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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Dreizehntes Buch

V

Wissenschaftliche Übungen der Griechen

Keinem Volk der Erde tut man sein Recht an, wenn man ihm ein fremdes Ideal der Wissenschaft aufdringt; so ist's mit vielen Völkern Asiens auch den Griechen gegangen, und man hat sie mit Lobe und Tadel oft unbillig überhäuft. Von keiner spekulativen Dogmatik z.B. über Gott und die menschliche Seele wußten die Griechen; die Untersuchungen hierüber waren freie Privatmeinungen, sobald der Weltweise die gottesdienstlichen Gebräuche seines Landes beobachtete und keine politische Partei ihm im Wege stand. In Rücksicht dieser hat sich der menschliche Geist in Griechenland, wie überall, seinen Raum erkämpfen müssen, den er sich aber doch zuletzt wirklich erkämpfte.

Von alten Göttersagen und Theogonien ging die griechische Weltweisheit aus, und es ist merkwürdig viel, was der feine Geist dieser Nation hierüber ausspann. Die Dichtungen von der Geburt der Götter, vom Streit der Elemente, von Haß und Liebe der Wesen gegeneinander sind von ihren verschiedenen Schulen in so verschiedenen Richtungen ausgebildet worden, daß man beinah sagen möchte, sie waren so weit, als wir sind, wenn wir ohne Naturgeschichte Weltentstehungen dichten. Ja in gewissem Betracht waren sie weiter, weil ihr Sinn freier war und keine gegebne Hypothese ihnen ein Ziel vorsteckte. Selbst die Zahlen Pythagoras' und anderer Philosophen sind kühne Versuche, die Wissenschaft der Dinge mit dem reinsten Begriff der menschlichen Seele, einer deutlich gedachten Größe zu paaren; weil aber sowohl die Naturwissenschaft als die Mathematik damals noch in ihrer Kindheit waren, so kam dieser Versuch zu frühe. Immer aber lockt er uns, so wie die Systeme mancher andern griechischen Philosophen, eine Art von Verehrung ab, weil diese allesamt, jedes aus seinem Standpunkt, tief durchdacht und von weitem Umfange waren; manchem derselben liegen Wahrheiten und Bemerkungen zum Grunde, die wir seitdem, vielleicht nicht zum Vorteil der Wissenschaft, aus den Augen verloren haben, Daß z.B. keiner der alten Philosophen sich an Gott ein außerweltliches Wesen oder eine höchst metaphysische Monade dachte, sondern alle bei dem Begriff einer Weltseele stehenblieben, war der Kindheit menschlicher Philosophie völlig angemessen und wird ihr vielleicht immer angemessen bleiben. Schade ist's, daß wir der kühnsten Philosophen Meinung nur aus verstümmelten Nachrichten, nicht aber aus ihren eignen Schriften im Zusammenhange wissen; aber noch mehr schade, daß wir uns ungern in ihre Zeit setzen und sie lieber unserer Denkart bequemen. Jede Nation hat in allgemeinen Begriffen ihre eigene Sehart, die meistens in den Formen des Ausdrucks, kurz, in der Tradition ihren Grund hat, und da bei den Griechen die Philosophie aus Gedichten und Allegorien entstanden war, so gaben diese auch ihren Abstraktionen ein eigentümliches, ihnen nicht undeutliches Gepräge. Selbst noch bei Plato sind seine Allegorien nicht bloße Ziererei; ihre Bilder sind wie klassische Sprüche der Vorzeit, feinere Entwickelungen der alten Dichtertraditionen.

Zur menschlichen und moralischen Philosophie aber neigte sich der Forschungsgeist der Griechen vorzüglich, weil ihre Zeit und Verfassung sie am meisten dieses Weges führte. Naturgeschichte, Physik und Mathematik waren damals noch lange nicht gnug angebaut und zu unsern neuern Entdeckungen die Werkzeuge noch nicht erfunden. Alles zog sich dagegen auf die Natur und die Sitten der Menschen. Dies war der herrschende Ton der griechischen Dichtkunst, Geschichte und Staatseinrichtung: Jeder Bürger mußte seine Mitbürger kennen und bisweilen öffentliche Geschäfte verwalten, denen er sich nicht entziehen konnte; die Leidenschaften und wirkenden Kräfte der Menschen hatten damals ein freieres Spiel, selbst dem müßigen Philosophen schlichen sie nicht unbemerkt vorüber; Menschen zu regieren oder als ein lebendes Glied der Gesellschaft zu wirken war der herrschende Zug jeder emporstrebenden griechischen Seele. Kein Wunder also, daß auch die Philosophie des abstrakten Denkers auf Bildung der Sitten oder des Staats hinausging, wie Pythagoras, Plato und selbst Aristoteles dies beweisen. Staaten einzurichten war ihr bürgerlicher Beruf nicht; nirgend war Pythagoras, wie Lykurgus, Solon oder andere, Obrigkeit und Archon; auch der größeste Teil seiner Philosophie war Spekulation, die sogar bis an den Aberglauben grenzte. Indessen zog seine Schule Männer, die auf die Staaten Großgriechenlandes den größesten Einfluß gehabt haben, und der Bund seiner Jünger wäre, wenn ihm das Schicksal Dauer gegönnt hätte, vielleicht die wirksamste, wenigstens eine sehr reine Triebfeder zur Verbesserung der Welt worden. [227] Aber auch dieser Schritt des über seine Zeit hocherhabenen Mannes war zu früh: die reichen, sybaritischen Städte Großgriechenlandes nebst ihren Tyrannen begehrten solche Sittenwächter nicht, und die Pythagoreer wurden ermordet.

Es ist ein zwar oft wiederholter, aber, wie mich dünkt, überspannter Lobspruch des menschenfreundlichen Sokrates, daß er's zuerst und vorzüglich gewesen sei, der die Philosophie vom Himmel auf die Erde gerufen und mit dem sittlichen Leben der Menschen befreundet habe; wenigstens gilt der Lobspruch nur die Person Sokrates selbst und den engen Kreis seines Lebens. Lange vor ihm waren Philosophen gewesen, die sittlich und tätig für die Menschen philosophiert hatten, da vom fabelhaften Orpheus an eben dies der bezeichnende Charakter der griechischen Kultur war. Auch Pythagoras hatte durch seine Schule eine viel größere Anlage zur Bildung menschlicher Sitten gemacht, als Sokrates durch alle seine Freunde je hatte machen mögen. Daß dieser die höhere Abstraktion nicht liebte, lag an seinem Stande, am Kreise seiner Kenntnisse, vorzüglich aber an seiner Zeit und Lebensweise. Die Systeme der Einbildungskraft ohne fernere Naturerfahrungen waren erschöpft und die griechische Weisheit ein gaukelndes Geschwätz der Sophisten worden, daß es also keines großen Schrittes bedurfte, das zu verachten oder beiseit zu legen, was nicht weiter zu übertreffen war. Vor dem schimmernden Geist der Sophisten schützte ihn sein Dämon, seine natürliche Redlichkeit und der bürgerliche Gang seines Lebens. Dieser steckte zugleich seiner Philosophie das eigentliche Ziel der Menschheit vor, das beinah auf alle, mit denen er umging, so schöne Folgen hatte; allerdings gehörte aber zu dieser Wirksamkeit die Zeit, der Ort und der Kreis von Menschen, mit denen Sokrates lebte. Anderswo wäre der bürgerliche Weise ein aufgeklärter tugendhafter Mann gewesen, ohne daß wir vielleicht seinen Namen wüßten; denn keine Erfindung, keine neue Lehre ist's, die er, ihm eigen, ins Buch der Zeiten verzeichnet; nur durch seine Methode und Lebensweise, durch die moralische Bildung, die er sich selbst gegeben hatte und andern zu geben suchte, vorzüglich endlich durch die Art seines Todes wurde er der Welt ein Muster. Es gehörte viel dazu, ein Sokrates zu sein, vor allem die schöne Gabe, entbehren zu können, und der feine Geschmack an moralischer Schönheit, den er bei sich zu einer Art von Instinkt erhöht zu haben scheint; indessen hebe man auch diesen bescheidnen edeln Mann nicht über die Sphäre empor, in welche ihn die Vorsehung selbst stellte. Er hat wenige, seiner ganz würdige, Schüler gezogen, eben weil seine Weisheit gleichsam nur zum Hausgerät seines eigenen Lebens gehörte und seine vortreffliche Methode im Munde seiner nächsten Schüler gar zu leicht in Spöttereien und Sophismen ausarten konnte, sobald es dem ironischen Fragenden am Geistes- und Herzenscharakter Sokrates' fehlte. Auch seine zwei edelsten Jünger, Xenophon und Plato, vergleiche man unparteiisch, so wird man finden, daß er bei ihnen (wie er selbst den bescheidenen Ausdruck liebte) nur die Hebamme ihrer eignen Geistesgestalt gewesen war; daher er sich auch im Bilde beider so unähnlich sieht. Das Auszeichnende ihrer Schriften rührt offenbar von ihrer eignen Denkart her, und der schönste Dank, den sie ihrem geliebten Lehrer bringen konnten, war der, daß sie sein moralisches Bild aufstellten. Allerdings wäre es sehr zu wünschen gewesen, daß durch Sokrates' Schüler sein Geist in alle Gesetze und Staatsverfassungen Griechenlandes fortan eingedrungen wäre; daß dieses aber nicht geschehen sei, bezeugt die griechische Geschichte. Sein Leben traf auf den Punkt der höchsten Kultur Athens, zugleich aber auch der höchsten Anstrengung der griechischen Staaten gegeneinander; beides konnte nichts anders als unglückliche Zeiten und Sitten nach sich ziehen, die nicht gar lange darauf den Untergang der griechischen Freiheit bewirkten. Hiegegen schützte sie keine sokratische Weisheit, die zu rein und fein war, als daß sie das Schicksal der Völker hätte entscheiden mögen. Der Staatsmann und Kriegsführer Xenophon schildert schlechte Staatsverfassungen; er kann sie aber nicht ändern. Plato schuf eine idealische Republik, die nirgend, am wenigsten an Dionysius' Hofe, Platz fand. Kurz, Sokrates' Philosophie hat mehr der Menschheit als Griechenland gedienet, welches ohne Zweifel auch ihr schönerer Ruhm ist.

Ein ganz anderer war Aristoteles' Geist, der scharfsinnigste, festeste und trockenste vielleicht, der je den Griffel geführt. Seine Philosophie ist freilich mehr die Philosophie der Schule als des gemeinen Lebens, insonderheit in den Schriften, die wir von ihm haben, und nach der Weise, wie man sie gebrauchte; um so mehr aber hat die reine Vernunft und Wissenschaft durch ihn gewonnen, so daß er in ihrem Gebiet als ein Monarch der Zeiten dasteht. Daß die Scholastiker meistens nur auf seine Metaphysik verfielen, war ihre, nicht Aristoteles' Schuld, und doch hat sich auch an solcher die menschliche Vernunft unglaublich geschärft. Sie reichte barbarischen Nationen Werkzeuge in die Hände, die dunkeln Träume der Phantasie und Tradition zuerst in Spitzfündigkeiten zu verwandeln, bis sie sich damit allmählich selbst zerstörten. Seine bessern Schriften aber, die Naturgeschichte und Physik, die Ethik und Moral, die Politik, Poetik und Redekunst, erwarten noch manche glückliche Anwendung. Zu beklagen ist's, daß seine historischen Werke untergegangen sind und daß wir auch seine Naturgeschichte nur im Auszuge haben. Wer indessen den Griechen den Geist reiner Wissenschaft abspricht, möge ihren Aristoteles und Euklides lesen: Schriftsteller, die in ihrer Art nie übertroffen wurden; denn auch das war Platons und Aristoteles' Verdienst, daß sie den Geist der Naturwissenschaft und Mathematik erweckten, der über alles Moralisieren hinaus ins Große geht und für alle Zeiten wirkt. Mehrere Schüler derselben waren Beförderer der Astronomie, Botanik, Anatomie und anderer Wissenschaften wie denn Aristoteles selbst bloß mit seiner Naturgeschichte den Grund zu einem Gebäude gelegt hat, an welchem noch Jahrhunderte bauen werden. Zu allem Gewissen der Wissenschaft wie zu allem Schönen der Form ist in Griechenland der Grund gelegt worden; leider aber, daß uns das Schicksal von den Schriften seiner gründlichsten Weisen so wenig gegönnt hat! Was übriggeblieben ist, ist vortrefflich; das Vortrefflichste ging vielleicht unter.

Man wird es nicht von mir erwarten, daß ich die einzelnen Wissenschaften der Mathematik, Medizin, Naturwissenschaft und aller schönen Künste durchgehe, um eine Reihe Namen zu nennen, die entweder als Erfinder oder als Vermehrer des Wissenschaftlichen derselben allen künftigen Zeiten zur Grundlage gedient haben. Allgemein ist's bekannt, daß Asien und Ägypten uns eigentlich keine wahre Form der Wissenschaft in irgendeiner Kunst oder Lehre gegeben; dem feinen, ordnenden Geist der Griechen haben wir diese allein zu danken. Da nun eine bestimmte Form der Erkenntnis eben das ist, was ihre Vermehrung oder Verbesserung in zukünftigen Zeiten bewirkt, so sind wir den Griechen die Basis beinah aller unserer Wissenschaften schuldig. Mögen sie sich fremde Ideen zugeeignet haben, soviel sie wollen, desto besser für uns; gnug, sie ordneten solche und strebten zur deutlichen Erkenntnis. Die mancherlei griechischen Schulen waren hierin das, was in ihrem Staatswesen die vielen Republiken waren: gemeinschaftlich strebende, miteinander wetteifernde Kräfte; denn ohne diese Verteilung Griechenlandes würde selbst in ihren Wissenschaften nie soviel geschehen sein, als geschehen ist. Die ionische, italische und atheniensische Schule waren, ihrer gemeinschaftlichen Sprache ohngeachtet, durch Länder und Meere voneinander gesondert; jede also konnte für sich selbst wurzeln und, wenn sie verpflanzt oder eingeimpft wurde, desto schönere Früchte tragen. Keiner der früheren Weisen wurde vom Staat, selbst nicht von seinen Schülern besoldet; er dachte für sich, er erfand aus Liebe zur Wissenschaft oder aus Liebe zum Ruhm. Die er unterrichtete, waren nicht Kinder, sondern Jünglinge oder Männer, oft Männer, die der wichtigsten Staatsgeschäfte pflegten. Für Jahrmärkte eines gelehrten Handels schrieb man damals noch nicht; man dachte aber desto länger und tiefer, zumal der mäßige Philosoph im schönen griechischen Klima ungehindert von Sorgen denken konnte, da er zu seinem Unterhalt wenig bedurfte.

Indessen können wir nicht umhin, auch hier der Monarchie das Lob widerfahren zu lassen, das ihr gebührt. Keiner der sogenannten Freistaaten Griechenlands hätte dem Aristoteles zu seiner Naturgeschichte die Beihülfe verschafft, die ihm sein königlicher Schüler verschaffen konnte; noch minder hätten ohne die Anstalten der Ptolemäer Wissenschaften, die Muße oder Kosten fordern, z.B. Mathematik, Astronomie u. f., die Fortschritte getan, die sie in Alexandrien getan haben. Ihren Anlagen sind wir den Euklides, Eratosthenes, Apollonius Pergäus, Ptolemäus u. a. schuldig, Männer, die zu den Wissenschaften den Grund gelegt, auf welchen jetzt nicht nur das Gebäude der Gelehrsamkeit, sondern gewissermaße unserer ganzen Weltregierung ruht. Es hatte also auch seinen Nutzen, daß die Zeit der griechischen Rednerei und Bürgerphilosophie mit den Republiken zu Ende ging; diese hatte ihre Früchte getragen, dem menschlichen Geist aber waren aus griechischen Seelen noch andere Keime der Wissenschaft nötig. Gern verzeihen wir dem ägyptischen Alexandrien seine schlechteren Dichter228; es gab uns dafür gute Beobachter und Rechner. Dichter werden durch sich selbst; Beobachter können durch Fleiß und Übung allein vollkommen werden.

Insonderheit hat die griechische Philosophie über drei Gegenstände vorgearbeitet, die schwerlich irgendwo anders eine so glückliche Werkstatt hätten finden mögen: sie sind Sprache, Kunst und Geschichte. Die Sprache der Griechen hatte sich durch Dichter, Redner und Philosophen so vielseitig reich und schön gebildet, daß das Werkzeug selbst in spätem Zeiten die Aufmerksamkeit der Betrachter an sich zog, da man es nicht mehr zu so glänzenden Zwecken des öffentlichen Lebens anwenden konnte. Daher die Kunst der Grammatiker, die zum Teil wirkliche Philosophen waren. Zwar hat uns den größesten Teil dieser Schriftsteller die Zeit geraubt, welchen Verlust wir auch allenfalls gegen viel wichtigere Sachen verschmerzen mögen, indessen ist ihre Wirkung deswegen nicht ausgetilgt worden; denn am Studium der griechischen hat sich das Studium der römischen Sprache und überhaupt alle Sprachenphilosophie der Erde angezündet. Auch in die morgenländischen Dialekte des vordem Asiens ist es nur aus ihr gekommen; denn die ebräische, arabische und andere Sprachen hat man nur durch die griechische in Regeln zu bringen gelernt. Gleichermaßen ist an eine Philosophie der Kunst nirgend als in Griechenland gedacht worden, weil durch einen glücklichen Trieb der Natur und durch eine geschmackvolle sichre Gewohnheit Dichter und Künstler selbst eine Philosophie des Schönen ausübten, ehe der Zergliedrer ihre Regeln aufnahm.

So mußte sich durch den ungeheuren Wetteifer in Epopeen, Theaterstücken und öffentlichen Reden notwendig mit der Zeit eine Kritik bilden, an welche unsere Kritik schwerlich reicht. Es sind uns zwar auch von ihr außer Aristoteles' Schriften nur wenige späte Bruchstücke übriggeblieben, die indes immer noch von dem überfeinen Scharfsinn der griechischen Kunstrichter zeugen. Die Philosophie der Geschichte endlich gehört vorzüglich nach Griechenland heim, weil eigentlich die Griechen allein Geschichte haben. Der Morgenländer hat Stammregister oder Märchen, der Nordländer hat Sagen, andere Nationen Lieder; der Grieche bildete aus Sagen, Liedern, Märchen und Stammregistern mit der Zeit den gesunden Körper einer Erzählung, die in allen Gliedern lebt. Auch hierin ging ihm seine alte Dichtkunst vor, da sich ein Märchen nicht leicht angenehmer erzählen läßt, als es die Epopee erzählte; die Verteilung der Gegenstände nach Rhapsodien gab zu ähnlichen Absätzen in der Geschichte Anlaß, und der lange Hexameter konnte bald den Wohlklang der historischen Prose bilden. Herodot wurde also Homers Nachfolger, und die späteren Geschichtschreiber der Republiken nahmen die Farbe derselben, den republikanischen Rednergeist, in ihre Erzählung auf. Da nun mit Thucydides und Xenophon die griechische Geschichte aus Athen ausging und die Beschreiber derselben Staatsmänner und Feldherren waren, so mußte ihre Geschichte pragmatisch werden, ohne daß sie ihr eine pragmatische Gestalt zu geben suchten. Die öffentlichen Reden, die Verflechtung der griechischen Angelegenheiten, die lebendige Gestalt der Sachen und ihrer Triebfedern gab ihnen solche Form an, und man kann kühn behaupten, daß ohne die Republiken Griechenlands keine pragmatische Geschichte in der Welt wäre. Je mehr späterhin die Staaten- und Kriegskunst sich entwickelte, desto künstlicher wurde auch der pragmatische Geist der Geschichte, bis endlich Polybius sie fast zur Kriegs- und Staatenwissenschaft selbst machte. An Vorbildern solcher Art hatten nun die spätem Betrachter zu ihren Anmerkungen reichen Stoff, und die Dionyse konnten sich in den Anfängen der historischen Kunst gewiß reichlicher üben, als ein Sineser, Jude oder selbst ein Römer es tun konnte.

Da wir also die Griechen in jeder Übung des Geistes an dichterischen, rednerischen, philosophischen, wissenschaftlichen, historischen Werken so reich und glücklich finden, Schicksal der Zeiten, warum hast du uns denn so viel von ihnen versagt? Wo sind Homers Amazonia und seine Thebais und Iresione, seine Jamben, sein Margites? Wo sind die vielen verlernen Stücke Archilochus', Simonides', Alcäus', Pindars, die dreiundachtzig Trauerspiele Äschylus', die hundertundachtzehn des Sophokles und die unzähligen andern verlornen Stücke der Tragiker, Komiker, Lyriker, der größesten Weltweisen, der unentbehrlichsten Geschichtschreiber, der merkwürdigsten Mathematiker, Physiker u. f.? Für eine Schrift des Demokritus, Aristoteles, Theophrasts, Polybius, Euklides, für ein Trauerspiel des Äschylus, Sophokles und so vieler andern, für ein Lustspiel Aristophanes', Philemons, Menanders, für eine Ode des Alcäus oder der Sappho, für die verlerne Natur- und Staatengeschichte Aristoteles' oder für die fünfunddreißig Bücher Polybius': wer würde nicht gern einen Berg von neuern Schriften, seine eignen zuerst, hingeben, daß die Bäder von Alexandrien ein ganzes Jahr lang davon erwärmt würden? Aber das Schicksal mit eisernem Fuß geht einen andern Gang fort, als daß es auf die Unsterblichkeit einzelner menschlicher Werke in Wissenschaft oder in Kunst rechne. Die gewaltigen Propyläen Athens, alle Tempel der Götter, jene prächtigen Paläste, Mauern, Kolossen, Bildsäulen, Sitze, Wasserleitungen, Straßen, Altäre, die das Altertum für die Ewigkeit schuf, sind durch die Wut der Zerstörer dahin, und einige schwache Gedankenblätter des menschlichen Nachsinnens und Fleißes sollten verschont bleiben?

Vielmehr ist zu verwundern, daß wir derselben noch so viel haben, und vielleicht haben wir an ihnen noch zuviel, als daß wir sie alle gebraucht hätten, wie sie zu gebrauchen wären. Lasst uns jetzt zum Aufschluß dessen, was wir bisher einzeln durchgingen, die Geschichte Griechenlandes im ganzen betrachten; sie trägt ihre Philosophie Schritt vor Schritt belehrend mit sich.

 

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