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Friedrich Schiller

Friedrich Schiller

(1759 - 1805)

 

 

Über die tragische Kunst

Über die tragische Kunst

Der Zustand des Affekts für sich selbst, unabhängig von aller Beziehung seines Gegenstandes auf  unsre Verbesserung oder Verschlimmerung, hat etwas Ergötzendes für uns; wir streben, uns in denselben zu  versetzen, wenn es auch einige Opfer kosten sollte!  Unsern gewöhnlichsten Vergnügungen liegt dieser  Trieb zum Grunde; ob der Affekt auf Begierde oder  Verabscheuung gerichtet, ob er seiner Natur nach angenehm oder peinlich sei, kommt dabei wenig in Betrachtung. Vielmehr lehrt die Erfahrung, daß der unangenehme Affekt den größern Reiz für uns habe und  also die Lust am Affekt mit seinem Inhalt gerade in  umgekehrtem Verhältnisse stehe. Es ist eine allgemeine Erscheinung in unsrer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von  Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen  Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen.  Alles drängt sich voll Erwartung um den Erzähler  einer Mordgeschichte; das abenteuerlichste Gespenstermärchen verschlingen wir mit Begierde, und mit  desto größrer, je mehr uns dabei die Haare zu Berge  steigen.

Lebhafter äußert sich diese Regung bei Gegenständen der wirklichen Anschauung. Ein Meersturm, der  eine ganze Flotte versenkt, vom Ufer aus gesehen,  würde unsere Phantasie ebenso stark ergötzen, als er  unser fühlendes Herz empört; es dürfte schwer sein,  mit dem Lukrez zu glauben, daß diese natürliche Lust aus einer Vergleichung unsrer eigenen Sicherheit mit  der wahrgenommenen Gefahr entspringe. Wie zahlreich ist nicht das Gefolge, das einen Verbrecher nach dem Schauplatz seiner Qualen begleitet! Weder das  Vergnügen befriedigter Gerechtigkeitsliebe, noch die  unedle Lust der gestillten Rachbegierde kann diese  Erscheinung erklären. Dieser Unglückliche kann in  dem Herzen der Zuschauer sogar entschuldigt, das  aufrichtigste Mitleid für seine Erhaltung geschäftig  sein; dennoch regt sich, stärker oder schwächer, ein  neugieriges Verlangen bei dem Zuschauer, Aug und  Ohr auf den Ausdruck seines Leidens zu richten.  Wenn der Mensch von Erziehung und verfeinertem  Gefühl hierin eine Ausnahme macht, so rührt dies  nicht daher, daß dieser Trieb gar nicht in ihm vorhanden war, sondern daher, daß er von der schmerzhaften Stärke des Mitleids überwogen oder von den Gesetzen des Anstands in Schranken gehalten wird. Der  rohe Sohn der Natur, den kein Gefühl zarter Menschlichkeit zügelt, überläßt sich ohne Scheu diesem  mächtigen Zuge. Er muß also in der ursprünglichen  Anlage des menschlichen Gemüts gegründet und  durch ein allgemeines psychologisches Gesetz zu erklären sein.

Wenn wir aber auch diese rohen Naturgefühle mit  der Würde der menschlichen Natur unverträglich finden und deswegen Anstand nehmen, ein Gesetz für  die ganze Gattung darauf zu gründen, so gibt es noch  Erfahrungen genug, die die Wirklichkeit und Allgemeinheit des Vergnügens an schmerzhaften Rührungen außer Zweifel setzen. Der peinliche Kampf entgegengesetzter Neigungen oder Pflichten, der für denjenigen, der ihn erleidet, eine Quelle des Elends ist, ergötzt uns in der Betrachtung; wir folgen mit immer  steigender Lust den Fortschritten einer Leidenschaft  bis zu dem Abgrund, in welchen sie ihr unglückliches Opfer hinabzieht. Das nämliche zarte Gefühl, das uns  von dem Anblick eines physischen Leidens oder auch  von dem physischen Ausdruck eines moralischen zurückschreckt, läßt uns in der Sympathie mit dem reinen moralischen Schmerz eine nur desto süßere Lust  empfinden. Das Interesse ist allgemein, mit dem wir  bei Schilderungen solcher Gegenstände verweilen. Natürlicherweise gilt dies nur von dem mitgeteilten oder nachempfundnen Affekt, denn die nahe Beziehung, in welcher der ursprüngliche zu unsrem Glückseligkeitstriebe steht, beschäftigt und besitzt uns gewöhnlich zu sehr, um der Lust Raum zu lassen, die er, frei von jeder eigennützigen Beziehung, für sich  selbst gewährt. So ist bei demjenigen, der wirklich  von einer schmerzhaften Leidenschaft beherrscht  wird, das Gefühl des Schmerzens überwiegend, so  sehr die Schilderung seiner Gemütslage den Hörer  oder Zuschauer entzücken kann. Demungeachtet ist  selbst der ursprüngliche schmerzhafte Affekt für denjenigen, der ihn erleidet, nicht ganz an Vergnügen  leer; nur sind die Grade dieses Vergnügens nach der  Gemütsbeschaffenheit der Menschen verschieden.  Läge nicht auch in der Unruhe, im Zweifel, in der  Furcht ein Genuß, so würden Hasardspiele ungleich  weniger Reiz für uns haben, so würde man sich nie  aus tollkühnem Mut in Gefahren stürzen, so könnte  selbst die Sympathie mit fremden Leiden gerade im  Moment der höchsten Illusion und im stärksten Grad  der Verwechslung nicht am lebhaftesten ergötzen. Dadurch aber wird nicht gesagt, daß die unangenehmen  Affekte an und für sich selbst Lust gewähren, welches zu behaupten wohl niemand sich einfallen lassen  wird; es ist genug, wenn diese Zustände des Gemüts  bloß die Bedingungen abgeben, unter welchen allein  gewisse Arten des Vergnügens für uns möglich sind.  Gemüter also, welche für diese Arten des Vergnügens vorzüglich empfänglich und vorzüglich darnach lüstern sind, werden sich leichter mit diesen unangenehmen Bedingungen versöhnen und auch in den heftigsten Stürmen der Leidenschaft ihre Freiheit nicht ganz verlieren.

Von der Beziehung eines Gegenstandes auf unser  sinnliches oder sittliches Vermögen rührt die Unlust  her, welche wir bei widrigen Affekten empfinden, so  wie die Lust bei den angenehmen aus eben diesen  Quellen entspringt. Nach dem Verhältnis nun, in welchem die sittliche Natur eines Menschen zu seiner  sinnlichen steht, richtet sich auch der Grad der Freiheit, der in Affekten behauptet werden kann; und da  nun bekanntlich im Moralischen keine Wahl für uns  stattfindet, der sinnliche Trieb hingegen der Gesetzgebung der Vernunft unterworfen und also in unsrer Ge- walt ist, wenigstens sein soll, so leuchtet ein, daß es  möglich ist, in allen denjenigen Affekten, welche mit  dem eigennützigen Trieb zu tun haben, eine vollkommene Freiheit zu behalten und über den Grad Herr zu  sein, den sie erreichen sollen. Dieser wird in eben  dem Maße schwächer sein, als der moralische Sinn  über den Glückseligkeitstrieb bei einem Menschen die Obergewalt behauptet und die eigennützige Anhänglichkeit an sein individuelles Ich durch den Gehorsam gegen allgemeine Vernunftgesetze vermindert wird.  Ein solcher Mensch wird also im Zustand des Affekts  die Beziehung eines Gegenstandes auf seinen Glückseligkeitstrieb weit weniger empfinden und folglich  auch weit weniger von der Unlust erfahren, die nur  aus dieser Beziehung entspringt; hingegen wird er  desto mehr auf das Verhältnis merken, in welchem  eben dieser Gegenstand zu seiner Sittlichkeit steht,  und eben darum auch desto empfänglicher für die  Lust sein, welche die Beziehung aufs Sittliche nicht  selten in die peinlichsten Leiden der Sinnlichkeit  mischt. Eine solche Verfassung des Gemüts ist am  fähigsten, das Vergnügen des Mitleids zu genießen  und selbst den ursprünglichen Affekt in den Schranken des Mitleids zu erhalten. Daher der hohe Wert  einer Lebensphilosophie, welche durch stete Hinweisung auf allgemeine Gesetze das Gefühl für unsere In- dividualität entkräftet, im Zusammenhange des großen Ganzen unser kleines Selbst uns verlieren lehrt  und uns dadurch in den Stand setzt, mit uns selbst wie mit Fremdlingen umzugehen. Diese erhabene Geistesstimmung ist das Los starker und philosophischer  Gemüter, die durch fortgesetzte Arbeit an sich selbst  den eigennützigen Trieb unterjochen gelernt haben.  Auch der schmerzhafte Verlust führt sie nicht über  eine Wehmut hinaus, mit der sich noch immer ein  merklicher Grad des Vergnügens gatten kann. Sie, die allein fähig sind, sich von sich selbst zu trennen, genießen allein das Vorrecht, an sich selbst teilzunehmen und eigenes Leiden in dem milden Widerschein  der Sympathie zu empfinden.

Schon das Bisherige enthält Winke genug, die uns  auf die Quellen des Vergnügens, das der Affekt an  sich selbst, und vorzüglich der traurige, gewährt, aufmerksam machen. Es ist größer, wie man gesehen hat, in moralischen Gemütern und wirkt desto freier, je  mehr das Gemüt von dem eigennützigen Triebe unabhängig ist. Es ist ferner lebhafter und stärker in traurigen Affekten, wo die Selbstliebe gekränkt wird, als in fröhlichen, welche eine Befriedigung derselben voraussetzen; also wächst es, wo der eigennützige Trieb  beleidigt, und nimmt ab, wo diesem Triebe geschmeichelt wird. Wir kennen aber nicht mehr als zweierlei  Quellen des Vergnügens, die Befriedigung des Glückseligkeitstriebes und die Erfüllung moralischer Gesetze; eine Lust also, von der man bewiesen hat, daß sie  nicht aus der erstern Quelle entsprang, muß notwendig aus der zweiten ihren Ursprung nehmen. Aus unserer moralischen Natur also quillt die Lust hervor,  wodurch uns schmerzhafte Affekte in der Mitteilung  entzücken und, auch sogar ursprünglich empfunden,  in gewissen Fallen noch an, genehm rühren.

Man hat es auf mehrere Art versucht, das Vergnügen des Mitleids zu erklären; aber die wenigsten Auflösungen konnten befriedigend ausfallen, weil man  den Grund der Erscheinung lieber in begleitenden  Umständen als in der Natur des Affekts selbst aufsuchte. Vielen ist das Vergnügen des Mitleids nichts  anders als das Vergnügen der Seele an ihrer Empfindsamkeit; andern die Lust an starkbeschäftigten Kräften, lebhafter Wirksamkeit des Begehrungsvermögens, kurz an einer Befriedigung des  Tätigkeitstriebes; andre lassen sie aus der Entdeckung sittlich schöner Charakterzüge, die der Kampf mit  dem Unglück und mit der Leidenschaft sichtbar  mache, entspringen. Noch immer aber bleibt  unaufgelöst, warum gerade die Pein selbst, das eigentliche Leiden, bei Gegenständen des Mitleids uns am  mächtigsten anzieht, da nach jenen Erklärungen ein  schwächerer Grad des Leidens den an, geführten Ursachen unsrer Lust an der Rührung offenbar günstiger sein müßte. Die Lebhaftigkeit und Stärke der in unsrer Phantasie er, weckten Vorstellungen, die sittliche  Vortrefflichkeit der leidenden Personen, der Rückblick des mitleidenden Subjekts auf sich selbst können die Lust an Rührungen wohl erhöhen, aber sie  sind die Ursache nicht, die sie hervorbringt. Das Leiden einer schwachen Seele, der Schmerz eines Bösewichts gewähren uns diesen Genuß freilich nicht; aber deswegen nicht, weil sie unser Mitleid nicht in dem  Grade wie der leidende Held oder der kämpfende Tugendhafte erregen. Stets also kehrt die erste Frage zurück, warum eben just der Grad des Leidens den Grad der sympathetischen Lust an einer Rührung bestimme, und sie kann auf keine andere Art beantwortet werden, als daß gerade der Angriff auf unsre Sinnlichkeit  die Bedingung sei, diejenige Kraft des Gemüts aufzuregen, deren Tätigkeit jenes Vergnügen an sympathetischem Leiden erzeugt.

Diese Kraft nun ist keine andre als die Vernunft,  und insofern die freie Wirksamkeit derselben, als absolute Selbsttätigkeit, vorzugsweise den Namen der  Tätigkeit verdient, insofern sich das Gemüt nur in seinem sittlichen Handeln vollkommen unabhängig und  frei fühlt, insofern ist es freilich der befriedigte Trieb  der Tätigkeit, von welchem unser Vergnügen an traurigen Rührungen seinen Ursprung zieht. Aber so ist es auch nicht die Menge, nicht die Lebhaftigkeit der  Vorstellungen, nicht die Wirksamkeit des Begehrungsvermögens überhaupt, sondern eine bestimmte  Gattung der erstern, und eine bestimmte, durch Vernunft erzeugte Wirksamkeit des letztern, was diesem  Vergnügen zum Grund liegt. Der mitgeteilte Affekt  überhaupt hat also etwas Ergötzendes für uns, weil er  den Tätigkeitstrieb befriedigt; der traurige Affekt leistet jene Wirkung in einem höhern Grade, weil er diesen Trieb in einem höhern Grade befriedigt. Nur im  Zustand seiner vollkommenen Freiheit, nur im Bewußtsein seiner vernünftigen Natur äußert das Gemüt  seine höchste Tätigkeit, weil es da allein eine Kraft  anwendet, die jedem Widerstand überlegen ist. Derjenige Zustand des Gemüts also, der vorzugsweise diese Kraft zu ihrer Verkündigung bringt, diese  höhere Tätigkeit weckt, ist der zweckmäßigste für ein  vernünftiges Wesen und für den Tätigkeitstrieb der  befriedigendste; er muß also mit einem vorzüglichen  Grade von Lust verknüpft sein.1 In einen solchen Zustand versetzt uns der traurige Affekt, und die Lust an demselben muß die Lust an fröhlichen Affekten in  eben dem Grad übertreffen als das sittliche Vermögen in uns über das sinnliche erhaben ist.

Was in dem ganzen System der Zwecke nur ein untergeordnetes Glied ist, darf die Kunst aus diesem Zusammenhang absondern und als Hauptzweck verfolgen. Für die Natur mag das Vergnügen nur ein mittelbarer Zweck sein, für die Kunst ist es der höchste. Es  gehört also vorzüglich zum Zweck der letztern, das  hohe Vergnügen nicht zu vernachlässigen, das in der  traurigen Rührung enthalten ist. Diejenige Kunst  aber, welche sich das Vergnügen des Mitleids insbesondre zum Zweck setzt, heißt die tragische Kunst im  allgemeinen Verstande.

Die Kunst erfüllt ihren Zweck durch Nachahmung  der Natur, indem sie die Bedingungen erfüllt, unter  welchen das Vergnügen in der Wirklichkeit möglich wird, und die zerstreuten Anstalten der Natur zu diesem Zwecke nach einem verständigen Plan vereinigt, um das, was diese bloß zu  ihrem Nebenzweck machte, als letzten Zweck zu erreichen. Die tragische Kunst wird also die Natur in  denjenigen Handlungen nachahmen, welche den mit  leidenden Affekt vorzüglich zu erwecken vermögen. Um also der tragischen Kunst ihr Verfahren im allgemeinen vorzuschreiben, ist es vor allem nötig, die  Bedingungen zu wissen, unter welchen nach der gewöhnlichen Erfahrung das Vergnügen der Rührung  am gewissesten und am stärksten erzeugt zu werden  pflegt; zugleich aber auch auf diejenigen Umstände  aufmerksam zu machen, welche es einschränken oder  gar zerstören.

Zwei entgegengesetzte Ursachen gibt die Erfahrung an, welche das Vergnügen an Rührungen hindern:  wenn das Mitleid entweder zu schwach, oder wenn es  so stark erregt wird, daß der mitgeteilte Affekt zu der  Lebhaftigkeit eines ursprünglichen übergeht. Jenes  kann wieder entweder an der Schwäche des Eindrucks liegen, den wir von dem ursprünglichen Leiden erhalten, in welchem Falle wir sagen, daß unser Herz kalt  bleibt, und wir weder Schmerz noch Vergnügen empfinden; oder es liegt an stärkern Empfindungen, welche den empfangenen Eindruck bekämpfen und durch  ihr Übergewicht im Gemüt das Vergnügen des Mitleids schwächen oder gänzlich ersticken.

Nach dem, was im vorhergehenden Aufsatz über  den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen behauptet wurde, ist bei jeder tragischen Rührung die Vorstellung einer Zweckwidrigkeit, welche, wenn  die Rührung ergötzend sein soll, jederzeit auf eine  Vorstellung von höherer Zweckmäßigkeit leitet. Auf  das Verhältnis dieser beiden entgegengesetzten Vorstellungen untereinander kommt es nun an, ob bei  einer Rührung die Lust oder die Unlust hervorstechen  soll. Ist die Vorstellung der Zweckwidrigkeit lebhafter als die des Gegenteils, oder ist der verletzte Zweck  von größrer Wichtigkeit als der erfüllte, so wird jederzeit die Unlust die Oberhand behalten; es mag dieses nun objektiv von der menschlichen Gattung überhaupt, oder bloß subjektiv von besondern Individuen  gelten.

Wenn die Unlust über die Ursache eines Unglücks  zu stark wird, so schwächt sie unser Mitleid mit demjenigen, der es leidet. Zwei ganz verschiedne Empfindungen können nicht zu gleicher Zeit in einem hohen  Grade in dem Gemüte vorhanden sein. Der Unwille  über den Urheber des Leidens wird zum herrschenden Affekt, und jedes andere Gefühl muß ihm weichen. So schwächt es jederzeit unseren Anteil, wenn sich der  Unglückliche, den wir bemitleiden sollen, aus eigner  unverzeihlicher Schuld in sein Verderben gestürzt hat, oder sich auch aus Schwäche des Verstandes und aus  Kleinmut nicht, da er es doch könnte, aus demselben  zu ziehen weiß. Unserm Anteil an dem unglücklichen, von seinen undankbaren Töchtern mißhandelten Lear  schadet es nicht wenig, daß dieser kindische Alte  seine Krone so leichtsinnig hingab und seine Liebe so unverständig unter seinen Töchtern verteilte. In dem  Cronegkischen Trauerspiel Olint und Sophronia kann  selbst das fürchterlichste Leiden, dem wir diese beiden Märtyrer ihres Glaubens ausgesetzt sehen, unser  Mitleid, und ihr erhabener Heroismus unsre Bewundrung nur schwach erregen, weil der Wahnsinn allein  eine Handlung begehen kann, wie diejenige ist, wodurch Olint sich selbst und sein ganzes Volk an den  Rand des Verderbens führte.

Unser Mitleid wird nicht weniger geschwächt,  wenn der Urheber eines Unglücks, dessen schuldlose  Opfer wir bemitleiden sollen, unsre Seele mit Abscheu erfüllt. Es wird jederzeit der höchsten Vollkommenheit seines Werks Abbruch tun, wenn der tragische Dichter nicht ohne einen Bösewicht auskommen  kann, und wenn er gezwungen ist, die Größe des Leidens von der Größe der Bosheit herzuleiten. Shakespeares Jago und Lady Macbeth, Kleopatra in der Rodogune, Franz Moor in den Räubern zeugen für diese  Behauptung. Ein Dichter, der sich auf seinen wahren  Vorteil versteht, wird das Unglück nicht durch einen  bösen Willen, der Unglück beabsichtet, noch viel weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern  durch den Zwang der Umstände herbeiführen. Entspringt dasselbe nicht aus moralischen Quellen, sondern von äußerlichen Dingen, die weder Willen  haben, noch einem Willen unterworfen sind, so ist das Mitleid reiner und wird zum wenigsten durch keine  Vorstellung moralischer Zweckwidrigkeit geschwächt. Aber dann kann dem teilnehmenden Zuschauer das unangenehme Gefühl einer Zweckwidrigkeit in der Natur nicht erlassen werden, welche in diesem Fall allein die moralische Zweckmäßigkeit retten  kann. Zu einem weit höhern Grad steigt das Mitleid,  wenn sowohl derjenige, welcher leidet, als derjenige,  welcher Leiden verursacht, Gegenstände desselben  werden. Dies kann nur dann geschehen, wenn der  letztere weder unsern Haß noch unsere Verachtung  erregte, sondern wider seine Neigung dahin gebracht  wird, Urheber des Unglücks zu werden. So ist es eine  vorzügliche Schönheit in der deutschen Iphigenia, daß der taurische König, der einzige, der den Wünschen  Orests und seiner Schwester im Wege steht, nie unsre  Achtung verliert und uns zuletzt noch Liebe abnötigt. Diese Gattung des Rührenden wird noch von  derjenigen übertroffen, wo die Ursache des Unglücks  nicht allein nicht der Moralität widersprechend, sondern sogar durch Moralität allein möglich ist und wo  das wechselseitige Leiden bloß von der Vorstellung  herrührt, daß man Leiden erweckte. Von dieser Art ist die Situation Chimenens und Roderichs im Cid des  Peter Corneille; ohnstreitig, was die Verwicklung betrifft, dem Meisterstück der tragischen Bühne. Ehrliebe und Kindespflicht bewaffnen Roderichs Hand  gegen den Vater seiner Geliebten, und Tapferkeit  macht ihn zum Überwinder desselben; Ehrliebe und  Kindespflicht erwecken ihm in Chimenen, der Tochter des Erschlagenen, eine furchtbare Anklägerin und  Verfolgerin. Beide handeln ihrer Neigung entgegen,  welche vor dem Unglück des verfolgten Gegenstandes ebenso ängstlich zittert, als eifrig sie die moralische  Pflicht macht, dieses Unglück herbeizurufen. Beide  also gewinnen unsre höchste Achtung, weil sie auf  Kosten der Neigung eine moralische Pflicht erfüllen;  beide entflammen unser Mitleid aufs höchste, weil sie freiwillig und aus einem Beweggrund leiden, der sie  in hohem Grade achtungswürdig macht. Hier also  wird unser Mitleid so wenig durch widrige Gefühle  gestört, daß es vielmehr in doppelter Flamme auflodert; bloß die Unmöglichkeit, mit der höchsten Würdigkeit zum Glocke die Idee des Unglücks zu vereinbaren, könnte unsre sympathische Lust noch durch  eine Wolke des Schmerzens trüben. Wieviel auch  schon dadurch gewonnen wird, daß unser Unwille  über diese Zweckwidrigkeit kein moralisches Wesen  betrifft, sondern an den unschädlichsten Ort, auf die  Notwendigkeit abgeleitet wird, so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer demütigend  und kränkend für freie, sich selbst bestimmende  Wesen. Dies ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt  an die Notwendigkeit appelliert wird und für unsre  vernunftfodernde Vernunft immer ein unaufgelöster  Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe, welche der moralisch gebildete Mensch  erklimmt, und zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten  von Unlust verschwindet mit ihm. Dies geschieht,  wenn selbst diese Unzufriedenheit mit dem Schicksal  hinwegfällt und sich in die Ahndung oder lieber in ein deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert. Dann gesellt sich zu unserm  Vergnügen an moralischer Übereinstimmung die erquickende Vorstellung der vollkommensten Zweckmäßigkeit im großen Ganzen der Natur, und die  scheinbare Verletzung derselben, welche in dem einzelnen Falle Schmerzen erweckte, wird bloß ein Stachel für unsre Vernunft, in allgemeinen Gesetzen eine  Rechtfertigung dieses besondern Falles aufzusuchen  und den einzelnen Mißlaut in der großen Harmonie  aufzulösen. Zu dieser reinen Höhe tragischer Rührung hat sich die griechische Kunst nie erhoben, weil  weder die Volksreligion, noch selbst die Philosophie  der Griechen ihnen so weit voranleuchtete. Der neuern Kunst, welche den Vorteil genießt, von einer geläuterten Philosophie einen reinern Stoff zu empfangen, ist  es aufbehalten, auch diese höchste Foderung zu  erfüllen und so die ganze moralische Würde der  Kunst zu entfalten. Müssen wir Neuern wirklich darauf Verzich tun, griechische Kunst je wiederherzustellen, denn der philosophische Genius des Zeitalters  und die moderne Kultur überhaupt der Poesie nicht  günstig sind, so wirken sie weniger nachteilig auf die  tragische Kunst, welche mehr auf dem Sittlichen  ruhet. Ihr allein ersetzt vielleicht unsre Kultur den  Raub, den sie an der Kunst überhaupt verübte. So wie die tragische Rührung durch Einmischung  widriger Vorstellungen und Gefühle geschwächt und  dadurch die Lust an derselben vermindert wird, so  kann sie im Gegenteil durch zu große Annäherung an  den ursprünglichen Affekt zu einem Grade ausschweifen, der den Schmerz überwiegend macht. Es ist bemerkt worden, daß die Unlust in Affekten von der Beziehung ihres Gegenstandes auf unsere Sinnlichkeit,  so wie die Lust an denselben von der Beziehung des  Affekts selbst auf unsre Sittlichkeit seinen Ursprung  nehme. Es wird also zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit ein bestimmtes Verhältnis vorausgesetzt, welches das Verhältnis der Unlust zu der Lust in traurigen Rührungen entscheidet, und welches nicht verändert oder umgekehrt werden kann, ohne zugleich die  Gefühle von Lust und Unlust bei Rührungen umzukehren oder in ihr Gegenteil zu verwandeln. Je lebhafter die Sinnlichkeit in unserm Gemüte erwacht, desto  schwächer wird die Sittlichkeit wirken, und umgekehrt, je mehr jene von ihrer Macht verliert, desto  mehr wird diese an Stärke gewinnen. Was also der  Sinnlichkeit in unserm Gemüte ein Übergewicht gibt,  muß notwendigerweise, weil es die Sittlichkeit einschränkt, unser Vergnügen an Rührungen vermindern, das allein aus dieser Sittlichkeit fließt; so wie alles,  was dieser letztern in unserm Gemüt einen Schwung  gibt, sogar in ursprünglichen Affekten dem Schmerz  seinen Stachel nimmt. Unsre Sinnlichkeit erlangt aber dieses Übergewicht wirklich, wenn sich die Vorstellungen des Leidens zu einem solchen Grade der Lebhaftigkeit erheben, der uns keine Möglichkeit übrigläßt, den mitgeteilten Affekt von einem ursprünglichen, unser eigenes Ich von dem leidenden Subjekt,  oder Wahrheit von Dichtung zu unterscheiden. Sie erlangt gleichfalls das Übergewicht, wenn ihr durch Anhäufung ihrer Gegenstände und durch das blendende  Licht, das eine aufgeregte Einbildungskraft darüber  verbreitet, Nahrung gegeben wird. Nichts hingegen ist geschickter, sie in ihre Schranken zurückzuweisen, als der Beistand übersinnlicher, sittlicher Ideen, an denen sich die unterdrückte Vernunft, wie an geistigen Stützen, aufrichtet, um sich über den trüben Dunstkreis  der Gefühle in einen heitern Horizont zu erheben.  Daher der große Reiz, welchen allgemeine Wahrheiten oder Sittensprüche, an der rechten Stelle in den  dramatischen Dialog eingestreut, für alle gebildete  Völker gehabt haben, und der fast übertriebene Gebrauch, den schon die Griechen davon machten.  Nichts ist einem sittlichen Gemüte willkommener, als  nach einem lang anhaltenden Zustand des bloßen Leidens aus der Dienstbarkeit der Sinne zur Selbsttätigkeit geweckt und in seine Freiheit wieder eingesetzt  zu werden.

Soviel von den Ursachen, welche unser Mitleid einschränken und dem Vergnügen an der traurigen Rührung im Wege stehen. Jetzt sind die Bedingungen aufzuzählen, unter welchen das Mitleid befördert und die Lust der Rührung am unfehlbarsten und am stärksten  erweckt wird.

Alles Mitleid setzt Vorstellungen des Leidens voraus, und nach der Lebhaftigkeit, Wahrheit, Vollständigkeit und Dauer der letztern richtet sich auch der  Grad der erstern.

1. Je lebhafter die Vorstellungen, desto mehr wird  das Gemüt zur Tätigkeit eingeladen, desto mehr wird  seine Sinnlichkeit gereizt, desto mehr also auch sein  sittliches Vermögen zum Widerstand aufgefordert.  Vorstellungen des Leidens lassen sich aber auf zwei  verschiedenen Wegen erhalten, welche der Lebhaftigkeit des Eindrucks nicht auf gleiche Art günstig sind.  Ungleich stärker affizieren uns Leiden, von denen wir  Zeugen sind, als solche, die wir erst durch Erzählung  oder Beschreibung erfahren. Jene heben das freie  Spiel unsrer Einbildungskraft auf und dringen, da sie  unsre Sinnlichkeit unmittelbar treffen, auf dem kürzesten Weg zu unserm Herzen. Bei der Erzählung hingegen wird das Besondre erst zum Allgemeinen erhoben und aus diesem dann das Besondre erkannt, also  schon durch diese notwendige Operation des Verstandes dem Eindruck sehr viel von seiner Stärke entzogen. Ein schwacher Eindruck aber wird sich des  Gemüts nicht ungeteilt bemächtigen und fremdartigen Vorstellungen Raum geben, seine Wirkung zu stören  und die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Sehr oft versetzt uns auch die erzählende Darstellung aus dem  Gemütszustand der handelnden Personen in den des  Erzählers, welches die zum Mitleid so notwendige  Täuschung unterbricht. So oft der Erzähler in eigner  Person sich vordringt, entsteht ein Stillstand in der  Handlung und darum unvermeidlich auch in unserm  teilnehmenden Affekt; dies ereignet sich selbst dann,  wenn sich der dramatische Dichter im Dialog vergißt  und der sprechenden Person Betrachtungen in den  Mund legt, die nur ein kalter Zuschauer anstellen  konnte. Von diesem Fehler dürfte schwerlich eine  unsrer neuern Tragödien frei sein, doch haben ihn die  französischen allein zur Regel erhoben. Unmittelbare  lebendige Gegenwart und Versinnlichung sind also  nötig, unsern Vorstellungen vom Leiden diejenige  Stärke zu geben, die zu einem hohen Grade von Rührung erfordert wird.

2. Aber wir können die lebhaftesten Eindrücke von  einem Leiden erhalten, ohne doch zu einem merklichen Grad des Mitleids gebracht zu werden, wenn es  diesen Eindrücken an Wahrheit fehlt. Wir müssen uns einen Begriff von dem Leiden machen, an dem wir  teilnehmen sollen; dazu gehört eine Übereinstimmung desselben mit etwas, was schon vorher in uns vorhanden ist. Die Möglichkeit des Mitleids beruht nämlich  auf der Wahrnehmung oder Voraussetzung einer Ähnlichkeit zwischen uns und dem leidenden Subjekt.  Überall, wo diese Ähnlichkeit sich erkennen läßt, ist  das Mitleid notwendig, wo sie fehlt, unmöglich. Je  sichtbarer und größer die Ähnlichkeit, desto lebhafter  unser Mitleid, je geringer jene, desto schwächer auch  dieses. Es müssen, wenn wir den Affekt eines andern  ihm nachempfinden sollen, alle innern Bedingungen  zu diesem Affekt in uns selbst vorhanden sein, damit  die äußre Ursache, die durch ihre Vereinigung mit  jenen dem Affekt die Entstehung gab, auch auf uns  eine gleiche Wirkung äußern könne. Wir müssen,  ohne uns Zwang anzutun, die Person mit ihm zu  wechseln, unser eigenes Ich seinem Zustande augenblicklich unterzuschieben fähig sein. Wie ist es aber  möglich, den Zustand eines andern in uns zu empfinden, wenn wir nicht uns zuvor in diesem andern  gefunden haben?

Diese Ähnlichkeit geht auf die ganze Grundlage  des Gemüts, insofern diese notwendig und allgemein  ist. Allgemeinheit und Notwendigkeit aber enthält  vorzugsweise unsre sittliche Natur. Das sinnliche  Vermögen kann durch zufällige Ursachen anders bestimmt werden; selbst unsre Erkenntnisvermögen sind von veränderlichen Bedingungen abhängig; unsre  Sittlichkeit allein ruht auf sich selbst und ist eben  darum am tauglichsten, einen allgemeinen und sichern Maßstab dieser Ähnlichkeit abzugeben. Eine Vorstellung also, welche wir mit unsrer Form, zu denken und zu empfinden, übereinstimmend finden, welche mit  unsrer eigenen Gedankenreihe schon in gewisser Verwandtschaft steht, welche von unserm Gemüt mit  Leichtigkeit aufgefaßt wird, nennen wir wahr. Betrifft  die Ähnlichkeit das Eigentümliche unsers Gemüts, die besondern Bestimmungen des allgemeinen Menschencharakters in uns, welche sich unbeschadet dieses all- gemeinen Charakters hinwegdenken lassen, so hat  diese Vorstellung bloß Wahrheit für uns; betrifft sie  die allgemeine und notwendige Form, welche wir bei  der ganzen Gattung voraussetzen, so ist die Wahrheit  der objektiven gleichzuachten. Für den Römer hat der Richterspruch des ersten Brutus, der Selbstmord des  Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden  Männer fließen, folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus einer besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit  ihnen zu teilen, muß man eine römische Gesinnung  besitzen oder doch zu augenblicklicher Annahme der  letztern fähig sein. Hingegen braucht man bloß  Mensch überhaupt zu sein, um durch die heldenmütige Aufopferung eines Leonidas, durch die ruhige Ergebung eines Aristid, durch den freiwilligen Tod eines Sokrates in eine hohe Rührung versetzt, um durch den schrecklichen Glückswechsel eines Darius zu Tränen  hingerissen zu werden. Solchen Vorstellungen räumen wir, im Gegensatz mit jenen, objektive Wahrheit ein,  weil sie mit der Natur aller Subjekte übereinstimmen  und dadurch eine ebenso strenge Allgemeinheit und  Notwendigkeit erhalten, als wenn sie von jeder subjektiven Bedingung unabhängig wären.

Übrigens ist die subjektiv wahre Schilderung, weil  sie auf zufällige Bestimmungen geht, darum nicht mit  willkürlichen zu verwechseln. Zuletzt fließt auch das  subjektiv Wahre aus der allgemeinen Einrichtung des  menschlichen Gemüts, welche bloß durch besondre  Umstände besonders bestimmt ward, und beide sind  notwendige Bedingungen desselben. Die Entschließung des Cato könnte, wenn sie den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur widerspräche, auch  nicht mehr subjektiv wahr sein. Nur haben  Darstellungen der letztern Art einen engern Wirkungskreis, weil sie noch andre Bestimmungen als  jene allgemeinen voraussetzen. Die tragische Kunst  kann sich ihrer mit großer intensiver Wirkung bedienen, wenn sie der extensiven entsagen will; doch wird das unbedingt Wahre, das bloß Menschliche in  menschlichen Verhältnissen stets ihr ergiebigster  Stoff sein weil sie bei diesem allein, ohne darum auf  die Stärke des Eindrucks Verzicht tun zu müssen, der  Allgemeinheit desselben versichert ist.

3. Zu der Lebhaftigkeit und Wahrheit tragischer  Schilderungen wird drittens noch Vollständigkeit verlangt. Alles, was von außen gegeben werden muß, um das Gemüt in die abgezweckte Bewegung zu setzen,  muß in der Vorstellung erschöpft sein. Wenn sich der  noch so römisch gesinnte Zuschauer den Seelenzustand des Cato zu eigen machen, wenn er die letzte  Entschließung dieses Republikaners zu der seinigen  machen soll, so muß er diese Entschließung nicht  bloß in der Seele des Römers, auch in den Umständen gegründet finden, so muß ihm die äußere sowohl als  innre Lage desselben in ihrem ganzen Zusammenhang und Umfang vor Augen liegen, so darf auch kein ein- ziges Glied aus der Kette von Bestimmungen fehlen,  an welche sich der letzte Entschluß des Römers als  notwendig anschließt. Überhaupt ist selbst die Wahrheit einer Schilderung ohne diese Vollständigkeit  nicht erkennbar, denn nur die Ähnlichkeit der Umstände, welche wir vollkommen einsehen müssen,  kann unser Urteil über die Ähnlichkeit der Empfindungen rechtfertigen, weil nur aus der Vereinigung  der äußern und innern Bedingungen der Affekt entspringt. Wenn entschieden werden soll, ob wir wie  Cato würden gehandelt haben, so müssen wir uns vor  allen Dingen in Catos ganze äußere Lage hineindenken, und dann erst sind wir befugt, unsre Empfindungen gegen die seinigen zu halten, einen Schluß auf die Ähnlichkeit zu machen und über die Wahrheit derselben ein Urteil zu fallen.

Diese Vollständigkeit der Schilderung ist nur durch Verknüpfung mehrerer einzelnen Vorstellungen und  Empfindungen möglich, die sich gegeneinander als  Ursache und Wirkung verhalten und in ihrem Zusammenhang ein Ganzes für unsre Erkenntnis ausmachen. Alle diese Vorstellungen müssen, wenn sie uns lebhaft rühren sollen, einen unmittelbaren Eindruck auf  unsre Sinnlichkeit machen und, weil die erzählende  Form jederzeit diesen Eindruck schwächt, durch eine  gegenwärtige Handlung veranlaßt werden. Zur Vollständigkeit einer tragischen Schilderung gehört also  eine Reihe einzelner versinnlichter Handlungen, welche sich zu der tragischen Handlung als zu einem  Ganzen verbinden.

4. Fortdauernd endlich müssen die Vorstellungen  des Leidens auf uns wirken, wenn ein hoher Grad von Rührung durch sie erweckt werden soll. Der Affekt, in welchen uns fremde Leiden versetzen, ist für uns ein  Zustand des Zwanges, aus welchem wir eilen uns zu  befreien, und allzu leicht verschwindet die zum Mitleid so unentbehrliche Täuschung. Das Gemüt muß  also an diese Vorstellungen gewaltsam gefesselt und  der Freiheit beraubt werden, sich der Täuschung zu  frühzeitig zu entreißen. Die Lebhaftigkeit der Vorstellungen und die Stärke der Eindrücke, welche unsre  Sinnlichkeit überfallen, ist dazu allein nicht hinreichend; denn je heftiger das empfangende Vermögen  gereizt wird, desto stärker äußert sich die rückwirkende Kraft der Seele, um diesen Eindruck zu besiegen.  Diese selbsttätige Kraft aber darf der Dichter nicht  schwächen, der uns rühren will; denn eben im Kampfe derselben mit dem Leiden der Sinnlichkeit liegt der  hohe Genuß, den uns die traurigen Rührungen gewähren. Wenn also das Gemüt, seiner widerstrebenden  Selbsttätigkeit ungeachtet, an die Empfindungen des  Leidens geheftet bleiben soll, so müssen diese periodenweise geschickt unterbrochen, ja von entgegengesetzten Empfindungen abgelöst werden - um alsdann  mit zunehmender Stärke zurückzukehren und die Lebhaftigkeit des ersten Eindrucks desto öfter zu erneuern. Gegen Ermattung, gegen die Wirkungen der Gewohnheit ist der Wechsel der Empfindungen das  kräftigste Mittel. Dieser Wechsel frischt die erschöpfte Sinnlichkeit wieder an, und die Gradation der Eindrücke weckt das selbsttätige Vermögen zum verhältnismäßigen Widerstand. Unaufhörlich muß dieses geschäftig sein, gegen den Zwang der Sinnlichkeit seine  Freiheit zu behaupten, aber nicht früher als am Ende  den Sieg erlangen und noch weit weniger im Kampf  unterliegen; sonst ist es im ersten Falle um das Leiden, im zweiten um die Tätigkeit getan, und nur die  Vereinigung von beiden erweckt ja die Rührung. In  der geschickten Führung dieses Kampfes beruht eben  das große Geheimnis der tragischen Kunst, da zeigt  sie sich in ihrem glänzendsten Lichte.

Auch dazu ist nun eine Reihe abwechselnder Vorstellungen, also eine zweckmäßige Verknüpfung mehrerer, diesen Vorstellungen entsprechender Handlungen notwendig, an denen sich die Haupthandlung und  durch sie der abgezielte tragische Eindruck vollständig, wie ein Knäuel von der Spindel, abwindet und  das Gemüt zuletzt wie mit einem unzerreißbaren  Netze umstrickt. Der Künstler, wenn mir dieses Bild  hier verstattet ist, sammelt erst wirtschaftlich alle einzelnen Strahlen des Gegenstandes, den er zum Werkzeug seines tragischen Zweckes macht, und sie werden unter seinen Händen zum Blitz, der alle Herzen  entzündet. Wenn der Anfänger den ganzen Donnerstrahl des Schreckens und der Furcht auf einmal und  fruchtlos in die Gemüter schleudert, so gelangt jener  Schritt vor Schritt durch lauter kleine Schläge zum  Ziel und durchdringt eben dadurch die Seele ganz,  daß er sie nur allmählich und gradweise rührte. Wenn wir nunmehr die Resultate aus den bisherigen Untersuchungen ziehen, so sind es folgende Bedingungen, welche der tragischen Rührung zum  Grund liegen. Erstlich muß der Gegenstand unsers  Mitleids zu unsrer Gattung im ganzen Sinn dieses  Worts gehören und die Handlung, an der wir teilnehmen sollen, eine moralische, d.i. unter dem Gebiet der Freiheit begriffen sein. Zweitens muß uns das Leiden, seine Quellen und seine Grade, in einer Folge verknüpfter Begebenheiten vollständig mitgeteilt und  zwar drittens sinnlich vergegenwärtigt, nicht mittelbar durch Beschreibung, sondern unmittelbar durch  Handlung dargestellt werden. Alle diese Bedingungen vereinigt und erfüllt die Kunst in der Tragödie. Die Tragödie wäre demnach dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns  Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen.

Sie ist erstlich - Nachahmung einer Handlung. Der Begriff der Nachahmung unterscheidet sie von den  übrigen Gattungen der Dichtkunst, welche bloß erzählen oder beschreiben. In Tragödien werden die  einzelnen Begebenheiten im Augenblick ihres Geschehens, als gegenwärtig, vor die Einbildungskraft  oder vor die Sinne gestellt; unmittelbar, ohne Einmischung eines Dritten. Die Epopöe, der Roman, die  einfache Erzählung rücken die Handlung, schon ihrer  Form nach, in die Ferne, weil sie zwischen den Leser  und die handelnden Personen den Erzähler einschieben. Das Entfernte, das Vergangene schwächt aber,  wie bekannt ist, den Eindruck und den teilnehmenden  Affekt; das Gegenwärtige verstärkt ihn. Alle erzählende Formen machen das Gegenwärtige zum Vergangenen; alle dramatische machen das Vergangene gegenwärtig.

Die Tragödie ist zweitens Nachahmung einer Reihe von Begebenheiten, einer Handlung. Nicht bloß die  Empfindungen und Affekte der tragischen Personen,  sondern die Begebenheiten, aus denen sie entsprangen und auf deren Veranlassung sie sich äußern, stellt sie  nachahmend dar; dies unterscheidet sie von den lyrischen Dichtungsarten, welche zwar ebenfalls gewisse  Zustände des Gemüts poetisch nachahmen, aber nicht  Handlungen. Eine Elegie, ein Lied, eine Ode können  uns die gegenwärtige, durch besondre Umstände bedingte Gemütsbeschaffenheit des Dichters (sei es in  seiner eignen Person oder in idealischer) nachahmend  vor Augen stellen, und insoferne sind sie zwar unter  dem Begriff der Tragödie mitenthalten, aber sie  machen ihn noch nicht aus, weil sie sich bloß auf  Darstellungen von Gefühlen ein, schränken. Noch wesentlichere Unterschiede liegen in dem verschiedenen  Zweck dieser Dichtungsarten.

Die Tragödie ist drittens Nachahmung einer vollständigen Handlung. Ein einzelnes Ereignis, wie tragisch es auch sein mag, gibt noch keine Tragödie.  Mehrere als Ursache und Wirkung ineinander gegründete Begebenheiten müssen sich miteinander zweckmäßig zu einem Ganzen verbinden, wenn die Wahrheit, d.i. die Übereinstimmung eines vorgestellten Affekts, Charakters und dergleichen mit der Natur unsrer Seele, auf welche allein sich unsre Teilnahme  gründet, erkannt werden soll. Wenn wir es nicht fühlen, daß wir selbst bei gleichen Umständen ebenso  würden gelitten und ebenso gehandelt haben, so wird  unser Mitleid nie erwachen. Es kommt also darauf an, daß wir die vorgestellte Handlung in ihrem ganzen  Zusammenhang verfolgen, daß wir sie aus der Seele  ihres Urhebers durch eine natürliche Gradation unter  Mitwirkung äußrer Umstände hervorfließen sehen. So entsteht und wächst und vollendet sich vor unsern  Augen die Neugier des Ödipus, die Eifersucht des  Othello. So kann auch allein der große Abstand ausgefüllt werden, der sich zwischen dem Frieden einer  schuldlosen Seele und den Gewissensqualen eines  Verbrechers, zwischen der stolzen Sicherheit eines  Glücklichen und seinem schrecklichen Untergang,  kurz, der sich zwischen der ruhigen Gemütsstimmung des Lesers am Anfang und der heftigen Aufregung  seiner Empfindungen am Ende der Handlung findet. Eine Reihe mehrerer zusammenhängender Vorfälle  wird erfordert, einen Wechsel der Gemütsbewegungen  in uns zu erregen, der die Aufmerksamkeit spannt, der jedes Vermögen unsers Geistes aufbietet, den ermattenden Tätigkeitstrieb ermuntert und durch die verzögerte Befriedigung ihn nur desto heftiger entflammt.  Gegen die Leiden der Sinnlichkeit findet das Gemüt  nirgends als in der Sittlichkeit Hülfe. Diese also desto dringender aufzufodern, muß der tragische Künstler  die Martern der Sinnlichkeit verlängern; aber auch  dieser muß er Befriedigung zeigen, um jener den Sieg  desto schwerer und rühmlicher zu machen. Beides ist  nur durch eine Reihe von Handlungen möglich, die  mit weiser Wahl zu dieser Absicht verbunden sind.

Die Tragödie ist viertens poetische Nachahmung  einer mitleidswürdigen Handlung, und dadurch wird  sie der historischen entgegengesetzt. Das letztere  würde sie sein, wenn sie einen historischen Zweck  verfolgte, wenn sie darauf ausginge, von geschehenen  Dingen und von der Art ihres Geschehens zu unter- richten. In diesem Falle müßte sie sich streng an historische Richtigkeit halten, weil sie einzig nur durch  treue Darstellung des wirklich Geschehenen ihre  Absicht erreichte. Aber die Tragödie hat einen poetischen Zweck, d.i. sie stellt eine Handlung dar, um zu  rühren und durch Rührung zu ergötzen. Behandelt sie  also einen gegebenen Stoff nach diesem ihrem  Zwecke, so wird sie eben dadurch in der Nachahmung frei; sie erhält Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unterzu- ordnen und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten. Da sie aber ihren Zweck, die  Rührung, nur unter der Bedingung der höchsten Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur zu erreichen imstande ist, so steht sie, ihrer historischen Freiheit  unbeschadet, unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit, welche man im Gegensatz von der historischen die poetische Wahrheit nennt. So läßt sich begreifen, wie bei strenger Beobachtung der historischen Wahrheit nicht selten die poetische leiden und  umgekehrt bei grober Verletzung der historischen die  poetische nur um so mehr gewinnen kann. Da der tragische Dichter, so wie überhaupt jeder Dichter, nur  unter dem Gesetz der poetischen Wahrheit steht, so  kann die gewissenhafteste Beobachtung der historischen ihn nie von seiner Dichterpflicht lossprechen,  nie einer Übertretung der poetischen Wahrheit, nie  einem Mangel des Interesse zur Entschuldigung gereichen. Es verrät daher sehr beschränkte Begriffe von  der tragischen Kunst, ja von der Dichtkunst  überhaupt, den Tragödiendichter vor das Tribunal der Geschichte zu ziehen und Unterricht von demjenigen  zu fodern, der sich schon vermöge seines Namens  bloß zu Rührung und Ergötzung verbindlich macht.  Sogar dann, wenn sich der Dichter selbst durch eine  ängstliche Unterwürfigkeit gegen historische Wahrheit seines Künstlervorrechts begeben und der Geschichte eine Gerichtsbarkeit über sein Produkt stillschweigend eingeräumt haben sollte, fordert die Kunst  ihn mit allem Rechte vor ihren Richterstuhl, und ein  Tod Hermanns, eine Minona, ein Fust von Stromberg  würden, wenn sie hier die Prüfung nicht aushielten,  bei noch so pünktlicher Befolgung des Kostüme, des  Volks, und des Zeitcharakters mittelmäßige Tragödien heißen.

Die Tragödie ist fünftens Nachahmung einer Handlung, welche uns Menschen im Zustand des Leidens  zeigt. Der Ausdruck Menschen ist hier nichts weniger  als müßig und dient dazu, die Grenzen genau zu bezeichnen, in welche die Tragödie in der Wahl ihrer  Gegenstände eingeschränkt ist. Nur das Leiden sinn- lich- moralischer Wesen, dergleichen wir selbst sind,  kann unser Mitleid erwecken. Wesen also, die sich  von aller Sittlichkeit lossprechen, wie sich der Aberglaube des Volks oder die Einbildungskraft der Dichter die bösen Dämonen malt, und Menschen, welche  ihnen gleichen - Wesen ferner, die von dem Zwange  der Sinnlichkeit befreit sind, wie wir uns die reinen  Intelligenzen denken, und Menschen, die sich in höherm Grade, als die menschliche Schwachheit erlaubt, diesem Zwange entzogen haben, sind gleich untauglich für die Tragödie. Überhaupt bestimmt schon der  Begriff des Leidens, und eines Leidens, an dem wir  teilnehmen sollen, daß nur Menschen im vollen Sinne  dieses Worts der Gegenstand desselben sein können.  Eine reine Intelligenz kann nicht leiden, und ein  menschliches Subjekt, das sich dieser reinen Intelligenz in ungewöhnlichem Grade nähert, kann, weil es  in seiner sittlichen Natur einen zu schnellen Schütz  gegen die Leiden einer schwachen Sinnlichkeit findet, nie einen großen Grad von Pathos erwecken. Ein  durchaus sinnliches Subjekt ohne Sittlichkeit, und  solche, die sich ihm nähern, sind zwar des fürchterlichsten Grades von Leiden fähig, weil ihre Sinnlichkeit in überwiegendem Grade wirkt, aber von keinem  sittlichen Gefühl aufgerichtet, werden sie diesem  Schmerz zum Raube - und von einem Leiden, von  einem durchaus hülflosen Leiden, von einer absoluten Untätigkeit der Vernunft wenden wir uns mit Unwillen und Abscheu hinweg. Der tragische Dichter gibt  also mit Recht den gemischten Charakteren den Vorzug, und das Ideal seines Helden liegt in gleicher Entfernung zwischen dem ganz Verwerflichen und dem  Vollkommenen.

Die Tragödie endlich vereinigt alle diese Eigenschaften, um den mitleidigen Affekt zu erregen. Mehrere von den Anstalten, welche der tragische Dichter  macht, ließen sich ganz füglich zu einem andern  Zweck, z.B. einem moralischen, einem historischen  u.a. benutzen; daß er aber gerade diesen und keinen  andern sich vorsetzt, befreit ihn von allen Forderungen, die mit diesem Zweck nicht zusammenhängen,  verpflichtet ihn aber auch zugleich, bei jeder besondern Anwendung der bisher aufgestellten Regeln sich  nach diesem letzten Zwecke zu richten.

Der letzte Grund, auf den sich alle Regeln für eine  bestimmte Dichtungsart beziehen, heißt der Zweck  dieser Dichtungsart; die Verbindung der Mittel, wodurch eine Dichtungsart ihren Zweck erreicht, heißt  ihre Form. Zweck und Form stehen also miteinander  in dem genauesten Verhältnis. Diese wird durch jenen bestimmt und als notwendig vorgeschrieben, und der  erfüllte Zweck wird das Resultat der glücklich beobachteten Form sein.

Da jede Dichtungsart einen ihr eigentümlichen  Zweck verfolgt, so wird sie sich eben deswegen durch eine eigentümliche Form von den übrigen unterscheiden, denn die Form ist das Mittel, durch welches sie  ihren Zweck erreicht. Eben das, was sie ausschließend vor den übrigen leistet, muß sie vermöge derjenigen  Beschaffenheit leisten, die sie vor den übrigen  ausschließend besitzt. Der Zweck der Tragödie ist:  Rührung; ihre Form: Nachahmung einer zum Leiden  führenden Handlung. Mehrere Dichtungsarten können mit der Tragödie einerlei Handlung zu ihrem Gegenstand haben. Mehrere Dichtungsarten können den  Zweck der Tragödie, die Rührung, wenngleich nicht  als Hauptzweck, verfolgen. Das Unterscheidende der  letztern besteht also im Verhältnis der Form zu dem  Zwecke, d.i. in der Art und Weise, wie sie ihren Gegenstand in Rücksicht auf ihren Zweck behandelt, wie sie ihren Zweck durch ihren Gegenstand erreicht.

Wenn der Zweck der Tragödie ist, den mitleidigen  Affekt zu erregen, ihre Form aber das Mittel ist, durch welches sie diesen Zweck erreicht, so muß Nachahmung einer rührenden Handlung der Inbegriff aller  Bedingungen sein, unter welchen der mitleidige Affekt am stärksten erregt wird. Die Form der Tragödie  ist also die günstigste, um den mitleidigen Affekt zu  erregen.

Das Produkt einer Dichtungsart ist vollkommen, in  welchem die eigentümliche Form dieser Dichtungsart  zu Erreichung ihres Zweckes am besten benutzt worden ist. Eine Tragödie also ist vollkommen, in welcher die tragische Form, nämlich die Nachahmung  einer rührenden Handlung, am besten benutzt worden  ist, den mitleidigen Affekt zu erregen. Diejenige Tragödie würde also die vollkommenste sein, in welcher  das erregte Mitleid weniger Wirkung des Stoffs als  der am besten benutzten tragischen Form ist. Diese  mag für das Ideal der Tragödie gelten.

Viele Trauerspiele, sonst voll hoher poetischer  Schönheit, sind dramatisch tadelhaft, weil sie den  Zweck der Tragödie nicht durch die beste Benutzung  der tragischen Form zu erreichen suchen; andre sind  es, weil sie durch die tragische Form einen andern  Zweck als den der Tragödie erreichen. Nicht wenige  unsrer beliebtesten Stücke rühren uns einzig des Stoffes wegen, und wir sind großmütig oder unaufmerksam genug, diese Eigenschaft der Materie dem ungeschickten Künstler als Verdienst anzurechnen. Bei andern scheinen wir uns der Absicht gar nicht zu erinnern, in welcher uns der Dichter im Schauspielhause  versammelt hat, und zufrieden, durch glänzende Spiele der Einbildungskraft und des Witzes angenehm unterhalten zu sein, bemerken wir nicht einmal, daß wir  ihn mit kaltem Herzen verlassen. Soll die ehrwürdige  Kunst (denn das ist sie, die zu dem göttlichen Teil unsers Wesens spricht) ihre Sache durch solche Kämpfer vor solchen Kampfrichtern führen? - Die Genügsamkeit des Publikums ist nur ermunternd für die  Mittelmäßigkeit, aber beschimpfend und abschreckend für das Genie.

 

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