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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünfzehntes Buch

I

Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben

Der Zweck einer Sache, die nicht bloß ein totes  Mittel ist, muß in ihr selbst liegen. Wären wir dazu  geschaffen, um, wie der Magnet sich nach Norden  kehrt, einem Punkt der Vollkommenheit, der außer  uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewig  vergeblicher Mühe nachzustreben, so würden wir als  blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das  Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen Schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht bloß zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen Augenweide schuf. Wollten wir auch zu seiner  Entschuldigung sagen, daß durch diese leeren Bemühungen, die nie zum Ziele reichen, doch etwas Gutes  befördert und unsere Natur in einer ewigen Regsamkeit erhalten würde, so bliebe es immer doch ein un- vollkommenes, grausames Wesen, das diese Entschuldigung verdiente; denn in der Regsamkeit, die  keinen Zweck erreicht, liegt kein Gutes, und es hätte  uns, ohnmächtig oder boshaft, durch Vorhaltung eines solchen Traums von Absicht seiner selbst unwürdig  getäuschet. Glücklicherweise aber wird dieser Wahn  von der Natur der Dinge uns nicht gelehret; betrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den  Gesetzen, die in ihr liegen, so kennen wir nichts Höheres als Humanität im Menschen; denn selbst wenn  wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns  nur als idealische, höhere Menschen.

Zu diesem offenbaren Zweck, sahen wir [242], ist  unsre Natur organisieret; zu ihm sind unsere feineren  Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsere zarte und daurende Gesundheit, unsre Sprache, Kunst  und Religion uns gegeben. In allen Zuständen und  Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. Ihr zugut  sind die Anordnungen unsrer Geschlechter und Lebensalter von der Natur gemacht, daß unsre Kindheit  länger daure und nur mit Hülfe der Erziehung eine Art Humanität lerne. Ihr zugut sind auf der weiten Erde  alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden. Jäger oder Fischer, Hirt oder Ackermann und Bürger, in jedem  Zustande lernte der Mensch Nahrungsmittel unterscheiden, Wohnungen für sich und die Seinigen errichten; er lernte für seine beiden Geschlechter Kleidungen zum Schmuck erhöhen und sein Hauswesen  ordnen. Er erfand mancherlei Gesetze und  Regierungsformen, die alle zum Zweck haben wollten, daß jeder, unbefehdet vom andern, seine Kräfte  üben und einen schönem, freieren Genuß des Lebens  sich erwerben könnte. Hiezu ward das Eigentum gesichert und Arbeit, Kunst, Handel, Umgang zwischen  mehreren Menschen erleichtert; es wurden Strafen für  die Verbrecher, Belohnungen für die Vortrefflichen  erfunden, auch tausend sittliche Gebräuche der verschiednen Stände im öffentlichen und häuslichen Leben, selbst in der Religion angeordnet. Hiezu endlich wurden Kriege geführt, Verträge geschlossen, allmählich eine Art Kriegs- und Völkerrecht, nebst mancherlei Bündnissen der Gastfreundschaft und des  Handels, errichtet, damit auch außer den Grenzen seines Vaterlandes der Mensch geschont und geehrt  würde. Was also in der Geschichte je Gutes getan  ward, ist für die Humanität getan worden; was in ihr  Törichtes, Lasterhaftes und Abscheuliches in  Schwang kam, ward gegen die Humanität verübet, so  daß der Mensch sich durchaus keinen andern Zweck  aller seiner Erdanstalten denken kann, als der in ihm  selbst, d. i. in der schwachen und starken, niedrigen  und edlen Natur liegt, die ihm sein Gott anschuf.  Wenn wir nun in der ganzen Schöpfung jede Sache  nur durch das, was sie ist und wie sie wirkt, kennen,  so ist uns der Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde durch seine Natur und Geschichte wie durch die  helleste Demonstration gegeben.

Lasset uns auf den Erdstrich zurückblicken, den  wir bisher durchwandert haben: In allen Einrichtungen der Völker von Sina bis Rom, in allen Mannigfaltigkeiten ihrer Verfassung sowie in jeder ihrer Erfindungen des Krieges und Friedens, selbst bei allen  Greueln und Fehlern der Nationen blieb das Hauptgesetz der Natur kenntlich: »Der Mensch sei Mensch!  Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet.« Hiezu bemächtigten sich die Völker  ihres Landes und richteten sich ein, wie sie konnten.  Aus dem Weibe und dem Staat, aus Sklaven, Kleidern und Häusern, aus Ergötzungen und Speisen, aus Wissenschaft und Kunst ist hie und da auf der Erde alles  gemacht worden, was man zu seinem oder des Ganzen Besten daraus machen zu können glaubte. Überall  also finden wir die Menschheit im Besitz und Gebrauch des Rechtes, sich zu einer Art von Humanität  zu bilden, nachdem es solche erkannte. Irrten sie oder  blieben auf dem halben Wege einer ererbten Tradition stehen, so litten sie die Folgen ihres Irrtums und büßeten ihre eigne Schuld. Die Gottheit hatte ihnen in  nichts die Hände gebunden als durch das, was sie  waren, durch Zeit, Ort und die ihnen einwohnenden  Kräfte. Sie kam ihnen bei ihren Fehlern auch nirgend  durch Wunder zu Hülfe, sondern ließ diese Fehler  wirken, damit Menschen solche selbst bessern lernten. So einfach dieses Naturgesetz ist, so würdig ist es  Gottes, so zusammenstimmend und fruchtbar an Folgen für das Geschlecht der Menschen. Sollte dies  sein, was es ist, und werden, was es werden könnte,  so mußte es eine selbstwirksame Natur und einen  Kreis freier Tätigkeit um sich her erhalten, in welchem es kein ihm unnatürliches Wunder störte. Alle  tote Materie, alle Geschlechter der Lebendigen, die  der Instinkt führet, sind seit der Schöpfung geblieben, was sie waren: den Menschen machte Gott zu einem  Gott auf Erden; er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte; sobald er diese brauchte, war ihm freilich die Pforte zu  tausend Irrtümern und Fehlversuchen, eben aber auch, und selbst durch diese Irrtümer und Fehlversuche, der  Weg zum bessern Gebrauch der Vernunft eröffnet. Je  schneller er seine Fehler erkennen lernt, mit je rüstigerer Kraft er darauf geht, sie zu bessern, desto weiter  kommt er, desto mehr bildet sich seine Humanität,  und er muß sie ausbilden oder Jahrhunderte durch  unter der Last eigner Schulden ächzen.

Wir sehen also auch, daß sich die Natur zu Errichtung dieses Gesetzes einen so weiten Raum erkor, als  ihr der Wohnplatz unsres Geschlechts vergönnte; sie  organisierte den Menschen so vielfach, als auf unsrer  Erde ein Menschengeschlecht sich organisieren konnte. Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin, und  von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen. Das  Notwendige, zu welchem der Trieb und das Bedürfnis führet, konnte beinah keine Nation der Erde verfehlen; zur feinem Ausbildung des Zustandes der  Menschheit gab es auch feinere Völker sanfterer Klimate. Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in  der Mitte zweier Extreme liegt, so mußte auch die  schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtem Mittelstrich ihren Platz finden. Und sie  hat ihn nach dem Naturgesetz dieser allgemeinen  Konvenienz reichlich gefunden. Denn ob man gleich  fast alle asiatischen Nationen von jener Trägheit nicht freisprechen kann, die bei guten Anordnungen zu  frühe stehenblieb und eine ererbte Form für unableg- lich und heilig schätzte, so muß man sie doch ent- schuldigen, wenn man den ungeheuren Strich ihres festen Landes und die Zufälle bedenkt, denen sie inson- derheit von dem Gebürg' her ausgesetzt waren. Im  ganzen bleiben ihre ersten frühen Anstalten zur Bildung der Humanität, eine jede nach Zeit und Ort be- trachtet, lobenswert, und noch weniger sind die Fortschritte zu verkennen, die die Völker an den Küsten  des Mittelländischen Meeres in ihrer großem Regsamkeit gemacht haben. Sie schüttelten das Joch des Despotismus alter Regierungsformen und Traditionen ab  und bewiesen damit das große, gütige Gesetz des  Menschenschicksals: »daß, was ein Volk oder ein gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eignen Besten  mit Überlegung wolle und mit Kraft ausführe, das sei  ihm auch von der Natur vergönnet, die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste Form der Hu- manität ihnen zum Ziel setzte«.

Wunderbar-schön versöhnt uns der Grundsatz dieses göttlichen Naturgesetzes nicht nur mit der Gestalt  unsres Geschlechts auf der weiten Erde, sondern auch  mit den Veränderungen desselben durch alle Zeiten  hinunter. Allenthalben ist die Menschheit das, was sie aus sich machen konnte, was sie zu werden Lust und  Kraft hatte. War sie mit ihrem Zustande zufrieden  oder waren in der großen Saat der Zeiten die Mittel zu ihrer Verbesserung noch nicht gereift, so blieb sie  Jahrhunderte hin, was sie war, und ward nichts anders. Gebrauchte sie sich aber der Waffen, die ihr  Gott zum Gebrauch gegeben hatte, ihres Verstandes,  ihrer Macht und aller der Gelegenheiten, die ihr ein  günstiger Wind zuführte, so stieg sie künstlich höher,  so bildete sie sich tapfer aus. Tat sie es nicht, so zeigt  schon diese Trägheit, daß sie ihr Unglück minder  fühlte; denn jedes lebhafte Gefühl des Unrechts, mit  Verstande und Macht begleitet, muß eine rettende  Macht werden. Mitnichten gründete sich z.B. der  lange Gehorsam unter dem Despotismus auf die  Übermacht des Despoten; die gutwillige, zutrauende  Schwachheit der Unterjochten, späterhin ihre duldende Trägheit, war seine einzige und größeste Stütze. Denn dulden ist freilich leichter als mit Nachdruck bessern; daher brauchten so viele Völker des Rechts  nicht, das ihnen Gott durch die Göttergabe ihrer Vernunft gegeben.

Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der  Erde noch nicht geschehen ist, künftig geschehen  werde; denn unverjährbar sind die Rechte der  Menschheit und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar. Wir erstaunen darüber, wie weit Griechen  und Römer es in ihrem Kreise von Gegenständen in  wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch der  Zweck ihrer Wirkung nicht immer der reinste war, so  beweisen sie doch, daß sie ihn zu erreichen vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der Geschichte und muntert  jeden ihresgleichen, unter gleichem und größerm  Schutze des Schicksals, zu ähnlichen und bessern Bestrebungen auf. Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zu  Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und  Menschenwürde. So viele glorreiche alte Nationen erreichten ein schlechteres Ziel; warum sollten wir nicht ein reineres, edleres erreichen? Sie waren Menschen,  wie wir sind; ihr Beruf zur besten Gestalt der Humanität ist der unsrige, nach ungern Zeitumständen, nach unserm Gewissen, nach unsern Pflichten. Was jene  ohne Wunder tun konnten, können und dürfen auch  wir tun; die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß,  durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte. Als sie die Erde und alle vernunftlosen Geschöpfe derselben geschaffen hatte, formte sie den Menschen und sprach  zu ihm: »Sei mein Bild, ein Gott auf Erden! Herrsche  und walte! Was du aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu schaffen vermagst, bringe hervor; ich  darf dir nicht durch Wunder beistehn, da ich dein  menschliches Schicksal in deine menschliche Hand  legte; aber alle meine heiligen, ewigen Gesetze der  Natur werden dir helfen.«

Lasset uns einige dieser Naturgesetze erwägen, die  auch nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange  der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen  haben und, so wahr sie Naturgesetze Gottes sind, ihm aufhelfen werden.

 

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