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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

West-östlicher Divan

Noten und Abhandlungen

Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans

Wer das Dichten will verstehen,
Muß ins Land der Dichtung gehen;
Wer den Dichter will verstehen.
Muß in Dichters Lande gehen.

 


Einleitung

Alles hat seine Zeit! - Ein Spruch, dessen Bedeu-
tung man bei längerem Leben immer mehr anerken-
nen lernt; diesem nach gibt es eine Zeit zu schweigen,
eine andere zu sprechen, und zum letzten entschließt 
sich diesmal der Dichter. Denn wenn dem früheren 
Alter Tun und Wirken gebührt, so ziemt dem späteren
Betrachtung und Mitteilung.
Ich habe die Schriften meiner ersten Jahre ohne 
Vorwort in die Welt gesandt, ohne auch nur im min-
desten anzudeuten, wie es damit gemeint sei; dies ge-
schah im Glauben an die Nation, daß sie früher oder 
später das Vorgelegte benutzen werde. Und so gelang 
mehreren meiner Arbeiten augenblickliche Wirkung, 
andere, nicht ebenso faßlich und eindringend, bedurf-
ten, um anerkannt zu werden, mehrerer Jahre. Indes-
sen gingen auch diese vorüber, und ein zweites, drit-
tes nachwachsendes Geschlecht entschädigt mich dop-
pelt und dreifach für die Unbilden, die ich von meinen
früheren Zeitgenossen zu erdulden hatte.
Nun wünscht ich aber, daß nichts den ersten guten 
Eindruck des gegenwärtigen Büchleins hindern möge.
Ich entschließe mich daher, zu erläutern, zu erklären, 
nachzuweisen, und zwar bloß in der Absicht, daß ein 
unmittelbares Verständnis Lesern daraus erwachse, 
die mit dem Osten wenig oder nicht bekannt sind. Da-
gegen bedarf derjenige dieses Nachtrags nicht, der 
sich um Geschichte und Literatur einer so höchst 
merkwürdigen Weltregion näher umgetan hat. Er wird
vielmehr die Quellen und Bäche leicht bezeichnen, 
deren erquickliches Naß ich auf meine Blumenbeete 
geleitet.

Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorste-
hender Gedichte als ein Reisender angesehen zu wer-
den, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der 
fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren 
Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnun-
gen zu teilen, Sitten aufzunehmen versteht. Man ent-
schuldigt ihn, wenn es ihm auch nur bis auf einen ge-
wissen Grad gelingt, wenn er immer noch an einem 
eignen Akzent, an einer unbezwinglichen Unbiegsam-
keit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich 
bleibt. In diesem Sinne möge nun Verzeihung dem 
Büchlein gewährt sein! Kenner vergeben mit Einsicht,
Liebhaber, weniger gestört durch solche Mängel, neh-
men das Dargebotne unbefangen auf.

Damit aber alles, was der Reisende zurückbringt, 
den Seinigen schneller behage, übernimmt er die 
Rolle eines Handelsmanns, der seine Waren gefällig 
auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu 
machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lob-
preisende Redensarten wird man ihm nicht verargen.
Zuvörderst also darf unser Dichter wohl ausspre-
chen, daß er sich, im Sittlichen und Ästhetischen, 
Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht, daher er 
sich denn auch der schlichtesten Sprache, in dem 
leichtesten, faßlichsten Silbenmaße seiner Mundart 
befleißigt und nur von weitem auf dasjenige hindeu-
tet, wo der Orientale durch Künstlichkeit und Künste-
lei zu gefallen strebt.

Das Verständnis jedoch wird durch manche nicht 
zu vermeidende fremde Worte gehindert, die deshalb 
dunkel sind, weil sie sich auf bestimmte Gegenstände 
beziehen, auf Glauben, Meinungen, Herkommen, Fa-
beln und Sitten. Diese zu erklären, hielt man für die 
nächste Pflicht und hat dabei das Bedürfnis berück-
sichtigt, das aus Fragen und Einwendungen deutscher 
Hörender und Lesender hervorging. Ein angefügtes 
Register bezeichnet die Seite, wo dunkle Stellen vor-
kommen und auch, wo sie erklärt werden. Dieses Er-
klären aber geschieht in einem gewissen Zusammen-
hange, damit nicht abgerissene Noten, sondern ein 
selbständiger Text erscheine, der, obgleich nur flüch-
tig behandelt und lose verknüpft, dem Lesenden je-
doch Übersicht und Erläuterung gewähre.
Möge das Bestreben unseres diesmaligen Berufes 
angenehm sein! Wir dürfen es hoffen: denn in einer 
Zeit, wo so vieles aus dem Orient unserer Sprache 
treulich angeeignet wird, mag es verdienstlich 
erscheinen, wenn auch wir von unserer Seite die Auf-
merksamkeit dorthin zu lenken suchen, woher so 
manches Große, Schöne und Gute seit Jahrtausenden 
zu uns gelangte, woher täglich mehr zu hoffen ist.

Hebräer

Naive Dichtkunst ist bei jeder Nation die erste, sie 
liegt allen folgenden zum Grunde; je frischer, je natur-
gemäßer sie hervortritt, desto glücklicher entwickeln 
sich die nachherigen Epochen.
Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird 
notwendig, der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu 
gedenken. Ein großer Teil des Alten Testaments ist 
mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrie-
ben und gehört dem Felde der Dichtkunst an.
Erinnern wir uns nun lebhaft jener Zeit, wo Herder
und Eichhorn uns hierüber persönlich aufklärten, so 
gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen ori-
entalischen Sonnenaufgang zu vergleichen. Was sol-
che Männer uns verliehen und hinterlassen, darf nur 
angedeutet werden, und man verzeiht uns die Eilfer-
tigkeit, mit welcher wir an diesen Schätzen vorüber-
gehen.

Beispielswillen jedoch gedenken wir des Buches 
Ruth, welches bei seinem hohen Zweck, einem 
Könige von Israel anständige, interessante Voreltern 
zu verschaffen, zugleich als das lieblichste kleine 
Ganze betrachtet werden kann, das uns episch und 
idyllisch überliefert worden ist.

Wir verweilen sodann einen Augenblick bei dem 
Hohenlied, als dem Zartesten und Unnachahmlich-
sten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmu-
tiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freilich, daß 
uns die fragmentarisch durcheinandergeworfenen, 
übereinandergeschobenen Gedichte keinen vollen, rei-
nen Genuß gewähren, und doch sind wir entzückt, uns
in jene Zustände hineinzuahnen, in welchen die Dich-
tenden gelebt. Durch und durch wehet eine milde Luft
des lieblichsten Bezirks von Kanaan; ländlich trauli-
che Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, 
etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein 
königlicher Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hinter-
grunde. Das Hauptthema jedoch bleibt glühende Nei-
gung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, ab-
stoßen, anziehen, unter mancherlei höchst einfachen 
Zuständen.

Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Ver-
wirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; 
aber gerade das Rätselhaft-Unauflösliche gibt den we-
nigen Blättern Anmut und Eigentümlichkeit. Wie oft 
sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister 
angelockt worden, irgendeinen verständigen 
Zusammenhang zu finden oder hineinzulegen, und 
einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit.
Ebenso hat das Buch Ruth seinen unbezwinglichen
Reiz über manchen wackern Mann schon ausgeübt, 
daß er dem Wahn sich hingab, das in seinem Lakonis-
mus unschätzbar dargestellte Ereignis könne durch 
eine ausführliche, paraphrastische Behandlung noch 
einigermaßen gewinnen.

Und so dürfte, Buch für Buch, das Buch aller Bü-
cher dartun, daß es uns deshalb gegeben sei, damit 
wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, 
uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.

Araber

Bei einem östlichern Volke, den Arabern, finden 
wir herrliche Schätze an den Moallakat. Es sind 
Preisgesänge, die aus dichterischen Kämpfen sieg-
reich hervorgingen; Gedichte, entsprungen vor Maho-
mets Zeiten, mit goldenen Buchstaben geschrieben, 
aufgehängt an den Pforten des Gotteshauses zu 
Mekka. Sie deuten auf eine wandernde, herdenreiche, 
kriegerische Nation, durch den Wechselstreit mehrerer
Stämme innerlich beunruhigt. Dargestellt sind: feste-
ste Anhänglichkeit an Stammgenossen, Ehrbegierde, 
Tapferkeit, unversöhnbare Rachelust, gemildert durch
Liebestrauer, Wohltätigkeit, Aufopferung, sämtlich 
grenzenlos. Diese Dichtungen geben uns einen hin-
länglichen Begriff von der hohen Bildung des Stam-
mes der Koraischiten, aus welchem Mahomet selbst 
entsprang, ihnen aber eine düstre Religionshülle über-
warf und jede Aussicht auf reinere Fortschritte zu ver-
hüllen wußte.

Der Wert dieser trefflichen Gedichte, an Zahl sie-
ben, wird noch dadurch erhöht, daß die größte Man-
nigfaltigkeit in ihnen herrscht. Hiervon können wir 
nicht kürzere und würdigere Rechenschaft geben, als 
wenn wir einschaltend hinlegen, wie der einsichtige 
Jones ihren Charakter ausspricht. »Amralkais Ge-
dicht ist weich, froh, glänzend, zierlich, mannigfaltig 
und anmutig. Tarafas: kühn, aufgeregt, aufspringend 
und doch mit einiger Fröhlichkeit durchwebt. Das Ge-
dicht von Zoheir scharf, ernst, keusch, voll morali-
scher Gebote und ernster Sprüche. Lebids Dichtung 
ist leicht, verliebt, zierlich, zart; sie erinnert an Vir-
gils zweite Ekloge: denn er beschwert sich über der 
Geliebten Stolz und Hochmut und nimmt daher 
Anlaß, seine Tugenden herzuzählen, den Ruhm seines
Stammes in den Himmel zu erheben. Das Lied Anta-
ras zeigt sich stolz, drohend, treffend, prächtig, doch 
nicht ohne Schönheit der Beschreibungen und Bilder. 
Amru ist heftig, erhaben, ruhmredig; Harez darauf 
voll Weisheit, Scharfsinn und Würde. Auch 

 

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