigte Gestalt dieser Monarchien; daher die öftern Empörungen gegen sie und die Zerstörung des Ganzen durch Einnahme einer Stadt, durch einen oder zwei Hauptsiege. Zwar wollte Arbaces schon nach dem ersten Sturz des Reichs eine Art verbündeter Satrapenaristokratie aufrichten; aber es gelang ihm nicht, wie überhaupt keiner der modischen und aramäischen Stämme von einer andern Regimentsverfassung als der despotischen wußte. Aus dem Nomadenleben waren sie ausgegangen; das Bild des Königes als eines Hausvaters und Scheiks formte also ihre Begriffe und ließ, sobald sie nicht mehr in einzelnen Stämmen lebten, der politischen Freiheit oder der Gemeinherrschaft mehrerer keinen Raum. Wie eine Sonne am Himmel leuchtet, so sollte auch nur ein Regent auf der Erde sein, der sich denn auch bald in die ganze Pracht der Sonne, ja in den Glanz einer irdischen Gottheit hüllte. Alles floß von seiner Gnade her, an seiner Person hing alles, in ihr lebte der Staat, mit ihr ging er meistens unter. Ein Harem war der Hof des Fürsten; er kannte nichts als Silber und Gold, Knechte und Mägde, Länder, die er wie eine Weide besaß, und Menschenherden, die er trieb, wohin er wollte, wenn er sie nicht gar würgte. Eine barbarische Nomadenregierung, ob sie gleich auch in seltnen guten Fürsten wahre Hirten und Väter des Volks gehabt hat.

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