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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünfzehntes Buch

II

Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur  unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen

Erstes Beispiel. Als einst im Unermeßlichen der  Werkstoff künftiger Welten ausgebreitet schwamm,  gefiel es dem Schöpfer dieser Welten, die Materie  sich bilden zu lassen nach den ihnen anerschaffenen  inneren Kräften. Zum Mittelpunkt des Ganzen, der  Sonne, floß nieder, was nirgend eigne Bahn finden  konnte oder was sie auf ihrem mächtigen Thron mit  überwiegenden Kräften an sich zog. Was einen andern Mittelpunkt der Anziehung fand, ballte sich  gleichartig zu ihm und ging entweder in Ellipsen um  seinen großen Brennpunkt oder flog in Parabeln und  Hyperbeln hinweg und kam nie wieder. So reinigte  sich der Äther, so ward aus einem schwimmenden,  zusammenfließenden Chaos ein harmonisches Welt system, nach welchem Erden und Kometen in regel mäßigen Bahnen Äonen durch um ihre Sonne umhergehn: ewige Beweise des Naturgesetzes, daß vermittelst eingepflanzter göttlicher Kräfte aus dem Zustande der Verwirrung Ordnung werde. Solange dies einfache große Gesetz aller gegeneinander gewogenen und abgezählten Kräfte dauert, stehet der Weltbau  fest; denn er ist auf eine Eigenschaft und Regel der  Gottheit gegründet.

Zweites Beispiel. Gleichergestalt als unsre Erde  aus einer unförmlichen Masse sich zum Planeten  formte, stritten und kämpften auf ihr ihre Elemente,  bis jedes seine Stelle fand, so daß, nach mancher wilden Verwirrung, der harmonisch geordneten Kugel  jetzt alles dienet. Land und Wasser, Feuer und Luft,  Jahreszeiten und Klimate, Winde und Ströme, die  Witterung und was zu ihr gehöret: alles ist einem großen Gesetz ihrer Gestalt und Masse, ihres Schwunges  und ihrer Sonnenentfernung unterworfen und wird  nach solchem harmonisch geregelt. Jene unzählige  Vulkane auf der Oberfläche unsrer Erde flammen  nicht mehr, die einst flammten; der Ozean siedet nicht mehr von jenen Vitriolgüssen und andern Materien,  die einst den Boden unsres festen Landes bedeckten.  Millionen Geschöpfe gingen unter, die untergehen  mußten; was sich erhalten konnte, blieb und steht  jetzt Jahrtausende her in großer harmonischer Ordnung. Wilde und zahme, fleisch- und grasfressende  Tiere, Insekten, Vögel, Fische, Menschen sind gegeneinander geordnet, und unter diesen allen Mann und  Weib, Geburt und Tod, Dauer und Lebensalter, Not  und Freude, Bedürfnisse und Vergnügen. Und alle  dies nicht etwa nach der Willkür einer täglich geänderten, unerklärlichen Fügung, sondern nach offenbaren Naturgesetzen, die im Bau der Geschöpfe, d. i. im Verhältnis aller der organischen Kräfte lagen, die  sich auf unserm Planeten beseelten und erhielten.  Solange das Naturgesetz dieses Baues und Verhältnisses dauert, wird auch seine Folge dauern: harmonische Ordnung nämlich zwischen dem belebten und  unbelebten Teil unsrer Schöpfung, die, wie das Innere der Erde zeigt, nur durch den Untergang von Millionen bewirkt werden konnte.

Wie? und im menschlichen Leben sollte nicht eben  dies Gesetz walten, das, innern Naturkräften gemäß,  aus dem Chaos Ordnung schafft und Regelmäßigkeit  bringt in die Verwirrung der Menschen? Kein Zweifel! wir tragen dies Principium in uns, und es muß  und wird seiner Art gemäß wirken. Alle Irrtümer des  Menschen sind ein Nebel der Wahrheit; alle Leidenschaften seiner Brust sind wildere Triebe einer Kraft,  die sich selbst noch nicht kennet, die ihrer Natur nach  aber nicht anders als aufs Bessere wirket. Auch die  Stürme des Meers, oft zertrümmernd und verwüstend, sind Kinder einer harmonischen Weltordnung und  müssen derselben wie die säuselnden Zephyrs dienen.  Gelänge es mir, einige Bemerkungen ins Licht zu setzen, die diese erfreuliche Wahrheit uns vergewissern.

1. Wie die Stürme des Meers seltner sind als seine  regelmäßigen Winde, so ist's auch im Menschengeschlecht eine gütige Naturordnung, daß weit weniger  Zerstörer als Erhalter in ihm geboren werden. Im Reich der Tiere ist es ein göttliches Gesetz, daß  weniger Löwen und Tiger als Schafe und Tauben  möglich und wirklich sind; in der Geschichte ist's eine ebenso gütige Ordnung, daß der Nebukadnezars und  Cambyses', der Alexander und Sulla, der Attila und  Dschengis-Khane eine weit geringere Anzahl ist als  der sanftem Feldherren oder der stillen friedlichen  Monarchen. Zu jenen gehören entweder sehr unregelmäßige Leidenschaften und Mißanlagen der Natur,  durch welche sie der Erde statt freundlicher Sterne  wie flammende Meteore erscheinen, oder es treten  meistens sonderbare Umstände der Erziehung, seltne  Gelegenheiten einer frühen Gewohnheit, endlich gar  harte Bedürfnisse der feindseligen, politischen Not  hinzu, um die sogenannten Geißeln Gottes gegen das  Menschengeschlecht in Schwung zu bringen und  darin zu erhalten. Wenn also zwar die Natur unsertwegen freilich nicht von ihrem Gange ablassen wird,  unter den zahllosen Formen und Komplexionen, die  sie hervorbringt, auch dann und wann Menschen von  wilden Leidenschaften, Geister zum Zerstören und  nicht zum Erhalten ans Licht der Welt zu senden, so  steht es eben ja auch in der Gewalt der Menschen,  diesen Wölfen und Tigern ihre Herde nicht  anzuvertraun, sondern sie vielmehr durch Gesetze der  Humanität selbst zu zähmen. Es gibt keine Auerochsen mehr in Europa, die sonst allenthalben ihr waldichtes Gebiet hatten; auch die Menge der afrikanischen Ungeheuer, die Rom zu seinen Kampfspielen  brauchte, ward ihm zuletzt schwer zu erjagen. Je mehr die Kultur der Länder zunimmt, desto enger wird die  Wüste, desto seltner ihre wilden Bewohner. Gleichergestalt hat auch in unserm Geschlecht die zunehmende Kultur der Menschen schon diese natürliche  Wirkung, daß sie mit der tierischen Stärke des Körpers auch die Anlage zu wilden Leidenschaften  schwächt und ein zarteres menschliches Gewächs bildet. Nun sind bei diesem allerdings auch Unregelmäßigkeiten möglich, die oft um so verderblicher wüten,  weil sie sich auf eine kindische Schwäche gründen,  wie die Beispiele so vieler morgenländischen und römischen Despoten zeigen; allein da ein verwöhntes  Kind immer doch eher zu bändigen ist als ein blutdürstiger Tiger, so hat uns die Natur mit ihrer mildernden Ordnung zugleich den Weg gezeigt, wie auch wir  durch wachsenden Fleiß das Regellose regeln, das  Unersättlich-Wilde zähmen sollen und zähmen dürfen. Gibt es keine Gegenden voll Drachen mehr,  gegen welche jene Riesen der Vorzeit ausziehen müßten, gegen Menschen selbst haben wir keine zerstörenden Herkuleskräfte nötig. Helden von dieser  Sinnesart mögen auf dem Kaukasus oder in Afrika ihr blutiges Spiel treiben und den Minotaurus suchen,  den sie erlegen; die Gesellschaft, in welcher sie leben, hat das ungezweifelte Recht, alle flammenspeiende  Stiere Geryons selbst zu bekämpfen. Sie leidet, wenn  sie sich ihnen gutwillig zum Raube hingibt, durch  ihre eigne Schuld, wie es die eigne Schuld der Völker  war, daß sie sich gegen das verwüstende Rom nicht  mit aller Macht einer gemeinschaftlichen Verbindung  zur Freiheit der Welt verknüpften.

2. Der Verfolg der Geschichte zeigt, daß mit dem  Wachstum wahrer Humanität auch der zerstörenden Dämonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei, und zwar nach innern Naturgesetzen einer sich aufklärenden Vernunft und Staatskunst.

Je mehr die Vernunft unter den Menschen zunimmt, desto mehr muß man's von Jugend auf einsehen lernen, daß es eine schönere Größe gibt als die  menschenfeindliche Tyrannengröße, daß es besser und selbst schwerer sei, ein Land zu bauen, als es zu verwüsten, Städte einzurichten, als solche zu zerstören.  Die fleißigen Ägypter, die sinnreichen Griechen, die  handelnden Phönicier haben in der Geschichte nicht  nur eine schönere Gestalt, sondern sie genossen auch  während ihres Daseins ein viel angenehmeres und  nützlicheres Leben als die zerstörenden Perser, die  erobernden Römer, die geizigen Karthaginenser. Das  Andenken jener blühet noch in Ruhm, und ihre Wirkung auf Erden ist mit wachsender Kraft unsterblich;  dagegen die Verwüster mit ihrer dämonischen Übermacht nichts anders erreichten, als daß sie auf dem  Schutthaufen ihrer Beute ein üppiges, elendes Volk  wurden und zuletzt selbst den Giftbecher einer ärgern. Vergeltung tranken. Dies war der Fall der Assyrer,  Babylonier, Perser, Römer; selbst den Griechen hat  ihre innere Uneinigkeit sowie in manchen Provinzen  und Städten ihre Üppigkeit mehr als das Schwert der  Feinde geschadet. Da nun diese Grundsätze eine Naturordnung sind, die sich nicht etwa nur durch einige  Fälle der Geschichte als durch zufällige Exempel beweiset, sondern die auf sich selbst, d. i. auf der Natur  der Unterdrückung und einer überstrengten Macht  oder auf den Folgen des Sieges, der Üppigkeit und  dem Hochmut wie auf Gesetzen eines gestörten  Gleichgewichts ruhet und mit dem Lauf der Dinge  ihren gleichewigen Gang hält: warum sollte man  zweifeln müssen, daß diese Naturgesetze nicht auch  wie jede andre erkannt und, je kräftiger sie eingesehen werden, mit der unfehlbaren Gewalt einer Naturwahrheit wirken sollten? Was sich zur mathematischen  Gewißheit und auf einen politischen Kalkül bringen  läßt, muß später oder früher als Wahrheit erkannt  werden; denn an Euklides Sätzen oder am Einmaleins  hat noch niemand gezweifelt.

Selbst unsre kurze Geschichte beweiset es daher  schon klar, daß mit der wachsenden wahren Aufklärung der Völker die menschenfeindlichen, sinnlosen  Zerstörungen derselben sich glücklich vermindert  haben. Seit Roms Untergange ist in Europa kein kultiviertes Reich mehr entstanden, das seine ganze Einrichtung auf Kriege und Eroberungen gebauet hätte;  denn die verheerenden Nationen der mittleren Zeiten  waren rohe, wilde Völker. Je mehr aber auch sie Kultur empfingen und ihr Eigentum liebgewinnen lernten, desto mehr drang sich ihnen unvermerkt, ja oft wider  ihren Willen, der schönere, ruhige Geist des Kunstfleißes, des Ackerbaues, des Handels und der Wissenschaft auf. Man lernte nutzen, ohne zu vernichten,  weil das Vernichtete sich nicht mehr nutzen läßt, und  so ward mit der Zeit, gleichsam durch die Natur der  Sache selbst, ein friedliches Gleichgewicht zwischen  den Völkern, weil nach Jahrhunderten wilder Befehdung es endlich alle einsehen lernten, daß der Zweck,  den jeder wünschte, sich nicht anders erreichen ließe,  als daß sie gemeinschaftlich dazu beitrügen. Selbst  der Gegenstand des scheinbar größesten Eigennutzes,  der Handel, hat keinen andern als diesen Weg nehmen mögen, weil er Ordnung der Natur ist, gegen welche  alle Leidenschaften und Vorurteile am Ende nichts  vermögen. Jede handelnde Nation Europas beklaget  es jetzt und wird es künftig noch mehr beklagen, was  sie einst des Aberglaubens oder des Neides wegen  sinnlos zerstörte. Je mehr die Vernunft zunimmt,  desto mehr muß die erobernde eine handelnde Schiffahrt werden, die auf gegenseitiger Gerechtigkeit und  Schonung, auf einen fortgehenden Wetteifer in über treffendem Kunstfleiße, kurz, auf Humanität und  ihren ewigen Gesetzen ruhet.

Inniges Vergnügen fühlt unsre Seele, wenn sie den  Balsam, der in den Naturgesetzen der Menschheit  liegt, nicht nur empfindet, sondern ihn auch kraft seiner Natur sich unter den Menschen wider ihren Willen ausbreiten und Raum schaffen siehet. Das Vermögen zu fehlen konnte ihnen die Gottheit selbst nicht  nehmen; sie legte es aber in die Natur des menschlichen Fehlers, daß er früher oder später sich als solchen zeigen und dem rechnenden Geschöpf offenbar  werden mußte. Kein kluger Regent Europas verwaltet  seine Provinzen mehr, wie der Perserkönig, ja wie  selbst die Römer solche verwalteten; wenn nicht aus  Menschenliebe, so aus besserer Einsicht der Sache, da mit den Jahrhunderten sich der politische Kalkül gewisser, leichter, klarer gemacht hat. Nur ein Unsinniger würde zu unserer Zeit ägyptische Pyramiden  bauen, und jeder, der ähnliche Nutzlosigkeiten auf führt, wird von aller vernünftigen Welt für sinnlos gehalten, wenn nicht aus Völkerliebe, so aus sparender  Berechnung. Blutige Fechterspiele, grausame Tier kämpfe dulden wir nicht mehr; alle diese wilden Jugendübungen ist das Menschengeschlecht durchgangen und hat endlich einsehen gelernt, daß ihre tolle  Lust der Mühe nicht wert sei. Gleichergestalt bedürfen wir des Drucks armer Römersklaven oder spartanischer Heloten nicht mehr, da unsre Verfassung  durch freie Geschöpfe das leichter zu erreichen weiß,  was jene alten Verfassungen durch menschliche Tiere  gefährlicher und selbst kostbarer erreichten; ja es muß eine Zeit kommen, da wir auf unsern unmenschlichen  Negerhandel ebenso bedaurend zurücksehen werden  als auf die alten Römersklaven oder auf die spartanischen Heloten, wenn nicht aus Menschenliebe, so aus  Berechnung. Kurz, wir haben die Gottheit zu preisen,  daß sie uns bei unsrer fehlbaren schwachen Natur  Vernunft gab, einen ewigen Lichtstrahl aus ihrer  Sonne, dessen Wesen es ist, die Nacht zu vertreiben  und die Gestalten der Dinge, wie sie sind, zu zeigen.

3. Der Fortgang der Künste und Erfindungen  selbst gibt dem Menschengeschlecht wachsende Mittel in die Hand, das einzuschränken oder unschädlich zu machen, was die Natur selbst nicht auszutilgen vermochte.

Es müssen Stürme auf dem Meer sein, und die  Mutter der Dinge selbst konnte sie dem Menschenge schlecht zugut nicht wegräumen; was gab sie aber  ihrem Menschengeschlecht dagegen? Die Schiffskunst. Eben dieser Stürme wegen erfand der Mensch  die tausendfach künstliche Gestalt seines Schiffes,  und so entkommt er nicht nur dem Sturme, sondern  weiß ihm auch Vorteile abzugewinnen und segelt auf  seinen Flügeln.

Verschlagen auf dem Meer, konnte der Irrende  keine Tyndariden anrufen, die ihm erschienen und  rechten Weges ihn leiteten; er erfand sich also selbst  seinen Führer, den Kompaß, und suchte am Himmel  seine Tyndariden, die Sonne, den Mond und die Gestirne. Mit dieser Kunst ausgerüstet, wagt er sich auf  den uferlosen Ozean, bis zu seiner höchsten Höhe, bis zu seiner tiefsten Tiefe.

Das verwüstende Element des Feuers konnte die  Natur dem Menschen nicht nehmen, wenn sie ihm  nicht zugleich die Menschheit selbst rauben wollte;  was gab sie ihm also mittelst des Feuers? Tausendfache Künste; Künste, dies fressende Gift nicht nur unschädlich zu machen und einzuschränken, sondern es  selbst zum mannigfaltigsten Vorteil zu gebrauchen. Nicht anders ist's mit den wütenden Leidenschaften der Menschen, diesen Stürmen auf dem Meer, diesem  verwüstenden Feuerelemente. Eben durch sie und an  ihnen hat unser Geschlecht seine Vernunft geschärft  und tausend Mittel, Regeln und Künste erfunden, sie  nicht nur einzuschränken, sondern selbst zum Besten  zu lenken, wie die ganze Geschichte zeiget. Ein leidenschaftsloses Menschengeschlecht hätte auch seine  Vernunft nie ausgebildet; es läge noch irgend in einer  Troglodytenhöhle.

Der menschenfressende Krieg z.B. war jahrhundertelang ein rohes Räuberhandwerk. Lange übten sich  die Menschen darin voll wilder Leidenschaften; denn  solange es in ihm auf persönliche Stärke, List und  Verschlagenheit ankam, konnten, bei sehr rühmlichen Eigenschaften, nicht anders als zugleich sehr gefährliche Mord- und Raubtugenden genährt werden, wie es  die Kriege der alten, mittleren und selbst einiger  neuen Zeiten reichlich erweisen. An diesem verderblichen Handwerk aber ward, gleichsam wider Willen  der Menschen, die Kriegskunst erfunden, denn die Erfinder sahen nicht ein, daß damit der Grund des Krieges selbst untergraben würde. Je mehr der Streit eine  durchdachte Kunst ward, je mehr insonderheit mancherlei mechanische Erfindungen zu ihm traten, desto  mehr ward die Leidenschaft einzelner Personen und  ihre wilde Stärke unnütz. Als ein totes Geschütz wurden sie jetzt alle dem Gedanken eines Feldherrn, der  Anordnung welliger Befehlshaber unterworfen, und  zuletzt blieb es nur den Landesherren erlaubt, dies gefährliche, kostbare Spiel zu spielen, da in alten Zeiten alle kriegerische Völker beinahe stets in den Waffen  waren. Proben davon sahen wir nicht nur bei  mehreren asiatischen Nationen, sondern auch bei den  Griechen und Römern. Viele Jahrhunderte durch  waren diese fast unverrückt im Schlachtfelde: der  volskische Krieg dauerte 106, der samnitische 71  Jahre; zehn Jahre ward die Stadt Veji wie ein zweites  Troja belagert, und unter den Griechen ist der 28jähri ge verderbliche Peloponnesische Krieg bekannt  genug. Da nun bei allen Kriegen der Tod im Treffen  das geringste Übel ist, hingegen die Verheerungen  und Krankheiten, die ein ziehendes Heer begleiten  oder die eine eingeschlossene Stadt drücken, samt der  räuberischen Unordnung, die sodann in allen Gewerben und Ständen herrscht, das größere Übel sind, das  ein leidenschaftlicher Krieg in tausend schrecklichen  Gestalten mit sich führet, so mögen wir's den Griechen und Römern, vorzüglich aber dem Erfinder des  Pulvers und den Künstlern des Geschützes danken,  daß sie das wildeste Handwerk zu einer Kunst und  neuerlich gar zur höchsten Ehrenkunst gekrönter  Häupter gemacht haben. Seitdem Könige in eigner  Person mit ebenso leidenschafts- als zahllosen Heeren  dies Ehrenspiel treiben, so sind wir, bloß der Ehre des Feldherrn wegen, vor Belagerungen, die 10, oder vor  Kriegen, die 71 Jahre dauern, sicher; zumal die letzten auch, der großen Heere wegen, sich selbst aufheben. Also hat nach einem unabänderlichen Gesetz der  Natur das Übel selbst etwas Gutes erzeuget, indem  die Kriegskunst den Krieg einem Teile nach vertilgt  hat. Auch die Räubereien und Verwüstungen haben  sich durch sie, nicht eben aus Menschenfreundschaft,  sondern der Ehre des Feldherrn wegen, vermindert.  Das Recht des Krieges und das Betragen gegen die  Gefangenen ist ungleich milder worden, als es selbst  bei den Griechen war; an die öffentliche Sicherheit  nicht zu gedenken, die bloß in kriegerischen Staaten  zuerst aufkam. Das ganze römische Reich z.B. war  auf seinen Straßen sicher, solang es der gewaffnete  Adler mit seinen Flügeln deckte; dagegen in Asien  und Afrika, selbst in Griechenland einem Fremdlinge  das Reisen gefährlich ward, weil es diesen Ländern an einem sichernden Allgemeingeist fehlte. So verwandelt sich das Gift in Arznei, sobald es Kunst wird;  einzelne Geschlechter gingen unter, das unsterbliche  Ganze aber überlebt die Schmerzen der verschwindenden Teile und lernt am übel selbst Gutes.

Was von der Kriegskunst galt, muß von der Staatskunst noch mehr gelten; nur ist sie eine schwerere  Kunst, weil sich in ihr das Wohl des ganzen Volks  vereinet. Auch der amerikanische Wilde hat seine  Staatskunst; aber wie eingeschränkt ist sie, da sie  zwar einzelnen Geschlechtern Vorteil bringt, das  ganze Volk aber vor dem Untergange nicht sichert.  Mehrere kleine Nationen haben sich untereinander  aufgerieben; andere sind so dünne geworden, daß im  bösen Konflikt mit den Blattern, dem Branntwein und der Habsucht der Europäer manche derselben wahr scheinlich noch ein gleiches Schicksal erwartet. Je  mehr in Asien und in Europa die Verfassung eines  Staats Kunst ward, desto fester stehet er in sich, desto genauer ward er mit andern zusammengegründet, so  daß einer ohne den andern selbst nicht zu fallen vermag. So steht Sina, so stehet Japan, alte Gebäude, tief unter sich selbst gegründet. Künstlicher schon waren  die Verfassungen Griechenlandes, dessen vornehmste  Republiken jahrhundertelang um ein politisches  Gleichgewicht kämpften. Gemeinschaftliche Gefahren vereinigten sie; und wäre die Vereinigung vollkommen gewesen, so hätte das rüstige Volk dem Philippus und den Römern so glorreich widerstehen mögen, wie es einst dem Darius und Xerxes obgesiegt hatte.  Nur die schlechte Staatskunst aller benachbarten Völker war Roms Vorteil; geteilt wurden sie angegriffen,  geteilt überwunden. Ein gleiches Schicksal hatte  Rom, da seine Staats- und Kriegskunst verfiel; ein  gleiches Schicksal Judäa und Ägypten. Kein Volk  kann untergehen, dessen Staat wohlbestellt ist; gesetzt, daß es auch überwunden wird, wie mit allen seinen Fehlern selbst Sina bezeuget.

Noch augenscheinlicher wird der Nutze einer  durchdachten Kunst, wenn von der innern Haushaltung eines Landes, von seinem Handel, seiner  Rechtspflege, seinen Wissenschaften und Gewerben  die Rede ist; in allen diesen Stücken ist offenbar, daß  die höhere Kunst zugleich der höhere Vorteil sei. Ein  wahrer Kaufmann betrügt nicht, weil Betrug nie bereichert, sowenig als ein wahrer Gelehrter mit falscher Wissenschaft großtut oder ein Rechtsgelehrter, der  den Namen verdient, wissentlich je ungerecht sein  wird, weil alle diese sich damit nicht zu Meistern,  sondern zu Lehrlingen ihrer Kunst bekennten. Ebenso gewiß muß eine Zeit kommen, da auch der Staatsunvernünftige sich seiner Unvernunft schämet und es  nicht minder lächerlich und ungereimt wird, ein tyrannischer Despot zu sein, als es in allen Zeiten für ab scheulich gehalten worden; sobald man nämlich klar  wie der Tag einsieht, daß jede Staatsunvernunft mit  einem falschen Einmaleins rechne und daß, wenn sie  sich damit auch die größesten Summen errechnete, sie hiemit durchaus keinen Vorteil gewinne. Dazu ist nun die Geschichte geschrieben, und es werden sich im  Verfolg derselben die Beweise dieses Satzes klar zeigen. Alle Fehler der Regierungen haben vorausgehen  und sich gleichsam erschöpfen, müssen, damit nach  allen Unordnungen der Mensch endlich lerne, daß die  Wohlfahrt seines Geschlechts nicht auf Willkür, sondern auf einem ihm wesentlichen Naturgesetz, der  Vernunft und Billigkeit, ruhe. Wir gehen jetzt der  Entwicklung desselben entgegen, und die innere Kraft der Wahrheit möge ihrem Vortrage selbst Licht und  Überzeugung geben.

 

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