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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort

 

Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort

Herr Dr. Heinroth in seiner »Anthropologie«, einem Werke, zu dem wir mehrmals zurückkommen werden, spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will: daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei; welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will.

Zu was für Betrachtungen jenes einzige Wort, begleitet von solcher Billigung, mich angeregt, mögen folgende wenige Blätter aussprechen, die ich dem teilnehmenden Leser empfehle, wenn er vorher, Seite 387 genannten Buches, mit dem Ausführlichern sich bekannt gemacht hat.

In dem gegenwärtigen wie in den früheren Heften habe ich die Absicht verfolgt: auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren. Hiezu wird besonders ein älterer Aufsatz: »Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt«, dienlich gefunden werden.

Hiebei bekenn ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: »Erkenne dich selbst!« immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.

Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen. Ich habe daher in reiferen Jahren große Aufmerksamkeit gehegt, inwiefern andere mich wohl erkennen möchten, damit ich in und an ihnen, wie an so viel Spiegeln, über mich selbst und über mein Inneres deutlicher werden könnte.

Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist ihnen verhaßt, sie verwerfen die Zwecke, nach welchen mein Tun gerichtet ist, und die Mittel dazu achten sie für ebensoviel falsches Bestreben. Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ist's, worauf im Leben alles ankommt; von Freunden aber laß ich mich ebensogern bedingen als ins Unendliche hinweisen, stets merk ich auf sie mit reinem Zutrauen zu wahrhafter Erbauung.

Was nun von meinem gegenständlichen Denken gesagt ist, mag ich wohl auch ebenmäßig auf eine gegenständliche Dichtung beziehen. Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiednern Darstellung entgegenreiften. Ich will hievon nur die »Braut von Korinth«, den »Gott und die Bajadere«, den »Grafen und die Zwerge«, den »Sänger und die Kinder« und zuletzt noch den baldigst mitzuteilenden »Paria« nennen.

Aus obigem erklärt sich auch meine Neigung zu Gelegenheitsgedichten, wozu jedes Besondere irgendeines Zustandes mich unwiderstehlich aufregte. Und so bemerkt man denn auch an meinen Liedern, daß jedem etwas Eigenes zum Grunde liegt, daß ein gewisser Kern einer mehr oder weniger bedeutenden Frucht einwohne; deswegen sie auch mehrere Jahre nicht gesungen wurden, besonders die von entschiedenem Charakter, weil sie an den Vortragenden die Anforderung machen, er solle sich aus seinem allgemeingleichgültigen Zustande in eine besondere, fremde Anschauung und Stimmung versetzen, die Worte deutlich artikulieren, damit man auch wisse, wovon die Rede sei. Strophen sehnsüchtigen Inhalts dagegen fanden eher Gnade, und sie sind auch mit andern deutschen Erzeugnissen ihrer Art in einigen Umlauf gekommen.

An eben diese Betrachtung schließt sich die vieljährige Richtung meines Geistes gegen die Französische Revolution unmittelbar an, und es erklärt sich die grenzenlose Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen. Schau ich in die vielen Jahre zurück, so seh ich klar, wie die Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstand so lange Zeit her mein poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt; und doch hat jener Eindruck so tief bei mir gewurzelt, daß ich nicht leugnen kann, wie ich noch immer an die Fortsetzung der »Natürlichen Tochter« denke, dieses wunderbare Erzeugnis in Gedanken ausbilde, ohne den Mut, mich im einzelnen der Ausführung zu widmen.

Wend ich mich nun zu dem gegenständlichen Denken, das man mir zugesteht, so find ich, daß ich ebendasselbe Verfahren auch bei naturhistorischen Gegenständen zu beobachten genötigt war. Welche Reihe von Anschauung und Nachdenken verfolgt ich nicht, bis die Idee der Pflanzenmetamorphose in mir aufging, wie solches meine »Italienische Reise« den Freunden vertraute.

Ebenso war es mit dem Begriff, daß der Schädel aus Wirbelknochen bestehe. Die drei hintersten erkannt ich bald, aber erst im Jahr 1790, als ich aus dem Sande des dünenhaften Judenkirchhofs von Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob, gewahrt ich augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem ich den Übergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen sah; da hatt ich denn das Ganze im allgemeinsten beisammen. Soviel möge diesmal das früher Geleistete aufzuklären hinreichen. Wie aber jener Ausdruck des wohlwollenden, einsichtigen Mannes mich auch in der Gegenwart fördert, davon noch kurze vorläufige Worte. Schon einige Jahre such ich meine geognostischen Studien zu revidieren, besonders in der Rücksicht, inwiefern ich sie und die daraus gewonnene Überzeugung der neuen, sich überall verbreitenden Feuerlehre nur einigermaßen annähern könnte, welches mir bisher unmöglich fallen wollte. Nun aber durch das Wort gegenständlich ward ich auf einmal aufgeklärt, indem ich deutlich vor Augen sah, daß alle Gegenstände, die ich seit fünfzig Jahren betrachtet und untersucht hatte, gerade die Vorstellung und Überzeugung in mir erregen mußten, von denen ich jetzt nicht ablassen kann. Zwar vermag ich für kurze Zeit mich auf jenen Standpunkt zu versetzen, aber ich muß doch immer, wenn es mir einigermaßen behaglich werden soll, zu meiner alten Denkweise wieder zurückkehren.

Aufgeregt nun durch eben diese Betrachtungen, fuhr ich fort, mich zu prüfen, und fand, daß mein ganzes Verfahren auf dem Ableiten beruhe; ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt, da ich denn im Bemühen und Empfangen vorsichtig und treu zu Werke gehe. Findet sich in der Erfahrung irgendeine Erscheinung, die ich nicht abzuleiten weiß, so laß ich sie als Problem liegen, und ich habe diese Verfahrungsart in einem langen Leben sehr vorteilhaft gefunden: denn wenn ich auch die Herkunft und Verknüpfung irgendeines Phänomens lange nicht enträtseln konnte, sondern es beiseite lassen mußte, so fand sich nach Jahren auf einmal alles aufgeklärt in dem schönsten Zusammenhange. Ich werde mir daher die Freiheit nehmen, meine bisherigen Erfahrungen und Bemerkungen und die daraus entspringende Sinnesweise fernerhin in diesen Blättern geschichtlich darzulegen; wenigstens ist dabei ein charakteristisches Glaubensbekenntnis zu erzwecken, Gegnern zur Einsicht, Gleichdenkenden zur Fördernis, der Nachwelt zur Kenntnis und, wenn es glückt, zu einiger Ausgleichung.

 

Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, Goethe-BA Bd. 16, S. 385 ff.

 

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