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Friedrich Schiller

Friedrich Schiller

(1759 - 1805)

 

 

Was heißt und zu welchem Ende 
studiert 
man Universalgeschichte?

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

Eine akademische Antrittsrede

Erfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine  h. H. H., an Ihrer Seite künftig ein Feld zu durchwandern, das dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem tätigen Weltmann so  herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen  so wichtige Aufschlüsse und jedem ohne Unterschied  so reiche Quellen des edelsten Vergnügens eröffnet -  das große weite Feld der allgemeinen Geschichte. Der Anblick so vieler vortrefflichen jungen Männer, die  eine edle Wißbegierde um mich her versammelt und  in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, läßt mich aber auch die Strenge und  Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden. Je größer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu  übergeben habe - und was hat da Mensch dem Menschen Größeres zu geben als Wahrheit? - desto mehr  muß ich Sorge tragen, daß sich der Wert desselben  unter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner Ihr Geist in dieser glücklichsten Epoche seines  Wirkens empfängt und je rascher sich Ihre jugendlichen Gefühle entflammen, desto mehr Aufforderung  für mich zu verhüten, daß sich dieser Enthusiasmus,  den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Täuschung nicht unwürdig verschwende.

Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet da  Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde Gestalten der Meinung, durch seine Torheit und seine Weisheit, seine  Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie  ihn, von allem, was er sich nahm und gab, muß sie  Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen,  dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedene Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben;  aber eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche  Weise miteinander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten - sich als Menschen auszubilden - und  zu dem Menschen eben redet die Geschichte.

Ehe ich es aber unternehmen kann, meine H. H.,  Ihre Erwartungen von diesem Gegenstande Ihres Fleißes genauer zu bestimmen und die Verbindung anzugeben, worin derselbe mit dem eigentlichen Zweck  Ihrer so verschiedenen Studien steht, wird es nicht  überflüssig sein, mich über diesen Zweck Ihrer Studien selbst vorher mit Ihnen einzuverstehen. Eine vorläufige Berichtigung dieser Frage, welche mir passend und würdig genug scheint, unsre künftige akademische Verbindung zu eröffnen, wird mich in den Stand  setzen, Ihre Aufmerksamkeit sogleich auf die würdigste Seite der Weltgeschichte hinzuweisen.

Anders ist der Studierplan, den sich der  Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen  zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und  der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur  darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt,  um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern  und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, ein  solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die  Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen  übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf  das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen  letztern widmete, würde er seinem künftigen Berufe  zu entziehen glauben und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines  Schicksals an ihn gemacht werden, und alles getan zu  haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese  Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entläßt er seine Führerinnen - denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine größte Angelegenheit ist jetzt, die  zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu  tragen und ja zu verhüten, daß sie in ihrem Werte  nicht sinken. Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit  zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede  wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu  eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieen als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf als eben diese?  Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit  Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem  Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer  Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte. Je weniger  seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen,  desto größere Vergeltung heischt er von außen; für  das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der  Geister hat er nur einen Maßstab, die Mühe. Darum  hört man niemand über Undank mehr klagen als den  Brotgelehrten; nicht bei seinen Gedankenschätzen  sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von  fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher  als der Brotgelehrte, Er hat umsonst gelebt, gewacht,  gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht,  wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.

Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten  aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts  Höheres will und ausrichtet als der Taglöhner mit  dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt! -  Noch beklagenswerter aber ist der junge Mann von  Genie, dessen natürlich schöner Gang durch schädliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg  verlenkt wird, der sich überreden ließ, für seinen  künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als  ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm  aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein  Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen.  Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er  Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das  Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn  zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht entgegensetzen kann, da nur die helle Einsicht, nur die geahndete Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der  Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das  große Ganze der Welt anzuschließen. Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, sobald der  Schimmer besserer Kultur ihre Blößen ihm beleuchtet, anstatt daß er jetzt streben sollte, ein neuer Schöpfer derselben zu sein und den entdeckten Mangel aus  innerer Fülle zu verbessern. Der Arzt entzweiet sich  mit seinem Beruf, sobald ihm wichtige Fehlschläge  die Unzuverlässigkeit seiner Systeme zeigen; der  Theolog verliert die Achtung für den seinigen, sobald  sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebäudes wankt.

Wie ganz anders verhält sich der philosophische  Kopf! - Ebenso sorgfältig, als der Brotgelehrte seine  Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt  sich jener, ihr Gebiet zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wiederherzustellen - herzustellen sage  ich, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene  Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden. Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt  der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnen- welt, alles ineinander greife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht  begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld  kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im  Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht  und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick  überschauet. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen  sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten  noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es  vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt  den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so  hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein  Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so  ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach  Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der  es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener  wiederherzustellen. Durch immer neue und immer  schönere Gedankenformen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der  Brotgelehrte in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet.

Kein gerechterer Beurteiler fremden Verdiensts als  der philosophische Kopf Scharfsichtig und erfinderisch genug, um jede Tätigkeit zu nutzen, ist er auch  billig genug, den Urheber auch der kleinsten zu ehren. Für ihn arbeiten alle Köpfe - alle Köpfe arbeiten  gegen den Brotgelehrten. Jener weiß alles, was um  ihn geschiehet und gedacht wird, in sein Eigentum zu  verwandeln - zwischen denkenden Köpfen gilt eine  innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was  einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben - Der Brotgelehrte verzäunet sich gegen alle  seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne  mißgönnt, und bewacht mit Sorge die baufällige  Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende  Vernunft verteidigt. Zu allem, was da Brotgelehrte  unternimmt, muß er Reiz und Aufmunterung von  außen her borgen: der philosophische Geist findet in  seinem Gegenstand, in seinem Fleiße selbst Reiz und  Belohnung. Wieviel begeisterter kann er sein Werk  angreifen, wieviel lebendiger wird sein Eifer, wieviel  ausdaurender sein Mut und seine Tätigkeit sein, da  bei ihm die Arbeit sich durch die Arbeit verjünget.  Das Kleine selbst gewinnt Größe unter seiner schöpferischen Hand, da er dabei immer das Große im  Auge hat, dem es dienet, wenn der Brotgelehrte in  dem Großen selbst nur das Kleine sieht. Nicht was er  treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt,  unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch  stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des  Ganzen, und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonisch  wirkenden Verstand, er begegnet ihnen, wo alle helle  Köpfe einander finden.

Soll ich diese Schilderung noch weiter fortführen  oder darf ich hoffen, daß es bereits bei Ihnen entschieden sei, welches von den beiden Gemälden, die ich  Ihnen hier vorgehalten habe, Sie sich zum Muster  nehmen wollen? Von der Wahl, die Sie zwischen beiden getroffen haben, hängt es ab, ob Ihnen das Studium der Universalgeschichte empfohlen oder erlassen  werden kann. Mit dem zweiten allein habe ich es zu  tun; denn bei dem Bestreben, sich dem ersten nützlich zu machen, möchte sich die Wissenschaft selbst allzu  weit von ihrem höhern Endzweck entfernen und einen  kleinen Gewinn mit einem zu großen Opfer erkaufen. Über den Gesichtspunkt mit Ihnen einig, aus welchem der Wert einer Wissenschaft zu bestimmen ist,  kann ich mich dem Begriff der Universalgeschichte  selbst, dem Gegenstand der heutigen Vorlesung nähern.

Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten  gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als  unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen  und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen,  was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen  Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu  haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug  würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu  machen und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wiederherzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht  einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken.  Der Mensch fing noch verächtlicher an. Wir finden  jene doch schon als Völker, als politische Körper;  aber der Mensch mußte sich erst durch eine außerordentliche Anstrengung zur politischen Gesellschaft  erheben.

Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von  diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das  Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz  des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Tieren  um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die  Sprache noch kaum von tierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so  einfache Band der Ehe, dort noch keine Kenntnis des  Eigentums; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht  einmal eine Erfahrung fest halten, die sie doch täglich  wiederholte; sorglos sah man den Wilden das Lager  hingeben, worauf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, daß er morgen wieder schlafen würde.. Krieg hingegen war bei allen, und das Fleisch des überwundenen Feindes nicht selten der Preis des Sieges. Bei andern, die, mit mehrern Gemächlichkeiten des Lebens  vertraut, schon eine höhere Stufe der Bildung erstiegen hatten, zeigten Knechtschaft und Despotismus ein schauderhaftes Bild. Dort sah man einen Despoten  Afrikas seine Untertanen für einen Schluck Branntwein verhandeln; - hier wurden sie auf seinem Grab  abgeschlachtet, ihm in der Unterwelt zu dienen. Dort  wirft sich die fromme Einfalt vor einem lächerlichen  Fetisch und hier vor einem grausenvollen Scheusal  nieder; in seinen Göttern malt sich der Mensch. So  tief ihn dort Sklaverei, Dummheit und Aberglauben  niederbeugen, so elend ist er hier durch das andre Extrem gesetzloser Freiheit. Immer zum Angriff und zur  Verteidigung gerüstet, von jedem Geräusch aufgescheucht, reckt der Wilde sein scheues Ohr in die  Wüste; Feind heißt ihm alles, was neu ist, und wehe  dem Fremdling, den das Ungewitter an seine Küste  schleudert! Kein wirtlicher Herd wird ihm rauchen,  kein süßes Gastrecht ihn erfreuen. Aber selbst da, wo  sich der Mensch von einer feindseligen Einsamkeit  zur Gesellschaft, von der Not zum Wohlleben, von  der Furcht zu der Freude erhebt - wie abenteuerlich  und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher  Geschmack sucht Fröhlichkeit in der Betäubung,  Schönheit in der Verzerrung, Ruhm in der Übertreibung; Entsetzen erweckt uns selbst seine Tugend, und das, was er seine Glückseligkeit nennt, kann uns nur  Ekel oder Mitleid erregen.

So waren wir. Nicht viel besser fanden uns Cäsar  und Tacitus vor achtzehnhundert Jahren. Was sind wir jetzt? - Lassen Sie mich einen Augenblick bei dem Zeitalter stillestehen, worin wir  leben, bei der gegenwärtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen.

Der menschliche Fleiß hat sie angebaut und den  widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit überwunden. Dort hat er dem Meere  Land abgewonnen, hier dem dürren Lande Ströme gegeben. Zonen und Jahrszeiten hat der Mensch durcheinander gemengt und die weichlichen Gewächse des  Orients zu seinem rauheren Himmel abgehärtet. Wie  er Europa nach Westindien und dem Südmeere trug,  hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heitrer  Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstrahl auftat, und in den Wellen des Rheins spiegeln  sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich  volkreiche Städte, die Genuß und Arbeit in munterm  Leben durchschwärmen. Hier finden wir den  Menschen in seines Erwerbes friedlichem Besitz sicher unter einer Million, ihn, dem sonst ein einziger  Nachbar den Schlummer raubte. Die Gleichheit, die er durch seinen Eintritt in die Gesellschaft verlor, hat er  wiedergewonnen durch weise Gesetze. Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Not hat er sich unter  die sanftere Herrschaft der Verträge geflüchtet und die Freiheit des Raubtiers hingegeben, um die edlere Freiheit des Menschen zu retten. Wohltätig haben sich  seine Sorgen getrennt, seine Tätigkeiten verteilt. Jetzt  nötigt ihn das gebieterische Bedürfnis nicht mehr an  die Pflugschar, jetzt fordert ihn kein Feind mehr von  dem Pflug auf das Schlachtfeld, Vaterland und Herd  zu verteidigen. Mit dem Arme des Landmanns füllt er seine Scheunen, mit den Waffen des Kriegers schützt  er sein Gebiet. Das Gesetz wacht über sein Eigentum - und ihm bleibt das unschätzbare Recht, sich  selbst seine Pflicht auszulesen.

Wie viele Schöpfungen der Kunst, wie viele Wunder des Fleißes, welches Licht in allen Feldern des  Wissens, seitdem der Mensch in der traurigen Selbstverteidigung seine Kräfte nicht mehr unnütz verzehrt,  seitdem es in seine Willkür gestellt worden, sich mit  der Not abzufinden, der er nie ganz entfliehen soll;  seitdem er das kostbare Vorrecht errungen hat, über  seine Fähigkeit frei zu gebieten und dem Ruf seines  Genius zu folgen! Welche rege Tätigkeit überall,  seitdem die vervielfältigten Begierden dem Erfindungsgeist neue Flügel gaben und dem Fleiß neue  Räume auftaten! - Die Schranken sind durchbrochen,  welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft  jetzt ein weltbürgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuern  Galilei und Erasmus bescheinen.

Seitdem die Gesetze zu der Schwäche des Menschen herunterstiegen, kam der Mensch auch den Gesetzen entgegen. Mit ihnen ist er sanfter geworden,  wie er mit ihnen verwilderte; ihren barbarischen Strafen folgen die barbarischen Verbrechen allmählich in  die Vergessenheit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist geschehen, daß die Gesetze tugendhaft sind,  wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die  Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und  kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und der Ehre in Schranken.

Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Überreste aus den vorigen eingedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die  das Zeitalter der Vernunft nicht verewigen sollte.  Aber wieviel Zweckmäßigkeit hat der Verstand des  Menschen auch diesem barbarischen Nachlaß der ältern und mittlern Jahrhunderte gegeben! Wie  unschädlich, ja wie nützlich hat er oft gemacht, was er umzustürzen noch nicht wagen konnte! Auf dem  rohen Grunde der Lehenanarchie führte Teutschland  das System seiner politischen und kirchlichen Freiheit auf. Das Schattenbild des römischen Imperators, das  sich diesseits der Apenninen erhalten, leistet der Welt  jetzt unendlich mehr Gutes als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom - denn es hält ein nützliches  Staatssystem durch Eintracht zusammen: jenes drückte die tätigsten Kräfte der Menschheit in einer sklavischen Einförmigkeit darnieder. Selbst unsre Religion - so sehr entstellt durch die untreuen Hände, durch welche sie uns überliefert worden - wer kann in ihr  den veredelnden Einfluß der bessern Philosophie verkennen? Unsre Leibnize und Locke machten sich um  das Dogma und um die Moral des Christentums  ebenso verdient als - der Pinsel eines Raphael und  Correggio um die heilige Geschichte.

Endlich unsre Staaten - mit welcher Innigkeit, mit  welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! wieviel dauerhafter durch den wohltätigen Zwang der Not als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter  Krieg, und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum  Wächter über den Wohlstand des andern. Die  europäische Staatengesellschaft scheint in eine große  Familie verwandelt. Die Hausgenossen können  einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.

Welche entgegengesetzte Gemälde! Wer sollte in  dem verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhunderts nur einen fortgeschrittnen Bruder des neuern Kanadiers, des alten Celten vermuten? Alle diese Fertigkeiten, Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese Schöpfungen der Vernunft sind im Raume von wenigen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und entwickelt worden; alle diese Wunder der Kunst, diese  Riesenwerke des Fleißes sind aus ihm herausgerufen  worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte  diese heraus? Welche Zustände durchwanderte der  Mensch, bis er von jenem Äußersten zu diesem Äußersten, vom ungeselligen Höhlenbewohner - zum  geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann hinaufstieg? - Die allgemeine Weltgeschichte gibt Antwort auf diese Frage.

So unermeßlich ungleich zeigt sich uns das nämliche Volk auf dem nämlichen Landstriche, wenn wir es in verschiedenen Zeiträumen anschauen! Nicht weniger auffallend ist der Unterschied, den uns das gleichzeitige Geschlecht, aber in verschiedenen Ländern  darbietet. Welche Mannigfaltigkeit in Gebräuchen,  Verfassungen und Sitten! Welcher rasche Wechsel  von Finsternis und Licht, von Anarchie und Ordnung, von Glückseligkeit und Elend, wenn wir den  Menschen auch nur in dem kleinen Weltteil Europa  aufsuchen! Frei an der Themse, und für diese Freiheit  sein eigener Schuldner; hier unbezwingbar zwischen  seinen Alpen, dort zwischen seinen Kunstflüssen und  Sümpfen unüberwunden. An der Weichsel kraftlos  und elend durch seine Zwietracht; jenseits der Pyrenäen durch seine Ruhe kraftlos und elend. Wohlhabend  und gesegnet in Amsterdam ohne Ernte; dürftig und  unglücklich an des Ebro unbenutztem Paradiese. Hier  zwei entlegene Völker durch ein Weltmeer getrennt  und zu Nachbarn gemacht durch Bedürfnis, Kunstfleiß und politische Bande; dort die Anwohner eines  Stromes durch eine andere Liturgie unermeßlich geschieden! Was führte Spaniens Macht über den Atlantischen Ozean in das Herz von Amerika, und nicht  einmal über den Tajo und Guadiana hinüber? Was erhielt in Italien und Teutschland so viele Thronen und  ließ in Frankreich alle, bis auf einen, verschwinden?  - Die Universalgeschichte löst diese Frage.

Selbst daß wir uns in diesem Augenblick hier zusammenfanden, uns mit diesem Grade von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden, ist das Resultat vielleicht aller  vorhergegangenen Weltbegebenheiten: die ganze  Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses  einzige Moment zu erklären. Daß wir uns als Christen zusammenfanden, mußte diese Religion, durch unzäh- lige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judentum her- vorgehen, mußte sie den römischen Staat genau so  finden, als sie ihn fand, um sich mit schnellem siegendem Lauf über die Welt zu verbreiten und den Thron  da Cäsarn endlich selbst zu besteigen. Unsre rauhen  Vorfahren in den thüringischen Wäldern mußten der  Übermacht da Franken unterliegen, um ihren Glauben anzunehmen. Durch seine wachsenden Reichtümer,  durch die Unwissenheit da Völker und durch die  Schwäche ihrer Beherrscher mußte der Klerus verführt und begünstigt werden, sein Ansehen zu mißbrauchen und seine stille Gewissensmacht in ein  weltliches Schwert umzuwandeln. Die Hierarchie  mußte in einem Gregor und Innozenz alle ihre Greuel  auf das Menschengeschlecht ausleeren, damit das  überhandnehmende Sittenverderbnis und des geistlichen Despotismus schreiendes Skandal einen unerschrockenen Augustinermönch auffordern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben und dem römischen  Hierarchen eine Hälfte Europens zu entreißen - wenn  wir uns als protestantische Christen hier versammeln  sollten. Wenn dies geschehen sollte, so mußten die  Waffen unsrer Fürsten Karln V. einen Religionsfrieden abnötigen; ein Gustav Adolf mußte den Bruch  dieses Friedens rächen, ein neuer allgemeiner Friede  ihn auf Jahrhunderte begründen. Städte mußten sich  in Italien und Teutschland erheben, dem Fleiß ihre  Tore öffnen, die Ketten der Leibeigenschaft zerbrechen, unwissenden Tyrannen den Richterstab aus den  Händen ringen und durch eine kriegerische Hansa  sich in Achtung setzen, wenn Gewerbe und Handel  blühen und da Überfluß den Künsten da Freude rufen, wenn der Staat den nützlichen Landmann ehren und  in dem wohltätigen Mittelstande, dem Schöpfer unsrer ganzen Kultur, ein dauerhaftes Glück für die  Menschheit heranreifen sollte. Teutschlands Kaiser  mußten sich in jahrhundertlangen Kämpfen mit den  Päpsten, mit ihren Vasallen, mit eifersüchtigen Nachbarn entkräften - Europa sich seines gefährlichen  Überflusses in Asiens Gräbern entladen und der trotzige Lehenadel in einem mörderischen Faustrecht,  Römerzügen und heiligen Fahrten seinen Empörungsgeist ausbluten - wenn das verworrene Chaos sich  sondern und die streitenden Mächte des Staats in dem  gesegneten Gleichgewicht ruhen sollten, wovon unsre  jetzige Muße der Preis ist. Wenn sich unser Geist aus  der Unwissenheit herausringen sollte, worin geistlicher und weltlicher Zwang ihn gefesselt hielt: so  mußte der lang erstickte Keim der Gelehrsamkeit  unter ihren wütendsten Verfolgern aufs neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wissenschaften den  Raub vergüten, den ein Omar an ihnen verübt hatte.  Das unerträgliche Elend der Barbarei mußte unsre  Vorfahren von den blutigen Urteilen Gottes zu  menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende  Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der  Natur zurückrufen, der Müßiggang der Mönche  mußte für das Böse, das ihre Werktätigkeit schuf, von ferne einen Ersatz zubereiten und der profane Fleiß in  den Klöstern die zerrütteten Reste des Augustischen  Weltalters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunst  hinhalten. An griechischen und römischen Mustern  mußte der niedergedrückte Geist nordischer Barbaren  sich aufrichten und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen  Weg zu dem Herzen finden und den Namen einer  Menschenbilderin sich verdienen sollte. - Aber hätte  Griechenland wohl einen Thukydides, einen Plato,  einen Aristoteles, hätte Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Livius geboren, wenn diese beiden Staaten nicht zu derjenigen Höhe des politischen  Wohlstands emporgedrungen wären, welche sie wirklich erstiegen haben? Mit einem Wort- wenn nicht  ihre ganze Geschichte vorhergegangen wäre, Wie  viele Erfindungen, Entdeckungen, Staats, und  Kirchenrevolutionen mußten zusammentreffen, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wissenschaft und  Kunst Wachstum und Ausbreitung zu geben! Wie  viele Kriege mußten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um  endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt,  ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten und  ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln!

Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die  Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die  ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu  unsrer Kultur, wie die entlegensten Weltteile zu unserm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze  an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kaufen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel und ebenso  viele neue Werkzeuge unsers Verderbens - setzen sie  nicht einen Kolumbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte?

Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinander greifen. Ganz und vollzählig überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. 

I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden,  oder sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden.  Da, hin gehören alle, die dem Menschengeschlechte  selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen  sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und  das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze  Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für  die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren.

II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und  durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene  Dinge auszudrücken und weiter mitzuteilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern  und wandelbaren Weg der Sagen. Von Munde zu  Munde pflanzte sich eine solche Begebenheit durch  eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie  durch Media ging, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese Veränderungen miterleiden.  Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist  daher eine sehr unzuverlässige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als  verloren. 

III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich; unzählig viele Denkmäler des Altertums  haben Zeit und Zufälle zerstört, und nur wenige  Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet. Bei weitem der größre  Teil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte,  für die Weltgeschichte verloren. 

IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den  Unverstand und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und unkennbar gemacht. Das  Mißtrauen erwacht bei dem ältesten historischen  Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal bei einer  Chronik des heutigen Tages. Wenn wir über eine Begebenheit, die sich heute erst und unter Menschen, mit denen wir leben, und in der Stadt, die wir bewohnen,  ereignet, die Zeugen abhören und aus ihren widersprechenden Berichten Mühe haben die Wahrheit zu enträtseln: welchen Mut können wir zu Nationen und  Zeiten mitbringen, die durch Fremdartigkeit der Sitten weiter als durch ihre Jahrtausende von uns entlegen  sind? - Die kleine Summe von Begebenheiten, die  nach allen bisher geschehenen Abzügen zurückbleibt,  ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande. Was und wieviel von diesem historischen  Stoff gehört nun der Universalgeschichte?

Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt  da Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf  die heutige Gestalt da Welt und den Zustand der jetzt  lebenden Generation einen wesentlichen, unwider- sprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf  gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln. Die Weltgeschichte geht also  von einem Prinzip aus, das dem Anfang der Welt  gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker  rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen. Wenn er von dem laufenden Jahr und Jahrhundert zu dem nächstvorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt und unter den Begebenheiten, die das letztere ihm darbietet, diejenigen  sich merkt, welche den Aufschluß über die nächstfolgenden enthalten - wenn er diesen Gang schrittweise  fortgesetzt hat bis zum Anfang - nicht der Welt, denn dahin führt ihn kein Wegweiser - bis zum Anfang der Denkmäler, dann steht es bei ihm, auf dem gemachten Weg umzukehren und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang da Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter  herunterzusteigen. Dies ist die Weltgeschichte, die  wir haben und die Ihnen wird vorgetragen werden. Weil die Weltgeschichte von dem Reichtum und  der Armut an Quellen abhängig ist, so müssen ebenso viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es  leere Strecken in der Überlieferung gibt. So gleichförmig, notwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und  zufällig werden sie in der Geschichte ineinander gefügt sein. Es ist daher zwischen dem Gange der Welt  und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches  Mißverhältnis sichtbar. Jenen möchte man mit einem  ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen,  wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird. Da es ferner leicht geschehen  kann, daß der Zusammenhang einer entfernten Weltbegebenheit mit dem Zustand des laufenden Jahres  früher in die Augen fällt als die Verbindung, worin  sie mit Ereignissen stehet, die ihr vorhergingen oder  gleichzeitig waren: so ist es ebenfalls unvermeidlich,  daß Begebenheiten, die sich mit dem neuesten Zeitalter aufs genaueste binden, in dem Zeitalter, dem sie  eigentlich angehören, nicht selten isoliert erscheinen.  Ein Faktum dieser Art wäre z.B. der Ursprung des  Christentums und besonders der christlichen Sittenlehre. Die christliche Religion hat an der gegenwärtigen Gestalt der Welt einen so vielfältigen Anteil, daß  ihre Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltgeschichte wird; aber weder in der Zeit, wo sie sich  zeigte, noch in dem Volke, bei dem sie aufkam, liegt  (aus Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklärungsgrund ihrer Erscheinung.

So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und  nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt  also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche  Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat  zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der  Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der  Naturgesetze und des menschlichen Gemüts, welche  Einheit Ursache ist, daß die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher  Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren; daß also von den neuesten Erscheinungen,  die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtlosen Zeiten verlieren,  rückwärts ein Schluß gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann. Die Methode, nach der Analogie  zu schließen, ist, wie überall, so auch in der Geschichte ein mächtiges Hülfsmittel; aber sie muß  durch einen erheblichen Zweck gerechtfertigt und mit  ebenso viel Vorsicht als Beurteilung in Ausübung gebracht werden.

Nicht lange kann sich der philosophische Geist bei  dem Stoffe der Weltgeschichte verweilen, so wird ein  neuer Trieb in ihm geschäftig werden, der nach Übereinstimmung strebt - der ihn unwiderstehlich reizt,  alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen  Natur zu assimilieren und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung, die er erkannt,  zum Gedanken zu erheben. Je öfter also und mit je  glücklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das  Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen,  desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und  Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freilich nur in seiner Vorstellung  vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureihen.  Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung so viel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verleugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Notwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte, eine so heitre Gestalt zu gewinnen. Er nimmt also diese Harmonie aus  sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die  Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen  Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches  Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beistimmende Fakta  bestätigt und durch ebenso viele andre widerlegt;  aber solange in der Reihe der Weltveränderungen  noch wichtige Bindungsglieder fehlen, solange das  Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten  Aufschluß noch zurückhält, erklärt er die Frage für  unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche  dem Verstande die höhere Befriedigung und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat.

Es bedarf wohl keiner Erinnerung, daß eine Weltgeschichte nach letzterm Plane in den spätesten Zeiten erst zu erwarten steht. Eine vor, schnelle Anwendung  dieses großen Maßes könnte den Geschichtsforscher  leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzutun und diese glückliche Epoche für die  Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er  sie beschleunigen will. Aber nicht zu frühe kann die  Aufmerksamkeit auf diese lichtvolle und doch so sehr  vernachlässigte Seite da Weltgeschichte gezogen werden, wodurch sie sich an den höchsten Gegenstand  aller menschlichen Bestrebungen anschließt. Schon  der stille Hinblick auf dieses, wenn auch nur mögliche Ziel muß dem Fleiß des Forschers einen belebenden Sporn und eine süße Erholung geben. Wichtig  wird ihm auch die kleinste Bemühung sein, wenn er  sich auf dem Wege sieht oder auch nur einen späten  Nachfolger darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner  schönsten Wirkung zu begegnen.

Und auf solche Art behandelt, m. H. H., wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine ebenso anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren. Licht  wird sie in Ihrem Verstande und eine wohl, tätige  Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden. Sie wird  Ihren Geist von da gemeinen und kleinlichen Ansicht  moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor  Ihren Augen das große Gemälde da Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten  Urteile der Selbst, sucht verbessern. Indem sie den  Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen und mit seinen Schlüssen in  die ferne Zukunft vorauszueilen: so verbirgt sie die  Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des  Menschen so eng und so drückend umschließen, so  breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in  einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.

Der Mensch verwandelt sich und flieht von der  Bühne; seine Meinungen fliehen und verwandeln sich  mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf  dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Na- tionen und Zeiten. Wie der homerische Zeus sieht sie  mit gleich heiterm Blicke auf die blutigen Arbeiten  des Kriegs und auf die friedlichen Völker herab, die  sich von der Milch ihrer Herden schuld, los ernähren.  Wie regellos auch die Freiheit des Menschen mit dem  Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie dem verworrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick  entdeckt schon von ferne, wo diese regellos  schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines  Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der  Menschheit zu offenbaren: »daß der selbstsüchtige  Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber  unbewußt vortreffliche befördert«

Kein falscher Schimmer wird sie blenden, kein  Vorurteil der Zeit sie dahinreißen, denn sie erlebt das  letzte Schicksal aller Dinge. Alles, was aufhört, hat  für sie gleich kurz gedauert: sie hält den verdienten  Olivenkranz frisch und zerbricht den Obelisken, den  die Eitelkeit türmte. Indem sie das feine Getriebe auseinanderlegt, wodurch die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen  planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeutet,  was in jedem Zeitraume für diesen großen Naturplan  gewonnen worden ist: so stellt sie den wahren Maßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her, den  der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert anders  verfälschte. Sie heilt uns von der übertriebenen Bewunderung des Altertums und von der kindischen  Sehnsucht nach vergangenen Zeiten; und indem sie  uns auf unsre eigenen Besitzungen aufmerksam  macht, läßt sie uns die gepriesenen goldnen Zeiten  Alexanders und Augusts nicht zurückwünschen.

Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen,  haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle  Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht  haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen,  einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit  und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut  der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere  Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden  müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein  heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet,  könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein,  ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das  kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein  edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und  Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und  reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen  und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle  Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes  Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem  Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan,  zu der wahren Unsterblichkeit, meine ich, wo die Tat  lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.

 

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