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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried 

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Siebentes Buch

II

Das eine Menschengeschlecht hat sich allenthalben auf der Erde klimatisieret

Sehet jene Heuschrecken der Erde, die Kalmücken  und Mongolen; sie gehören in keinen andern Weltstrich als in ihre Steppen, auf ihre Berge. [107] Auf seinem kleinen Pferde durchfliegt der leichte Mann ungeheure Strecken und Wüsten; er weiß dem Roß Kräfte  zu geben, wenn es erliegt, und wenn er verschmachtet, muß eine geöffnete Ader am Halse des Pferdes ihm  Kräfte geben. Kein Regen fällt auf manche dieser Gegenden, die nur der Tau erquickt und eine noch unerschöpfte Fruchtbarkeit der Erde mit neuem Grün bekleidet; manche weite Strecke kennt keinen Baum,  keine süße Quelle. Da ziehn nun diese wilden und  unter sich selbst die geordnetsten Stämme im hohen  Grase umher und weiden ihre Herden; die Mitgenossen ihrer Lebensart, die Pferde, kennen ihre Stimme  und leben wie sie in Friede. Mit gedankenloser  Gleichgültigkeit sitzt der Kalmücke da und überblickt seinen ewig heitern Himmel und durchhorcht seine  unabsehbare Einöde. In jedem andern Strich der Erde  sind die Mongolen verartet oder veredelt; in ihrem  Lande sind sie, was sie seit Jahrtausenden waren, und  werden es bleiben, solange sich ihr Erdstrich nicht  durch Natur oder durch Kunst ändert.

Der Araber in der Wüste [108]: er gehört in dieselbe  mit seinem edlen Roß, mit seinem geduldigen, aushaltenden Kamel. Wie der Mogole auf seiner Erdhöhe, in seiner Steppe umherzog, ziehet der wohlgebildetere  Beduin auf seiner asiatisch-afrikanischen Wüste  umher, auch ein Nomade, nur seiner Gegend. Mit ihr  ist seine einfache Kleidung, seine Lebensweise, seine  Sitte und Charakter harmonisch, und nach Jahrtausenden noch erhält sein Gezelt die Weise der Väter.  Liebhaber der Freiheit, verachten sie Reichtümer und  Wohllüste, sind leicht im Lauf, fertig auf ihren Rossen, die sie wie ihresgleichen pflegen, und ebenso fertig, zu schwingen die Lanze. Ihre Gestalt ist hager  und nervicht, ihre Farbe braun, ihre Knochen stark;  unermüdlich, Beschwerden zu ertragen, und durch die Wüste zusammengeknüpft, stehen sie alle für einen,  kühn und unternehmend, treu ihrem Wort, gastfreund- lich und edel. Die gefahrvolle Lebensart hat sie zur  Behutsamkeit und zum scheuen Argwohn, die einsame Wüste zum Gefühl der Rache, der Freundschaft, des Enthusiasmus und des Stolzes gebildet. Wo sich  ein Araber zeige, am Euphrat oder am Nil, am Libanon oder am Senega, selbst bis in Zanguebar und auf  den indischen Meeren, zeiget er sich, wenn nicht ein  fremdes Klima ihn in Kolonien langsam veränderte,  noch in seinem ursprünglichen arabischen Charakter. Der Kalifornier am Rande der Welt, in seinem unfruchtbaren Lande, bei seiner dürftigen Lebensart, bei seinem wechselnden Klima: er klagt nie Über Hitze  und Kälte, er entgeht dem Hunger, wenn auch auf die  schwerste Weise, er lebt in seinem Lande glücklich.  »Gott allein weiß«, sagt ein Missionar [109], »wieviel  tausend Meilen ein Kalifornier, der achtzig Jahr alt  worden, in seinem Leben herumgeirret hat, bis er sein  Grab findet. Viele von ihnen ändern ihr Nachtquartier vielleicht hundertmal in einem Jahre, daß sie kaum  dreimal nacheinander auf dem nämlichen Platz und in  der nämlichen Gegend schlafen. Sie werfen sich nieder, wo sie die Nacht überfällt, ohn alle Sorge wegen  schädlichen Ungeziefers oder Unsauberkeit des Erd- bodens. Ihre schwarzbraune Haut ist ihnen statt des  Rockes und Mantels. Ihre Hausgeräte sind Bogen und Pfeil, ein Stein statt des Messers, ein Bein oder spitziges Holz, Wurzeln auszugraben, eine Schildkrötschale statt der Kinderwiege, ein Darm oder eine  Blase, Wasser zu holen, und endlich, wenn das Glück gut ist, ein aus Aloegarn wie ein Fischernetz gestrickter Sack, ihren Proviant und ihre Lumpen umherzuschleppen. Sie essen Wurzeln und allerlei kleine  Samen, sogar von dürrem Heu, die sie mit Mühe  sammlen und bei Hungersnot selbst sogar wieder aus  ihrem Kot auflesen. Alles, was Fleisch ist und nur  Gleichheit mit demselben hat, bis auf Fledermäuse,  Raupen und Würme, ist ihre festliche Speise, und  sogar die Blätter einiger Stauden, einiges junge Holz  und Geschoß, Leder, Riemen und weiche Beine sind  von ihren Lebensmitteln nicht ausgeschlossen, wenn  sie die Not dazu treibet. Und dennoch sind diese Armseligen gesund; sie werden alt und stark, so daß es ein Wunder ist, wenn einer unter ihnen, und dieses gar  spät, grau wird. Sie sind allezeit wohlgemutet; ein  ewiges Lachen und Scherzen regiert unter ihnen;  wohlgestalt, flink und gelenkig; sie können mit den  zwei vordern Zehen Steine und andre Dinge vom  Boden aufheben, gehen bis ins höchste Alter kerzengerade; ihre Kinder stehen und gehen, ehe sie ein Jahr alt sind. Des Schwätzens müde, legen sie sich nieder  und schlafen, bis sie der Hunger oder die Lust zum  Essen aufweckt; sobald sie erwacht sind, geht das Lachen, Schwätzen und Scherzen wiederum an; sie setzen es fort auf ihren Wegen, bis endlich der abgelebte Kalifornier seinen Tod mit gleichgültiger Ruhe erwartet. Die in Europa wohnen«, fährt der erwähnte Missionar fort, »können zwar die Kalifornier ihrer Glückseligkeit halber beneiden, aber keine solche in Kalifornien genießen, als etwa durch eine vollkommene  Gleichgültigkeit, viel oder wenig auf dieser Welt zu  besitzen und sich dem Willen Gottes in allen Zufällen des Lebens zu unterwerfen.«

So könnte ich fortfahren und von mehrern Nationen der verschiedensten Erdstriche, von den Kamtschadalen bis zu den Feuerländern, klimatische Gemälde liefern; wozu aber diese abgekürzten Versuche, da bei  allen Reisenden, die treu sahen oder menschlich teilnahmen, jeder kleine Zug ihrer Beschreibung klimatisch malet. In Indien, auf diesem großen Marktplatz  handelnder Völker, ist der Araber und Sinese, der  Türk und Perser, der Christ und Jude, der Malaye und Neger, der Japaner und Gentu kennbar [110]; auch auf  der fernsten Küste trägt jeder den Charakter seines  Erdstrichs und seiner Lebensweise mit sich. Aus dem  Staube aller vier Weltteile, sagt die alte biblische Tradition ward Adam gebildet, und es durchhauchten ihn  Kräfte und Geister der weiten Erde. Wohin seit Jahrtausenden seine Söhne zogen und sich einwohnten, da wurzelten sie als Bäume und gaben dem Klima gemäß Blätter und Früchte. - Lasset uns einige Folgen hieraus ziehen, die manche sonst auffallende Sonderbarkeit der Menschengeschichte zu erklären scheinen.

Zuerst erhellet, warum alle ihrem Lande zugebildete sinnliche Völker dem Boden desselben so treu  sind und sich von ihm unabtrennlich fühlen. Die Beschaffenheit ihres Körpers und ihrer Lebensweise, alle Freuden und Geschäfte, an die sie von Kindheit auf  gewöhnt wurden, der ganze Gesichtskreis ihrer Seele  ist klimatisch. Raubet man ihnen ihr Land, so hat man ihnen alles geraubet.

»Von dem betrübten Schicksal der sechs Grönländer«, erzählet Cranz [111], »die man auf der ersten  Reise nach Dänemark brachte, hat man angemerkt,  daß sie, ohnerachtet aller freundlichen Behandlung  und guten Versorgung mit Stockfisch und Tran, dennoch oft mit betrübten Blicken und unter jämmerlichem Seufzen gen Norden nach ihrem Vaterlande gesehen und endlich in ihren Kajaken die Flucht ergriffen haben. Durch einen starken Wind wurden sie an  das Ufer von Schonen geworfen und nach Kopenhagen zurückgebracht, worauf zween von ihnen vor Betrübnis starben. Von den übrigen sind ihrer zween  nochmals entflohen, und ist nur der eine wieder eingeholt worden, welcher, sooft er ein kleines Kind an der  Mutter Halse gesehen, bitterlich geweinet (woraus  man geschlossen, daß er Frau und Kinder haben  müsse; denn man konnte nicht mit ihnen sprechen,  noch sie zur Taufe präparieren). Die zween letzten  haben zehn bis zwölf Jahre in Dänemark gelebt und  sind bei Koldingen zum Perlenfischen gebraucht, aber im Winter so stark angestrengt worden, daß der eine  darüber gestorben, der letzte nochmals entflohen und  erst dreißig bis vierzig Meilen weit vom Lande eingeholt worden, worauf er ebenfalls aus Betrübnis sein  Leben geendet.«

Alle Zeugen von menschlicher Empfindung können die verzweifelnde Wehmut nicht ausdrücken, mit welcher ein erkaufter oder erstohlner Negersklave die  Küste seines Vaterlandes verläßt, um sie nie wieder  zu erblicken in seinem Leben. »Man muß genaue  Aufsicht haben«, sagt Römer [112], »daß die Sklaven  weder im Fort noch auf dem Schiff Messer in die  Hände bekommen; bei der Überfahrt nach Westindien hat man gnug zu tun, sie bei guter Laune zu erhalten.  Deshalb ist man mit europäischen Leiern versehen;  man nimmt auch Trummeln und Pfeifen mit und läßt  sie tanzen, versichert sie, daß sie nach einem schönen  Lande geführt werden, wo sie viel Frauen, gute Speisen erhalten sollen und dergleichen. Und dennoch hat  man betrübte Beispiele erlebt, daß die Schiffleute von ihnen überfallen und ermordet worden, da sie denn  nachher das Schiff ans Land treiben lassen.« - Und  wieviel traurigere Beispiele hat man erlebt vom verzweifelnden Selbstmorde dieser unglücklichen Geraubten! Sparrmann erzählt [113] aus dem Munde eines  Besitzers solcher Sklaven, daß sie des Nachts in eine  Art von Raserei verfallen, die sie antreibt, an irgend  jemand oder gar an sich selbst einen Mord zu begehen; »denn das schwermütige Andenken an den  schmerzhaften Verlust ihres Vaterlandes und ihrer  Freiheit erwacht am meisten des Nachts, wenn das  Geräusch des Tages es nicht zu zerstreuen vermag.« - Und was für Recht hattet ihr Unmenschen, euch dem  Lande dieser Unglücklichen nur zu nahen, geschweige es ihnen und sie dem Lande durch Diebstahl, List und Grausamkeit zu entreißen? Seit Jahrtausenden ist dieser Weltteil der ihre, so wie sie ihm zugehören; ihre  Väter hatten ihn um den höchsten und schwersten  Preis erkauft, um ihre Negergestalt und Negerfarbe.  Bildend hatte die afrikanische Sonne sie zu Kindern  angenommen und ihr Siegel auf sie gepräget; wohin  ihr sie führt, zeihet euch dieses als Menschendiebe,  als Räuber.

Zweitens. Grausam also sind die Kriege der Wilden um ihr Land und um die ihnen entrissenen oder  beschimpften und gequälten Söhne desselben, ihre  Mitbrüder. Daher z. B. der verhaltne Haß der Amerikaner gegen die Europäer, auch wenn diese leidlich  mit ihnen umgehn; sie fühlen's unvertilgbar: »Ihr gehöret nicht hieher! Das Land ist unser.« Daher die  Verrätereien aller sogenannten Wilden, auch wenn sie von der Höflichkeit der Europäer ganz besänftigt  schienen. Im ersten Augenblick, da sie zu ihrem angeerbten Nationalgefühl erwachten, brach die Flamme  aus, die sich mit Mühe so lang unter der Asche gehalten hatte; grausam wütete sie umher und ruhte oft  nicht eher, bis die Zähne der Eingebornen der Ausländer Fleisch fraßen. Uns scheint dieses abscheulich,  worüber auch wohl kein Zweifel bleibt; indessen  waren die Europäer die ersten, die sie zu dieser Untat  zwangen; denn warum kamen sie zu ihrem Lande?  Warum führten sie sich in demselben als fodernde,  gewalttätige, übermächtige Despoten auf? [114] Jahrtausende waren sich die Einwohner desselben das  Universum; von ihren Vätern hatten sie es geerbt und  von ihnen zugleich die grausame Sitte geerbt, was  ihnen ihr Land, was sie dem Lande entreißen oder  darin beeinträchtigen will, auf die grausamste Weise  zu vernichten. Feind und Fremder ist ihnen also eins;  sie sind wie die Muscipula, die, in ihren Boden gewurzelt, jedes Insekt ergreift, das sich ihr nahet; das  Recht, ungebetne oder beleidigende Gäste zu verzehren, ist die Akzise ihres Landes, ein so zyklopisches  Regal als irgend eines in Europa.

Endlich erinnere ich noch an jene freudigen Szenen, wenn ein also entfremdeter Sohn der Natur etwa wieder die Küste seines Vaterlandes erblickte und dem  Schoß seiner Mutter Erde wiedergeschenkt ward. Als  der foleiische edle Priester Job-Ben-Salomon [115] wieder nach Afrika kam, empfing ihn jeder Fuli mit brüderlicher Inbrunst, »ihn, den zweiten Menschen ihres  Landes, der je aus der Sklaverei zurückgekehrt wäre«. Und wie sehnte sich dieser dahin! Wie wenig fülleten  alle Freundschaften und Ehrenbezeugungen Englands, die er als ein aufgeklärter, wohldenkender Mann  dankbar erkannte, sein Herz aus! Er war nicht eher  ruhig, als bis er des Schiffes gewiß war, das ihn zurückführen sollte. Und diese Sehnsucht hängt nicht  am Stande noch an den Bequemlichkeiten des Geburtslandes. Der Hottentotte Koree legte seinen metallnen Harnisch und alle seine europäische Vorzüge  ab, zurückkehrend zur harten Lebensart der Seinen. [116] Fast aus jedem Erdstrich sind Proben der Art vorhanden, und die unfreundlichsten Länder ziehen ihre  Eingebornen mit den stärksten Banden. Eben die  überwundnen Beschwerlichkeiten, zu denen Körper  und Seele von Jugend auf gebildet worden, sind's, die  den Eingebornen die klimatische Vaterlandsliebe einflößen, von welcher der Bewohner einer völkerbedrängten fruchtbaren Ebene schon weniger und der  Einwohner einer europäischen Hauptstadt beinahe  nichts mehr empfindet. -

Doch es ist Zeit, das Wort Klima näher zu untersuchen; und da einige in der Philosophie der Menschengeschichte so viel darauf gebauet, andre hingegen seinen Einfluß beinah ganz bestritten haben, so wollen  auch wir nur Probleme geben.

 

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