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Johann Gottfried
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IIFinnen, Letten und PreußenDer finnische Völkerstamm (der aber diesen Namen sowenig als ein Zweig desselben den Namen der Lappen kennt, indem sie sich selbst Suomi nennen) erstreckt sich noch jetzt im äußersten Norden von Europa und an den Küsten der Ostsee bis nach Asien hinein; in frühem Zeiten hat er sich gewiß tiefer hinab und weiter hin verbreitet. Außer den Lappen und Finnen gehören in Europa die Ingern, Esten und Liven zu ihm; weiterhin sind die Syranen, Permier, Wogulen, Wotjaken, Tscheremissen, Mordwinen, die kondischen Ostjaken u. f. seine Verwandte, so wie auch die Ungarn oder Madjaren desselben Völkerstammes sind, wenn man ihre Sprachen vergleicht. [250] Es ist ungewiß, wie weit hinab die Lappen und Finnen einst in Norwegen und Schweden gewohnt haben; das aber ist sicher, daß sie von den skandischen Deutschen immer höher hinauf bis an den nordischen Rand getrieben sind, den sie noch itzt innehaben. An der Ostsee und am Weißen Meer scheinen ihre Stämme am lebendigsten gewesen zu sein, wo sie nebst einigem Tauschhandel auch Seeräuberei trieben; in Permien oder Biarmeland hatte ihr Götze Jumala einen barbarisch-prächtigen Tempel; hier gingen also auch vorzüglich die nordisch-deutschen Abenteurer hin, zu tauschen, zu plündern und Tribut zu lodern. Nirgend indes hat dieser Volksstamm zur Reife einer selbständigen Kultur kommen können, woran wohl nicht seine Fähigkeit, sondern seine üble Lage schuld ist. Sie waren keine Krieger wie die Deutschen; denn auch noch jetzt, nach so langen Jahrhunderten der Unterdrückung, zeigen alle Volkssagen und Lieder der Lappen, Finnen und Esten, daß sie ein sanftes Volk sind. Da nun außerdem ihre Stämme meistens ohne Verbindung und viele derselben ohne politische Verfassung lebten, so konnte beim Herandringen der Völker wohl nichts anders geschehen, als was geschehen ist, nämlich daß die Lappen an den Nordpol hinaufgedrängt, die Finnen, Ingern, Esten u. f. sklavisch unterjocht, die Liven aber fast ganz ausgerottet wurden. Das Schicksal der Völker an der Ostsee macht überhaupt ein trauriges Blatt in der Geschichte der Menschheit. Das einzige Volk, das aus diesem Stamm sich unter die Eroberer gedrängt hat, sind die Ungern oder Madjaren. Wahrscheinlich saßen sie zuerst im Lande der Baschkiren, zwischen der Wolga und dem Jaik; dann stifteten sie ein ungrisches Königreich zwischen dem Schwarzen Meer und der Wolga, das sich zerteilte. Jetzt kamen sie unter die Chazaren, wurden von den Petschenegen geteilt, da sie denn teils an der persischen Grenze das madjarische Reich gründeten, teils in sieben Horden nach Europa gingen und mit den Bulgaren wütende Kriege führten. Von diesen weiter hin gedrängt, rief Kaiser Arnulf sie gegen die Mähren; jetzt stürzten sie aus Pannonien in Mähren, Bayern, Oberitalien und verwüsteten greulich; mit Feuer und Schwert streiften sie in Thüringen, Sachsen, Franken, Hessen, Schwaben, Elsaß bis nach Frankreich und abermals in Italien hinein, zogen vom deutschen Kaiser einen schimpflichen Tribut, bis endlich teils durch die Pest, teils durch die fürchterlichsten Niederlagen ihrer Heere in Sachsen, Schwaben, Westfalen das deutsche Reich vor ihnen sichergestellt und ihr Ungarn selbst sogar zu einem apostolischen Reich wurde. Da sind sie jetzt unter Slawen, Deutschen, Wlachen und andern Völkern der geringere Teil der Landeseinwohner, und nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum finden. Die Litauer, Kuren und Letten an der Ostsee sind von Ungewissem Ursprunge, aller Wahrscheinlichkeit nach indessen auch dahin gedrängt, bis sie nicht weiter gedrängt werden konnten. Ungeachtet der Mischung ihrer Sprache mit andern, hat sie doch einen eignen Charakter und ist wahrscheinlich die Tochter einer uralten Mutter, die vielleicht aus fernen Gegenden her ist. Zwischen den deutschen, slawischen und finnischen Völkern konnte sich der friedliche lettische Stamm nirgend weit ausbreiten, noch weniger verfeinern, und wurde zuletzt nur, wie seine Nachbarn, die Preußen, am meisten durch die Gewalttätigkeiten merkwürdig, die allen diesen Küstenbewohnern teils von den neubekehrten Polen, teils vom Deutschen Orden und denen, die ihm zu Hülfe kamen, widerfuhren. [251] Die Menschheit schaudert vor dem Blut, das hier vergossen wurde in langen wilden Kriegen, bis die alten Preußen fast gänzlich ausgerottet, Kuren und Letten hingegen in eine Knechtschaft gebracht wurden, unter deren Joch sie noch jetzt schmachten. Vielleicht verfließen Jahrhunderte, ehe es von ihnen genommen wird und man zum Ersatz der Abscheulichkeiten, mit welchen man diesen ruhigen Völkern ihr Land und ihre Freiheit raubte, sie aus Menschlichkeit zum Genuß und eignen Gebrauch einer bessern Freiheit neu bildet. Lange gnug hat sich unser Blick bei verdrängten oder unterjochten und ausgerotteten Völkern verweilt; lasst uns jetzt die sehen, die sie verdrängten und unterjochten. |
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Wolfgang
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