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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zwanzigstes Buch

IV

Kultur der Vernunft in Europa

In den frühesten Zeiten des Christentums bemerkten wir zahlreiche Sekten, die durch eine sogenannte morgenländische Philosophie das System der Religion erklären, anwenden und läutern wollten; sie wurden als Ketzer unterdrückt und verfolgt. Am tiefsten schien die Lehre des Manes einzugreifen, die mit der alten persischen Philosophie nach Zoroasters ( Zerduscht) Weise zugleich ein Institut sittlicher Einrichtung verband und als eine tätige Erzieherin ihrer Gemeinen wirken wollte. Sie wurde noch mehr verfolgt als theoretische Ketzereien und rettete sich ostwärts in die tibetanische, westlich in die armenische Gebirge, hie und da auch in europäische Länder, wo sie allenthalben ihr asiatisches Schicksal vorfand. Längst glaubte man sie unterdrückt, bis sie in den dunkelsten Zeiten aus einer Gegend, aus welcher man's am wenigsten vermutete, wie auf ein gegebnes Zeichen hervorbrach und auf einmal in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland einen entsetzlichen Aufruhr machte. Aus der Bulgarei kam sie hervor, einer barbarischen Provinz, um welche sich die griechische und römische Kirche lange gezankt hatte; da war unsichtbar ihr Oberhaupt, das, anders als der römische Papst, Christo in Armut ähnlich zu sein vorgab. Geheime Missionen gingen in alle Länder und zogen den gemeinen Mann, insonderheit fleißige Handwerker und das unterdrückte Landvolk, aber auch reiche Leute, Grafen und Edle, besonders die Frauen, mit einer Macht an sich, die auch der ärgsten Verfolgung und dem Tode trotzte. Ihre stille Lehre, die lauter menschliche Tugenden, insonderheit Fleiß, Keuschheit und Eingezogenheit predigte und sich ein Ziel der Vollkommenheit vorsteckte, zu welchem die Gemeine mit strengen Unterschieden geführt werden sollte, war das lauteste Feldgeschrei gegen die herrschenden Greuel der Kirche. Besonders griff sie die Sitten der Geistlichen, ihre Reichtümer, Herrschsucht und Ausgelassenheit an, verwarf die abergläubigen Lehren und Gebräuche, deren unmoralische Zauberkraft sie leugnete und statt aller derselben einen einfachen Segen durch Auflegung der Hände und einen Bund der Glieder unter ihren Vorstehern, den Vollkommenen, anerkannte. Die Verwandlung des Brots, Kreuz, Messe, Fegefeuer, die Fürbitte der Heiligen, die einwohnenden Vorzüge der römischen Priesterschaft waren ihnen Menschensatzungen und Gedichte; über den Inhalt der Schrift, insonderheit des Alten Testaments, urteilten sie sehr frei und führten alles auf Armut, Reinheit des Gemütes und Körpers, auf stillen Fleiß, Sanftmut und Gutherzigkeit zurück, daher sie auch in mehreren Sekten bons hommes, gute Leute, genannt wurden. Bei den ältesten derselben ist der morgenländische Manichäismus unverkennbar; sie gingen vom Streit des Lichtes und der Finsternis aus, hielten die Materie für den Ursprung der Sünde und hatten insonderheit über die sinnliche Wohllust harte Begriffe; nach und nach läuterte sich ihr System. Aus Manichäern, die man auch Katharer (Ketzer), Patarener, Publikaner, Passagieri und nach Lokalumständen in jedem Lande anders nannte, formten einzelne Lehrer, insonderheit Heinrich und Peter de Bruis, unanstößigere Parteien, bis die Waldenser endlich fast alles das lehrten und mit großem Mut behaupteten, womit einige Jahrhunderte später der Protestantismus auftrat; die früheren Sekten hingegen scheinen den Wiedertäufern, Mennoniten, Böhmisten und andern Parteien der neuen Zeit ähnlich. Alle breiteten sich mit so stiller Kraft, mit so überredendem Nachdruck aus, daß in ganzen Provinzen das Ansehen des geistlichen Standes äußerst fiel, zumal dieser ihnen auch im Disputieren nicht widerstehen konnte. Insonderheit waren die Gegenden der provenzalischen Sprache der Garten ihrer Blüte; sie übersetzten das Neue Testament (ein damals unerhörtes Unternehmen) in diese Sprache, gaben ihre Regeln der Vollkommenheit in provenzalischen Versen und wurden seit Einführung des römischen Christentums die ersten Erzieher und Bildner des Volks in seiner Landessprache. [308]

Dafür aber verfolgte man sie auch, wie man wußte und konnte. Schon im Anfange des eilften Jahrhunderts wurden in der Mitte von Frankreich, zu Orleans, Manichäer, unter ihnen selbst der Beichtvater der Königin, verbrannt; sie wollten nicht widerrufen und starben auf ihr Bekenntnis. Nicht gelinder verfuhr man mit ihnen in allen Ländern, wo die Geistlichkeit Macht üben konnte, z.B. in Italien und Süddeutschland; im südlichen Frankreich und in den Niederlanden, wo die Obrigkeit sie als fleißige Leute schützte, lebten sie lange ruhig, bis endlich nach mehreren Disputationen und gehaltenen Konzilien, als der Zorn der Geistlichen aufs höchste gebracht war, das Inquisitionsgericht gegen sie erkannt wurde und, weil ihr Beschützer, Graf Raimund von Toulouse, ein wahrer Märtyrer für die gute Sache der Menschheit, sie nicht verlassen wollte, jener fürchterliche Kreuzzug mit einer Summe der Grausamkeiten auf sie losbrach. Die wider sie gestifteten Ketzerprediger, die Dominikaner, waren ihre abscheulichen Richter, Simon von Montfort, der Anführer des Kreuzzuges, der härteste Unmensch, den die Erde kannte; und aus diesem Winkel des südlichen Frankreichs, wo die armen bons hommes zwei Jahrhunderte lang verborgen gewesen waren, zog sich das Blutgericht gegen alle Ketzer nach Spanien, Italien und in die meisten christkatholischen Länder. Daher die Verwirrung der verschiedensten Sekten der mittleren Zeit, weil sie diesem Blutgericht und dem Verfolgungsgeist der Klerisei alle gleich galten; daher aber auch ihre Standhaftigkeit und stille Verbreitung, also daß nach drei- bis fünfhundert Jahren die Reformation der Protestanten in allen Ländern noch denselben Samen fand und ihn nur neu belebte. Wiclef in England wirkte auf die Lollarden, wie Huß auf seine Böhmen wirkte; denn Böhmen, das mit den Bulgarn eine Sprache hatte, war längst mit Sekten dieser frommen Art erfüllt gewesen. Der einmal gepflanzte Keim der Wahrheit und des entschiednen Hasses gegen Aberglauben, Menschendienst und das übermütige, ungeistliche Klerikal der Kirche war nicht mehr zu zertreten; die Franziskaner und andere Orden, die, als ein Bild der Armut und Nachahmung Christi jenen Sekten entgegengestellt, sie stürzen und aufwiegen sollten, erreichten selbst beim Volke diesen Zweck so wenig, daß sie ihm vielmehr ein neues Ärgernis wurden. Also ging auch hier der zukünftige Sturz der größesten Tyrannin, der Hierarchie, vom ärmsten Anfange, der Einfalt und Herzlichkeit, aus; zwar nicht ohne Vorurteile und Irrtümer, jedoch sprachen diese einfältigen bons hommes in manchem freier, als nachher selbst manche der Reformatoren tun mochten.

Was einenteils der gesunde Menschenverstand tat, wurde auf der andern Seite von der spekulierenden Vernunft zwar langsamer und feiner, doch aber nicht unwirksam befördert. In den Klosterschulen lernte man über des h. Augustinus und Aristoteles Dialektik disputieren und gewöhnte sich, diese Kunst als ein gelehrtes Turnier- und Ritterspiel zu treiben. Unbillig ist der Tadel, den man auf diese Disputierfreiheit als auf eine gar unnütze Übung der mittleren Zeiten wirft; denn eben damals war diese Freiheit unschätzbar. Disputierend konnte manches in Zweifel gezogen, durch Gründe oder Gegengründe gesichtet werden, zu dessen positiver oder praktischer Bezweifelung die Zeit noch lange nicht da war. Fing nicht die Reformation selbst noch damit an, daß man sich hinter Disputiergesetze zog und mit ihrer Freiheit schützte? Als aus den Klosterschulen nun gar Universitäten, d. i. mit päpst- und kaiserlicher Freiheit begabte Kampfund Ritterplätze wurden, da war ein weites Feld eröffnet, die Sprache, die Geistesgegenwart, den Witz und Scharfsinn gelehrter Streiter zu üben und zu schärfen. Da ist kein Artikel der Theologie, keine Materie der Metaphysik, die nicht die subtilsten Fragen, Zwiste und Unterscheidungen veranlaßt hatte und mit der Zeit zum feinsten Gewebe ausgesponnen wäre. Dies Spinnengewebe hatte seiner Natur nach weniger Bestandheit als jener grobe Bau positiver Traditionen, an welche man blindlings glauben sollte; es konnte, von der menschlichen Vernunft gewebt, als ihr eigenes Werk von ihr auch aufgelöst und zerstört werden. Dank also jedem feinen Disputiergeist der mittleren Zeiten und jedem Regenten, der die gelehrten Schlösser dieser Gespinste schuf! Wenn mancher der Disputanten aus Neid oder seiner Unvorsichtigkeit wegen verfolgt oder gar nach seinem Tode aus dem geweihten Boden ausgegraben wurde, so ging doch die Kunst im ganzen fort und hat die Sprachvernunft der Europäer sehr geschärft.

Wie das südliche Frankreich der erste daurende Schauplatz einer aufstrebenden Volksreligion war, so wurde sein nördlicher Teil, zumal in der berühmten Pariser Schule, der Ritterplatz der Spekulation und Scholastik. Paschasius und Ratramnus hatten hier gelebt, Scotus Erigena in Frankreich Aufenthalt und Gunst gefunden, Lanfranc und Berengar, Anselm, Abälard, Petrus Lombardus, Thomas von Aquino, Bonaventura, Occam, Duns Scotus, die Morgensterne und Sonnen der scholastischen Philosophie, lehrten in Frankreich entweder zeitlebens oder in ihren besten Jahren, und aus allen Ländern flog alles nach Paris, diese höchste Weisheit des damaligen Zeitalters zu lernen. Wer sich in ihr berühmt gemacht hatte, gelangte zu Ehrenstellen im Staat und in der Kirche; denn auch von Staatsangelegenheiten war die Scholastik so wenig ausgeschlossen, daß jener Occam, der Philipp den Schönen und Ludwig von Bayern gegen die Päpste verteidigte, zum Kaiser sagen konnte: »Beschütze du mich mit dem Schwert; mit der Feder will ich dich schützen.« Daß sich die französische Sprache vor andern zu einer philosophischen Präzision gebildet, kommt unter andern auch davon her, daß in ihrem Vaterlande so lange und viel, so leicht und fein disputiert worden ist; denn die lateinische Sprache war mit ihr verwandt, und die Bildung abstrakter Begriffe ging leicht in sie über.

Daß die Übersetzung der Schriften des Aristoteles zur feinen Scholastik mehr als alles beitrug, ist schon aus dem Ansehen klar, das sich dieser griechische Weltweise in allen Schulen Europas ein halbes Jahrtausend hin zu erhalten wußte; die Ursache aber, weswegen man mit so heftiger Neigung auf diese Schriften fiel und sie meistens von den Arabern entlehnte, liegt nicht in den Kreuzzügen, sondern im Triebe des Jahrhunderts und in dessen Denkart. Der früheste Reiz, den die Wissenschaft der Araber für Europa hatte, waren ihre mathematische Kunstwerke samt den Geheimnissen, die man bei ihnen zur Erhaltung und Verlängerung des Lebens, zum Gewinn unermeßlicher Reichtümer, ja zur Kenntnis des waltenden Schicksals selbst zu finden hoffte. Man suchte den Stein der Weisen, das Elixier der Unsterblichkeit; in den Sternen las man zukünftige Dinge, und die mathematischen Werkzeuge selbst schienen Zauberinstrumente. So ging man als Kind dem Wunderbaren nach, am einst statt seiner das Wahre zu finden, und unternahm dazu die beschwerlichsten Reisen. Schon im eilften Jahrhundert hatte Konstantin der Afrikaner von Karthago aus 39 Jahre lang den Orient durchstreift, um die Geheimnisse der Araber in Babylonien, Indien, Ägypten zu sammlen; er kam zuletzt nach Europa und übersetzte als Mönch zu Monte Cassino aus dem Griechischen und Arabischen viele insonderheit zur Arzneikunst dienende Schriften. Sie kamen, so schlecht die Übersetzung sein mochte, in vieler Hände, und durch die arabische Kunst hob sich zu Salerno die erste Schule der Arzneiwissenschaft mächtig empor. Aus Frankreich und England gingen die Wißbegierige nach Spanien, um den Unterricht der berühmtesten arabischen Lehrer selbst zu genießen; sie kamen zurück, wurden für Zauberer angesehen, wie sie sich denn auch selbst mancher geheimen Künste als Zaubereien rühmten. Dadurch gelangten Mathematik, Chemie, Arzneikunde teils in Schriften, teils in Entdeckungen und Proben der Ausübung auf die berühmtesten Schulen Europas. Ohne Araber wäre kein Gerbert, kein Albertus Magnus, Arnold von Villa Nova, kein Roger Baco, Raimund Lull u. a. entstanden; entweder hatten sie in Spanien von ihnen selbst oder aus ihren Schriften gelernt. Selbst Kaiser Friedrich II., der zur Übersetzung arabischer Schriften und zum Aufleben jeder Wissenschaft unermüdlich beitrug, liebte diese nicht ohne Aberglauben. Jahrhundertelang erhielt sich teils die Neigung zu reisen, teils die Sage von Reisen nach Spanien, Afrika und dem Orient, wo von stillen Weisen die herrlichsten Geheimnisse der Natur zu erlernen wären; manche geheime Orden, große Zünfte fahrender Scholastiker sind daraus entstanden; ja die ganze Gestalt der philosophischen und mathematischen Wissenschaften bis über das Jahrhundert der Reformation hinaus verrät diesen arabischen Ursprung.

Kein Wunder, daß sich an eine solche Philosophie die Mystik anschloß, die sich selbst an ihr zu einem der feinsten Systeme beschaulicher Vollkommenheit gebildet. Schon in der ersten christlichen Kirche war aus der neuplatonischen Philosophie in mehrere Sekten Mystik gegangen; durch die Übersetzung des falschen Dionysius Areopagita kam sie nach Okzident in die Klöster; manche Sekten der Manichäer nahmen an ihr teil, und sie gelangte endlich, mit und ohne Scholastik, unter Mönchen und Nonnen zu einer Gestalt, in welcher sich bald die spitzfündigste Grübelei der Vernunft, bald die zarteste Feinheit des liebenden Herzens offenbart. Auch sie hat ihr Gutes bewirkt, indem sie die Gemüter vom bloßen Cerimoniendienst abzog, sie zur Einkehr in sich selbst gewöhnte und mit geistiger Speise erquickte. Einsamen, der Welt entnommenen, schmachtenden Seelen gab sie außer dieser Welt Trost und Übung, wie sie denn auch durch eine Art geistlichen Romans die Empfindungen selbst verfeinte. Sie war eine Vorläuferin der Metaphysik des Herzens, wie die Scholastik eine Vorarbeiterin der Vernunft war, und beide hielten einander die Waage. Glücklich, daß die Zeilen beinahe vorbei sind, in welchen dies Opium Arznei war und leider sein mußte. [309]

Die Wissenschaft der Rechte endlich, diese praktische Philosophie des Gefühls der Billigkeit und des gesunden Verstandes, hat, da sie mit neuem Licht zu scheinen anfing, mehr als Mystik und Spekulation zum Wohl Europas beigetragen und die Rechte der Gesellschaft fester gegründet. In Zeiten ehrlicher Einfalt bedarf man vieler geschriebenen Gesetze nicht, und die rohen deutschen Völker sträubeten sich mit Recht gegen die Spitzfündigkeit römischer Sachführer; in Ländern anderer polizierten, zum Teil verdorbenen Völker wurden ihnen nicht nur eigne geschriebene Gesetze, sondern bald auch ein Auszug des römischen Rechts unentbehrlich. Und da dieser gegen eine fortgehende, mit jedem Jahrhundert wachsende päpstliche Gesetzgebung zuletzt nicht hinreichte, so war es gut, daß man auch das ganze Korpus der römischen Rechte hervorzog, damit sich der Verstand und das Urteil erklärender und tätiger Männer an ihnen übte. Nicht ohne Ursach empfahlen die Kaiser dies Studium ihren zumal italienischen hohen Schulen; denn ihnen wurde's eine Rüstkammer gegen den Papst; auch hatten alle entstehende Freistädte dasselbe Interesse, es gegen Papst, Kaiser und ihre kleinen Tyrannen zu gebrauchen. Unglaublich also vermehrte sich die Zahl der Rechtsgelehrten; sie waren, als gelehrte Ritter, als Verfechter der Freiheit und des Eigentums der Völker, an Höfen, in Städten und auf Lehrstühlen im höchsten Ansehen, und das vielbesuchte Bologna wurde durch sie die gelehrte Stadt. Was Frankreich in der Scholastik war, wurde Italien durch Emporbringung der Rechte: das altrömische und das kanonische Recht wetteiferten miteinander; mehrere Päpste selbst waren die rechtsgelehrtesten Männer. Schade, daß die Erweckung dieser Wissenschaft noch auf Zeiten traf, in welchen man die Quellen unrein fand und den Geist des alten römischen Volks nur durch einen trüben Nebel entdeckte. Schade, daß die grübelnde Scholastik sich auch dieser praktischen Wissenschaft anmaßte und die Aussprüche der verständigsten Männer zu einem verfänglichen Wortgespinst machte. Schade endlich, daß man ein Hülfsstudium, eine Übung der Urteilskraft nach dem Muster der größesten Verstandesmänner des Altertums, zur positiven Norm, zu einer Bibel der Gesetze in allen, auch den neuesten und unbestimmtesten Fällen annahm. Damit wurde jener Geist der Schikane eingeführt, der den Charakter fast aller europäischer Nationalgesetzgebungen mit der Zeit beinahe ausgelöscht hätte. Barbarische Büchergelehrsamkeit trat in die Stelle lebendiger Sachkenntnis; der Rechtsgang wurde ein Labyrinth von Förmlichkeiten und Wortgrübeleien; statt eines edeln Richtersinnes wurde der Scharfsinn der Menschen zu Kunstgriffen geschärft, die Sprache des Rechts und der Gesetze fremde und verwirrt gemacht, ja endlich mit der siegenden Gewalt der Oberherren ein falsches Regentenrecht über alles begünstigt. Die Folgen davon haben auf lange Zeiten gewirkt.

Traurig wird der Anblick, wenn man den Zustand des in Europa wiedererwachenden Geistes mit einigen altern Zeiten und Völkern vergleicht. Aus einer rohen und dumpfen Barbarei, unter dem Druck geistund weltlicher Herrschaft geht alles Gute furchtsam hervor; hier wird das beste Samenkorn auf hartem Wege zertreten oder von Raubvögeln geholet; dort darf es sich unter Dornen nur mühsam emporarbeiten und erstickt oder verdorrt, weil ihm der wohltätige Boden alter Einfalt und Güte fehlt. Die erste Volksreligion kommt unter verfolgten, zum Teil schwärmenden Ketzern, die Philosophie auf Hörsälen streitender Dialektiker, die nützlichsten Wissenschaften als Zauberei und Aberglaube, die Lenkung menschlicher Empfindungen als Mystik, eine bessere Staatsverfassung als ein abgetragener, geflickter Mantel einer längst verlebten, ganz ungleichartigen Gesetzgebung zum Vorschein; hiedurch soll Europa sich aus dem verworrensten Zustande hervorheben und neu bilden. Was indessen dem Boden der Kultur an lockerer Tiefe, den Hülfsmitteln und Werkzeugen an Brauchbarkeit, der Luft an Heiterkeit und Freiheit entging, ersetzt vielleicht der Umfang des Gefildes, das bearbeitet, der Wert der Pflanze, die erzogen werden sollte. Kein Athen oder Sparta, Europa soll hier gebildet werden; nicht zur Kalokagathie eines griechischen Weisen oder Künstlers, sondern zu einer Humanität und Vernunft, die mit der Zeit den Erdball umfaßte. Lasst uns sehen, was dazu für Veranstaltungen gemacht, was für Entdeckungen ins Dunkel der Zeiten hingestreut wurden, damit sie die Folgezeit reifte.

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