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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

Gedichte 
(Ausgabe letzter Hand. 1827)

Antiker Form sich nähernd

Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)

Zuerst im Druck veröffentlicht in Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 1-4: Gedichte, Stuttgart und Tübingen (Cotta) 1827. 

Antiker Form sich nähernd

Stehn uns diese weiten Falten
Zu Gesichte, wie den Alten?

 

 


Herzog Leopold von Braunschweig

Dich ergriff mit Gewalt der alte Herrscher des 
Flusses,
Hält dich und teilet mit dir ewig sein strömendes 
Reich.
Ruhig schlummerst du nun beim stilleren Rauschen 
der Urne,
Bis dich stürmende Flut wieder zu Taten erweckt.
Hülfreich werde dem Volke! so wie du, ein 
Sterblicher, wolltest,
Und vollend als ein Gott, was dir als Menschen 
mißlang.

Dem Ackermann

Flach bedecket und leicht den goldenen Samen die 
Furche,
Guter! die tiefere deckt endlich dein ruhend Gebein.
Fröhlich gepflügt und gesät! Hier keimet lebendige 
Nahrung,
Und die Hoffnung entfernt selbst von dem Grabe sich 
nicht.

Anakreons Grab

Wo die Rose hier blüht, wo Reben um Lorbeer sich 
schlingen,
Wo das Turtelchen lockt, wo sich das Grillchen 
ergetzt,
Welch ein Grab ist hier, das alle Götter mit Leben
Schön bepflanzt und geziert? Es ist Anakreons Ruh.
Frühling, Sommer und Herbst genoß der glückliche 
Dichter;
Vor dem Winter hat ihn endlich der Hügel geschützt.

Die Geschwister

Schlummer und Schlaf, zwei Brüder, zum Dienste der
Götter berufen,
Bat sich Prometheus herab seinem Geschlechte zum 
Trost;
Aber den Göttern so leicht, doch schwer zu ertragen 
den Menschen,
Ward nun ihr Schlummer uns Schlaf, ward nun ihr 
Schlaf uns zum Tod.

Zeitmaß

Eros, wie seh ich dich hier! In jeglichem Händchen 
die Sanduhr!
Wie? Leichtsinniger Gott, missest du doppelt die 
Zeit?
»Langsam rinnen aus einer die Stunden entfernter 
Geliebten;
Gegenwärtigen fließt eilig die zweite herab.«

Warnung

Wecke den Amor nicht auf I Noch schläft der 
liebliche Knabe;
Geh, vollbring dein Geschäft, wie es der Tag dir 
gebeut!
So der Zeit bedienet sich klug die sorgliche Mutter,
Wenn ihr Knäbchen entschläft, denn es erwacht nur 
zu bald.

Einsamkeit

Die ihr Felsen und Bäume bewohnt, o heilsame 
Nymphen,
Gebet jeglichem gern, was er im stillen begehrt!
Schaffet dem Traurigen Trost, dem Zweifelhaften 
Belehrung,
Und dem Liebenden gönnt, daß ihm begegne sein 
Glück.
Denn euch gaben die Götter, was sie den Menschen 
versagten:
Jeglichem, der euch vertraut, tröstlich und hülfreich 
zu sein.

Erkanntes Glück

Was bedächtlich Natur sonst unter viele verteilet,
Gab sie mit reichlicher Hand alles der Einzigen, ihr.
Und die so herrlich Begabte, von vielen so innig 
Verehrte,
Gab ein liebend Geschick freundlich dem 
Glücklichen, mir.

Erwählter Fels

Hier im stillen gedachte der Liebende seiner 
Geliebten;
Heiter sprach er zu mir: »Werde mir Zeuge, du Stein!
Doch erhebe dich nicht, du hast noch viele Gesellen;
Jedem Felsen der Flur, die mich, den Glücklichen, 
nährt,
Jedem Baume des Walds, um den ich wandernd mich 
schlinge:
'Denkmal bleibe des Glücks!' ruf ich ihm weihend 
und froh.
Doch die Stimme verleih ich nur dir, wie unter der 
Menge
Einen die Muse sich wählt, freundlich die Lippen ihm
küßt.«

Ländliches Glück

Seid, o Geister des Hains, o seid, ihr Nymphen des 
Flusses,
Eurer Entfernten gedenk, eueren Nahen zur Lust!
Weihend feierten sie im stillen die ländlichen Feste;
Wir, dem gebahnten Pfad folgend, beschleichen das 
Glück.
Amor wohne mit uns, es macht der himmlische Knabe
Gegenwärtige lieb und die Entfernten euch nah.

Philomele

Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, fütternd erzogen;
Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost.
So, durchdrungen von Gift die harmlos atmende 
Kehle,
Trifft mit der Liebe Gewalt nun Philomele das Herz.

Geweihter Platz

Wenn zu den Reihen der Nymphen, versammelt in 
heiliger Mondnacht,
Sich die Grazien heimlich herab vom Olympus 
gesellen:
Hier belauscht sie der Dichter und hört die schönen 
Gesänge,
Sieht verschwiegener Tänze geheimnisvolle 
Bewegung.
Was der Himmel nur Herrliches hat, was glücklich 
die Erde
Reizendes immer gebar, das erscheint dem wachenden
Träumer.
Alles erzählt er den Musen, und daß die Götter nicht 
zürnen,
Lehren die Musen ihn gleich bescheiden Geheimnisse 
sprechen.

Der Park

Welch ein himmlischer Garten entspringt aus Öd und 
aus Wüste,
Wird und lebet und glänzt herrlich im Lichte vor mir.
Wohl den Schöpfer ahmet ihr nach, ihr Götter der 
Erde,
Fels und See und Gebüsch, Vögel und Fisch und 
Gewild!
Nur, daß euere Stätte sich ganz zum Eden vollende,
Fehlet ein Glücklicher hier, fehlt euch am Sabbat die 
Ruh.

Die Lehrer

Als Diogenes still in seiner Tonne sich sonnte
Und Calanus mit Lust stieg in das flammende Grab,
Welche herrliche Lehre dem raschen Sohn des 
Philippus,
Wäre der Herrscher der Welt nicht auch der Lehre zu 
groß.

Versuchung

Reichte die schädliche Frucht einst Mutter Eva dem 
Gatten,
Acht vom törichten Biß kränkelt das ganze 
Geschlecht.
Nun vom heiligen Leibe, der Seelen speiset und 
heilet,
Kostest du, Lydia, fromm, liebliches büßendes Kind!
Darum schick ich dir eilig die Frucht voll irdischer 
Süße,
Daß der Himmel dich nicht deinem Geliebten entzieh.

Ungleiche Heirat

Selbst ein so himmlisches Paar fand nach der 
Verbindung sich ungleich:
Psyche ward älter und klug, Amor ist immer noch 
Kind.

Heilige Familie

O des süßen Kindes und o der glücklichen Mutter,
Wie sie sich einzig in ihm, wie es in ihr sich ergetzt!

Welche Wonne gewährte der Blick auf dies herrliche 
Bild mir,
Stünd ich Armer nicht so heilig, wie Joseph, dabei!

Entschuldigung

Du verklagest das Weib, sie schwanke von einem 
zum andern!
Tadle sie nicht; sie sucht einen beständigen Mann.

Der Chinese in Rom

Einen Chinesen sah ich in Rom; die gesamten 
Gebäude
Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und 
schwer.
»Ach!« so seufzt' er, »die Armen! ich hoffe, sie sollen
begreifen,
Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches 
Gezelt,
Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter 
Vergoldung
Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut.«
Siehe, da glaubt ich, im Bilde so manchen Schwärmer
zu schauen,
Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur
Ewigem Teppich vergleicht, den echten, reinen 
Gesunden
Krank nennt, daß ja nur er heiße, der Kranke, gesund.

Spiegel der Muse

Sich zu schmücken begierig, verfolgte den rinnenden 
Bach einst
Früh die Muse hinab, sie suchte die ruhigste Stelle.
Eilend und rauschend indes verzog die schwankende 
Fläche
Stets das bewegliche Bild; die Göttin wandte sich 
zürnend;
Doch der Bach rief hinter ihr drein und höhnte sie: 
»Freilich
Magst du die Wahrheit nicht sehn, wie rein dir mein 
Spiegel sie zeiget!«
Aber indessen stand sie schon fern, am Winkel des 
Sees,
Ihrer Gestalt sich erfreuend, und rückte den Kranz 
sich zurechte.

Phöbos und Hermes

Delos' ernster Beherrscher und Majas Sohn, der 
gewandte,
Rechteten heftig, es wünscht' jeder den herrlichen 
Preis.
Hermes verlangte die Leier, die Leier verlangt' auch 
Apollon,
Doch vergeblich erfüllt Hoffnung den beiden das 
Herz;
Denn rasch dränget sich Ares heran, gewaltsam 
entscheidend,
Schlägt das goldene Spiel wild mit dem Eisen 
entzwei.
Hermes lacht unmäßig, der schadenfrohe; doch 
Phöbos
Und den Musen ergreift' inniger Schmerz das Gemüt.

Der neue Amor

Amor, nicht das Kind, der Jüngling, der Psychen 
verführte,
Sah im Olympus sich um, frech und der Siege 
gewohnt;
Eine Göttin erblickt' er, vor allen die herrlichste 
Schöne,
Venus Urania war's, und er entbrannte für sie.
Ach, die Heilige selbst, sie widerstand nicht dem 
Werben,
Und der Verwegene hielt fest sie im Arme bestrickt.
Da entstand aus ihnen ein neuer lieblicher Amor,
Der dem Vater den Sinn, Sitte der Mutter verdankt.
Immer findest du ihn in holder Musen Gesellschaft,
Und sein reizender Pfeil stiftet die Liebe der Kunst.

Die Kränze

Klopstock will uns vom Pindus entfernen; wir sollen 
nach Lorbeer
Nicht mehr geizen, uns soll inländische Eiche 
genügen;
Und doch führet er selbst den überepischen Kreuzzug
Hin auf Golgathas Gipfel, ausländische Götter zu 
ehren!
Doch auf welchen Hügel er wolle, versamml' er die 
Engel,
Lasse beim Grabe des Guten verlassene Redliche 
weinen:
Wo ein Held und Heiliger starb, wo ein Dichter 
gesungen,
Uns im Leben und Tod ein Beispiel trefflichen Mutes,
Hohen Menschenwertes zu hinterlassen, da knien
Billig alle Völker in Andachtswonne, verehren
Dorn- und Lorbeerkranz, und was ihn geschmückt 
und gepeinigt.

Schweizeralpe

War doch gestern dein Haupt noch so braun wie die 
Locke der Lieben,
Deren holdes Gebild still aus der Ferne mir winkt;
Silbergrau bezeichnet dir früh der Schnee nun die 
Gipfel,
Der sich in stürmender Nacht dir um den Scheitel 
ergoß.
Jugend, ach! ist dem Alter so nah, durchs Leben 
verbunden,
Wie ein beweglicher Traum Gestern und Heute 
verband.

 

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