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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zwanzigstes Buch

V

Anstalten und Entdeckungen in Europa

1. Die Städte sind in Europa gleichsam stehende Heerlager der Kultur, Werkstätten des Fleißes und der Anfang einer bessern Staatshaushaltung geworden, ohne welche dies Land noch jetzt eine Wüste wäre. In allen Ländern des römischen Gebiets erhielt sich in und mit ihnen ein Teil der römischen Künste, hier mehr, dort minder; in Gegenden, die Rom nicht besessen hatte, wurden sie Vormauern gegen den Andrang neuer Barbaren: Freistätten der Menschen, des Handels, der Künste und Gewerke. Ewiger Dank den Regenten, die sie errichteten, begabten und schirmten, denn mit ihnen gründeten sich Verfassungen, die dem ersten Hauch eines Gemeingeistes Raum gaben; es schufen sich aristokratisch-demokratische Körper, deren Glieder gegen- und übereinander wachten, sich oft befeindeten und bekämpften, eben dadurch aber gemeinschaftliche Sicherheit, wetteifernden Fleiß und ein fortgehendes Streben nicht anders als befördern konnten. Innerhalb der Mauer einer Stadt war auf einen kleinen Raum alles zusammengedrängt, was nach damaliger Zeit Erfindung, Arbeitsamkeit, Bürgerfreiheit, Haushaltung, Polizei und Ordnung wecken und gestalten konnte; die Gesetze mancher Städte sind Muster bürgerlicher Weisheit. Edle sowohl als Gemeine genossen durch sie des ersten Namens gemeinschaftlicher Freiheit, des Bürgerrechtes. In Italien entstanden Republiken, die durch ihren Handel weiter langten, als Athen und Sparta je gelangt hatten; diesseit der Alpen gingen nicht nur einzelne Städte durch Fleiß und Handel hervor, sondern es knüpften sich auch Bündnisse derselben, ja zuletzt ein Handelsstaat zusammen, der über das Schwarze, Mittelländische, Atlantische Meer, über die Nordund Ostsee reichte. In Deutschland und den Niederlanden, in den nordischen Reichen, Polen, Preußen, Ruß- lind Livland, lagen diese Städte, deren Fürstin Lübeck war, und die größesten Handelsörter in England, Frankreich, Portugal, Spanien und Italien gesellten sich zu ihnen: vielleicht der wirksamste Bund, der je in der Welt gewesen. Er hat Europa mehr zu einem Gemeinwesen gemacht als alle Kreuzfahrten und römische Gebräuche; denn über Religions- und Nationalunterschiede ging er hinaus und gründete die Verbindung der Staaten auf gegenseitigen Nutz, auf wetteifernden Fleiß, auf Redlichkeit und Ordnung. Städte haben vollführt, was Regenten, Priester und Edle nicht vollführen konnten und mochten: sie schufen ein gemeinschaftlich wirkendes Europa.

2. Die Zünfte in den Städten, so lästig sie oft der Obrigkeit, ja der wachsenden Kunst wurden, waren als kleine Gemeinwesen, als verbündete Körper, wo jeder für alle, alle für jeden standen, zu Erhaltung redlichen Gewerbes, zu besserer Bearbeitung der Künste, endlich zur Schätzung und Ehre des Künstlers selbst damals unentbehrlich. Durch sie ist Europa die Verarbeiterin aller Erzeugnisse der Welt worden und hat sich dadurch, als der kleinste und ärmste Weltteil, die Übermacht über alle Weltteile erworben. Seinem Fleiß ist es Europa schuldig, daß aus Wolle und Flachs, aus Hanf und Seide, aus Haaren und Häuten, aus Leim und Erden, aus Steinen, Metallen, Pflanzen, Säften und Farben, aus Asche, Salzen, Lumpen und Unrat Wunderdinge hervorgebracht sind, die wiederum als Mittel zu andern Wunderdingen dienten und dienen werden. Ist die Geschichte der Erfindungen das größeste Lob des menschlichen Geistes, so sind Zünfte und Gilden die Schulen derselben gewesen, indem durch Vereinzelung der Künste und regelmäßige Ordnung des Erlernens, selbst durch den Wetteifer mehrerer gegeneinander und durch die liebe Armut Dinge hervorgebracht sind, die die Gunst der Regenten und des Staats kaum kannte, selten beförderte oder belohnte, fast nimmer aber erweckte. Im Schatten eines friedlichen Stadtregiments gingen sie durch Zucht und Ordnung hervor; die sinnreichsten Künste entstanden aus Handarbeiten, aus Gewerken, deren Gewand sie, zumal diesseit der Alpen, nicht zu ihrem Schaden lange Zeit an sich getragen haben. Lasst uns also auch jene Förmlichkeiten und Lehrstaffeln jeder solchen praktischen Ordnung nicht verlachen oder bemitleiden; an ihnen erhielt sich das Wesen der Kunst und die Gemeinehre der Künstler. Der Mönch und Ritter bedorfte der Lehrgrade weit minder als der tätige Arbeiter, bei welchem die ganze Genossenschaft gleichsam den Wert seiner Arbeit verbürgte; denn allem, was Kunst ist, steht nichts so sehr als Pfuscherei, Mangel des Gefühls an Meisterehre entgegen; mit diesem geht die Kunst selbst zugrunde.

Ehrwürdig sein uns also die Meisterwerke der mittleren Zeit, die vom Verdienst der Städte um alles, was Kunst und Gewerb ist, zeugen. Die gotische Baukunst wäre nie zu ihrer Blüte gelangt, wenn nicht Republiken und reiche Handelsstädte mit Domkirchen und Rathäusern so gewetteifert hätten wie einst die Städte der Griechen mit Bildsäulen und Tempeln. In jeder derselben bemerken wir, woher ihr Geschmack Muster nahm und wohin sich damals ihr Verkehr wandte; Venedig und Pisa haben in ihren ältesten Gebäuden eine andere Bauart als Florenz oder Mailand. Die Städte diesseit des Gebirges folgten diesen oder andern Mustern; im ganzen aber wird die bessere gotische Baukunst am meisten aus der Verfassung der Städte und dem Geist der Zeiten erklärbar. Denn wie Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie; auch auswärts gesehene Muster können sie nur nach ihrer Art anwenden, da jeder Vogel nach Gestalt und Lebensweise sein Nest baut. An Klöstern und Ritterkastellen wäre die kühnste und zierlichste gotische Baukunst nie geworden; sie ist das Prachteigentum der öffentlichen Gemeine. Desgleichen tragen die schätzbarsten Kunstwerke der mittlern Zeit in Metallen, Elfenbein oder auf Glas, Holz, in Teppichen und Kleidern das Ehrenschild der Geschlechter, der Gemeinheiten und Städte, weshalb sie auch meistens dauernden Wert in sich haben, und sind mit Recht ein unveräußerliches Besitztum der Städte und Geschlechter. So schrieb der Bürgerfleiß auch Chroniken auf, in welchen freilich dem Schreibenden sein Haus, sein Geschlecht, seine Zunft und Stadt die ganze Welt ist; desto inniger aber nimmt er mit Geist und Herz an ihnen Anteil, und wohl den Ländern, deren Geschichte aus vielen dergleichen und nicht aus Mönchschroniken hervorgeht. Auch die römische Rechtsgelehrsamkeit ist zuerst durch die Ratgeber der Städte kräftig und weise beschränkt worden; sonst würde sie die besten Statuten und Rechte der Völker zuletzt verdrängt haben.

3. Die Universitäten waren gelehrte Städte und Zünfte; sie wurden mit allen Rechten derselben, als Gemeinwesen, eingeführt und teilen die Verdienste mit ihnen. Nicht als Schulen, sondern als politische Körper schwächten sie den rohen Stolz des Adels, unterstützten die Sache der Regenten gegen die Anmaßungen des Papstes und öffneten statt des ausschließenden Klerus einem eignen gelehrten Stande zu Staatsverdiensten und Ritterehren den Weg. Nie sind vielleicht Gelehrte mehr geachtet worden als in den Zeiten, da die Dämmerung der Wissenschaften anbrach; man sähe den unentbehrlichen Wert eines Gutes, das man so lange verachtet hatte, und indem eine Partei das Licht scheute, nahm die andere an der aufgehenden Morgenröte desto mehr Anteil.

Universitäten waren Festungen und Bollwerke der Wissenschaft gegen die streitende Barbarei des Kirchendespotismus; einen halb unerkannten Schatz bewahrten sie wenigstens für bessere Zeiten. Nach Theoderich, Karl dem Großen und Alfred wollen wir also vorzüglich die Asche Kaiser Friedrichs des Zweiten ehren, der, bei zehn andern Verdiensten, auch Universitäten in jenen Gang brachte, in welchem sie sich zeither, lange nach dem Muster der parisischen Schule, fortgebildet haben. Auch in diesen Anstalten ist Deutschland gleichsam der Mittelpunkt von Europa geworden; in ihm gewannen die Rüstkammern und Vorratshäuser der Wissenschaften nicht nur die festeste Gestalt, sondern auch den größesten innern Reichtum.

4. Endlich nennen wir nur einige Entdeckungen, die, in Ausübung gebracht, die mächtigsten Anstalten für die Zukunft wurden. Die Magnetnadel, eine Leiterin der Schiffahrt, kam wahrscheinlich durch die Araber nach Europa und durch die Amalfitaner bei ihrem frühen Handelsverkehr mit jenen zuerst in Gebrauch; mit ihr war den Europäern gleichsam die Welt gegeben. Frühe schon wagten sich die Genuesen das Atlantische Meer hinunter; nachher besaßen die Portugiesen nicht vergeblich die westlichsten Küsten der Alten Welt. Sie suchten und fanden den Weg um Afrika und veränderten damit den ganzen indischen Handel, bis ein anderer Genuese die zweite Halbkugel entdeckte und damit alle Verhältnisse unseres Weltteils umformte. Das kleine Werkzeug dieser Entdeckungen kam mit dem Anbruch der Wissenschaften nach Europa.

Das Glas, eine frühe Ware der Asiaten, die man einst mit Gold aufwog, ist in den Händen der Europäer mehr als Gold worden. War es Salvino oder ein anderer, der die erste Brille schliff, er begann damit ein Werkzeug, das einst Millionen himmlischer Welten entdecken, die Zeit und Schiffahrt ordnen, ja überhaupt die größeste Wissenschaft befördern sollte, deren sich der menschliche Geist rühmt, über die Eigenschaften des Lichts und beinahe jedes Naturreiches sann schon Roger Baco, der Franziskanermönch, in seiner Zelle wunderbare Dinge aus, die ihm in seinem Orden mit Haß und Gefängnis belohnt, in hellem Zelten aber von andern glücklicher verfolgt wurden. Der erste Morgenstrahl des Lichts in der Seele dieses bewundernswürdigen Mannes zeigte ihm eine neue Welt am Himmel und auf Erden.

Das Schießpulver, ein mörderisches und dennoch im ganzen wohltätiges Werkzeug, kam auch durch die Araber, entweder schon im Gebrauch oder wenigstens in Schriften, nach Europa. Hie und da scheint es aus diesen von mehreren erfunden zu sein und wurde nur langsam angewandt; denn es änderte die ganze Art des Krieges. Unglaublich viel hängt im neuen Zustande von Europa von dieser Erfindung ab, die den Rittergeist mehr als alle Konzilien besiegt, die Gewalt der Regenten mehr als alle Volksversammlungen befördert, dem blinden Metzeln persönlich erbitterter Heere gesteuert und der Kriegesart, die sie hervorbrachte, auch selbst Schranken gesetzt hat. Sie und andere chemische Erfindungen, vor allen des mörderischen Branntweins, der durch die Araber als Arznei nach Europa kam und sich als Gift nachher auf die weite Erde verbreitet hat, machen in der Geschichte unseres Geschlechts Epochen.

Ebenso das Papier, aus Lumpen bereitet, und die Vorspiele der Buchdruckerei in Spielkarten und andern Abdrücken unbeweglicher Charaktere. Zu jenem gaben wahrscheinlich die Araber mit dem Baumwollen- und Seidenpapier, das sie aus Asien brachten, Anlaß; die letztgenannte Kunst ging in langsamen Schritten von einem Versuche zum andern fort, bis aus Holzschnitten die Kupferstecher- und Buchdruckerkunst mit der größesten Wirkung für unsern ganzen Weltteil wurden. Die Rechnungsziffern der Araber, die musikalischen Noten, die Guido von Arezzo erfand, die Uhren, die gleichfalls aus Asien kamen, die Ölmalerei, eine alte deutsche Erfindung, und was sonst hie und da an nützlichen Werkzeugen noch vor dem Anbruch der Wissenschaften ausgedacht oder angenommen und nachgeahmt worden, wurde im großen Treibhause des europäischen Kunstfleißes fast immer ein Samenkorn neuer Dinge und Begebenheiten für die Zukunft.

 

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