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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Siebentes Buch

III

Was ist Klima, und welche Wirkung hat's auf die Bildung des Menschen an Körper und Seele?

Die beiden festesten Punkte unsrer Kugel sind die  Pole; ohne sie war kein Umschwung, ja wahrscheinlich keine Kugel selbst möglich. Wüßten wir nun die  Genesis der Pole und kennten die Gesetze und Wirkungen des Magnetismus unsrer Erde auf ihre verschiedne Körper: sollten wir damit nicht den Grundfaden gefunden haben, den die Natur in Bildung der  Wesen nachher mit anderen höheren Kräften mannigfaltig durchwebte? Da uns aber, ohngeachtet so zahlreicher und schöner Versuche, hievon im großen ganzen noch wenig bekannt ist [117], so sind wir auch in  Betracht der Basis aller Klimate nach der Weltgegend des Pols hin noch im dunkeln Vielleicht, daß einst der Magnet im Reich der physischen Kräfte wird, was er  uns ebenso unerwartet auf Meer und Erde schon  ward. -

Der Umschwung unsrer Kugel um sich und um die  Sonne bietet uns eine nähere Bezeichnung der Klimate dar; aber auch hier ist die Anwendung selbst allgemein anerkannter Gesetze schwer und trüglich. Die  Zonen der Alten haben sich durch die neuere Kenntnis fremder Weltteile nicht bestätigt, wie sie denn auch,  physisch betrachtet, auf Unkunde derselben gebauet  waren. Ein gleiches ist's mit der Hitze und Kälte, nach der Menge der Sonnenstrahlen und dem Winkel ihres  Auffalls berechnet. Als mathematische Aufgabe ist  ihre Wirkung mit genauem Fleiß bestimmt worden;  der Mathematiker selbst aber würde es für einen Mißbrauch seiner Regel ansehen, wenn der philosophische Geschichtschreiber des Klima darauf Schlüsse  ohne Ausnahmen baute. [118] Hier gibt die Nähe des  Meers, dort ein Wind, hier die Höhe oder Tiefe des  Landes, an einem vierten Ort nachbarliche Berge, am  fünften Regen und Dünste dem allgemeinen Gesetz  eine so neue Lokalbestimmung, daß oft die nachbarlichsten Orte das gegenseitigste Klima empfinden.  Überdem ist aus neueren Erfahrungen klar, daß jedes  lebendige Wesen eine eigne Art hat, Wärme zu empfangen und von sich zu treiben, ja daß, je organischer  der Bau eines Geschöpfs wird und je mehr es eigne  tätige Lebenskraft äußert, um so mehr auch ein Vermögen äußert, relative Wärme und Kälte zu erzeugen. [119] Die alten Sätze, daß der Mensch nur in einem  Klima leben könne, das die Hitze des Bluts nicht  übersteiget, sind durch Erfahrungen widerlegt; die  neuern Systeme hingegen vom Ursprung und der Wirkung animalischer Wärme sind lange noch nicht zu  der Vollkommenheit gediehen, daß man auf  irgendeine Weise an eine Klimatologie nur des  menschlichen Baues, geschweige aller menschlichen  Seelenvermögen und ihres so willkürlichen Gebrauchs denken könnte. Freilich weiß jedermann, daß  Wärme die Fibern ausdehne und erschlaffe, daß sie  die Säfte verdünne und die Ausdünstung fördere, daß  sie also auch die festen Teile mit der Zeit schwammig  und locker zu machen vermöge u. f.; das Gesetz im  ganzen bleibt sicher [120], auch hat man aus ihm und  seinem Gegensatz, der Kälte, mancherlei physiologische Phänomene schön erklärt [121]; allgemeine Folgerungen aber, die man aus einem solchen Principium  oder gar nur aus einem Teil desselben, der Erschlaffung, der Ausdünstung z. E., auf ganze Völker und  Weltgegenden, ja auf die feinsten Verrichtungen des  menschlichen Geistes und die zufälligsten Einrichtungen der Gesellschaft machen wollte; je scharfsinniger  und systematischer der Kopf ist, der diese Folgerungen durchdenkt und reihet, desto gewagter sind sie.  Sie werden beinah Schritt vor Schritt durch Beispiele  aus der Geschichte oder selbst durch physiologische  Gründe widerlegt, weil immer zuviel und zum Teil  gegenseitige Kräfte nebeneinander wirken. Selbst dem großen Montesquieu hat man den Vorwurf gemacht,  daß er seinen klimatischen Geist der Gesetze auf das  trügliche Experiment einer Schöpszunge gebauet  habe. - Freilich sind wir ein bildsamer Ton in der  Hand des Klima; aber die Finger desselben bilden so  mannigfalt, auch sind die Gesetze, die ihm entgegenwirken, so vielfach, daß vielleicht nur der Genius des  Menschengeschlechts das Verhältnis aller dieser Kräfte in eine Gleichung zu bringen vermöchte.

Nicht Hitze und Kälte ist's allein, was aus der Luft  auf uns wirket; vielmehr ist sie nach den neuern Bemerkungen ein großes Vorratshaus andrer Kräfte, die  schädlich und günstig sich mit uns verbinden. In ihr  wirkt der elektrische Feuerstrom, dies mächtige und in seinen animalischen Einflüssen uns noch fast unbekannte Wesen; denn sowenig wir die innern Gesetze  seiner Natur kennen, sowenig wissen wir, wie der  menschliche Körper es aufnimmt und verarbeitet. Wir leben vom Hauch der Luft; allein der Balsam in ihr,  unsre Lebensspeise, ist uns ein Geheimnis. Fügen wir nun die mancherlei, beinah unnennbaren Lokalbeschaffenheiten ihrer Bestandteile nach den Ausdünstungen aller Körper ihres Gebietes hinzu; erinnern  wir uns der Beispiele, wie oft durch einen unsichtbaren, bösen Samen, dem der Arzt nur den Namen eines Miasma zu geben wußte, die sonderbarsten, oft fürchterliche und in Jahrtausenden unaustilgbare Dinge  entstanden sind; denken wir an das geheime Gift, das  uns die Blattern, die Pest, die Lustseuche, die mit  manchem Zeitalter verschwindenden Krankheiten  gebracht hat, und erinnern uns, wie wenig wir nicht  etwa den Hermattan und Sammiel, den Sirocco und  den Nordostwind der Tatarei, sondern nur die Beschaffenheit und Wirkung unsrer Winde kennen: wieviel mangelnde Vorarbeiten werden wir inne, ehe wir  an eine physiologisch-pathologische, geschweige an  eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und  Empfindungskräfte kommen können! Auch hier indessen bleibt jedem scharfsinnigen Versuche sein Kranz,  und die Nachwelt wird unsrer Zeit edle Kränze zu reichen haben. [122]

Endlich die Höhe oder Tiefe eines Erdstrichs, die  Beschaffenheit desselben und seiner Produkte, die  Speisen und Getränke, die der Mensch genießt, die  Lebensweise, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stellungen sogar, Vergnügen und Künste, nebst einem Heer andrer Umstände, die in  ihrer lebendigen Verbindung viel wirken: alle sie gehören zum Gemälde des vielverändernden Klima.  Welche Menschenhand vermag nun dieses Chaos von  Ursachen und Folgen zu einer Welt zu ordnen, in der  jedem einzelnen Dinge, jeder einzelnen Gegend sein  Recht geschehe und keins zuviel oder zuwenig erhalte? Das einzige und beste ist, daß man nach Hippokrates' Weise [123] mit seiner scharfsehenden Einfalt  einzelne Gegenden klimatisch bemerke und sodann  langsam, langsam allgemeine Schlüsse folgere. Naturbeschreiber und Ärzte sind hier physicians, Schüler  der Natur und des Philosophen Lehrer, denen wir  schon manchen Beitrag einzelner Gegenden zur allgemeinen Lehre der Klimate und ihrer Einwirkung auf  den Menschen auch für die Nachwelt zu danken  haben. - Da hier aber von keinen speziellen Bemerkungen die Rede sein kann, so wollen wir nur in einigen allgemeinen Anmerkungen unsern Gang verfolgen.

1. Da unsre Erde eiche Kugel und das feste Land  ein Gebirge über dem Meer ist, so wird durch vielerlei Ursachen auf ihr eine klimatische Gemeinschaft befördert, die zum Leben der Lebendigen gehöret. Nicht nur Tag und Nacht und der Reihentanz  abwechselnder Jahrszeiten verändern das Klima eines  jeden Erdstrichs periodisch, sondern der Streit der  Elemente, die Gegenwirkung der Erde und des Meers, die Lage der Berge und Ebnen, die periodischen  Winde, die aus der Bewegung der Kugel, aus der Veränderung der Jahres- und Tageszeilen und aus soviel  kleinern Ursachen entspringen, unterhalten diese gesundheitbringende Vermählung der Elemente, ohne  welche alles in Schlummer und Verwesung sänke. Es  ist eine Atmosphäre, die uns umgibt, ein elektrisches  Meer, in dem wir leben; beide aber (und wahrscheinlich der magnetische Strom mit ihnen) sind in einer  ewigen Bewegung. Das Meer dunstet aus; die Berge  ziehen an und gießen Regen und Ströme zu beiden  Seiten hinunter. So lösen die Winde einander ab; so  erfüllen Jahre oder Jahrreihen die Summe ihrer klimatischen Tage. So heben und tragen einander die verschiednen Gegenden und Zeiten. Alles auf unsrer  Kugel steht in gemeinsamer Verbindung. Wäre die  Erde platt oder hätte sie die Winkelgestalt, von der  die Sinesen träumten: freilich, so könnte sie in ihren  Ecken die klimatischen Ungestalten nähren, von  denen jetzt ihr regelmäßiger Bau und seine mitteilende Bewegung nichts weiß. Um den Thron Jupiters  tanzen ihre Horen im Reihentanz, und was sich unter  ihren Füßen bildet, ist zwar nur eine unvollkommene  Vollkommenheit, weil alles auf die Vereinigung verschiedenartiger Dinge gebauet ist, aber durch eine  innre Liebe und Vermählung miteinander wird allenthalben das Kind der Natur geboren, sinnliche Regelmäßigkeit und Schönheit.

2. Das bewohnbare Land unsrer Erde ist in Gegenden zusammengedrängt, wo die meisten lebendigen Wesen in der ihnen gnügsamsten Form wirken;  diese Lage der Weltteile hat Einfluß auf ihrer aller  Klima. Warum fängt im südlichen Hemisphär die  Kälte schon so nahe der Linie an? Der Naturphilosoph antwortet: »Weil daselbst so wenig Land ist;  daher die kalten Winde und Eisschollen des Südpols  weit hinaufströmen.« Wir sehen also unser Schicksal,  wenn das ganze feste Land der Erde in Inseln umhergeworfen wäre. Jetzt wärmen sich drei zusammenhangende Weltteile aneinander; das vierte, das ihnen entfernt liegt, ist auch aus dieser Ursache kälter, und im  Südmeer fängt, bald jenseit der Linie, mit dem Mangel des Landes auch Mißgestalt und Verartung an.  Wenigere Geschlechter vollkommenerer Landtiere  sollten also daselbst leben; das Südhemisphär war  zum großen Wasserbehältnis unsrer Kugel bestimmt,  damit das Nordhemisphär ein besseres Klima genösse. Auch geographisch und klimatisch sollte das Menschengeschlecht ein zusammenwohnendes, nachbarliches Volk sein, das so wie Pest, Krankheiten und klimatische Laster, auch klimatische Wärme und andre  Wohltaten einander schenkte.

3. Durch den Bau der Erde an die Gebirge ward  nicht nur für das große Mancherlei der Lebendigen  das Klima derselben zahllos verändert, sondern  auch die Ausartung des Menschengeschlechts ver- hütet, wie sie verhütet werden konnte. Berge waren  der Erde nötig; aber nur einen Bergrücken der Mongolen und Tibetaner gibt's auf derselben; die hohen Cordilleras und so viel andre ihrer Brüder sind unbewohnbar. Auch öde Wüsten wurden durch den Bau  der Erde an die Gebürge selten; denn die Berge stehn  wie Ableiter des Himmels da und gießen ihr Füllhorn  aus in befruchtenden Strömen. Die öden Ufer endlich, der kalte oder feuchte Meeresabhang ist allenthalben  nur später entstandenes Land, welches also auch die  Menschheit erst später und schon wohlgenährt an  Kräften beziehen dorfte. Das Tal von Quito war  gewiß eher bewohnt als das Feuerland, Kaschmire  eher als Neuholland oder Nova-Zembla. Die mittlere  größeste Breite der Erde, das Land der schönsten Klimate zwischen Meer und Gebürgen, war das Erziehungshaus unsres Geschlechts und ist noch jetzt der  bewohnteste Teil der Erde. -

Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die  Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt  sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte,  seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem  Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirket. Europa war vormals  ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren's nicht minder: es ist gelichtet, und mit  dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert. Ohne Polizei und Kunst wäre Ägypten ein Schlamm  des Nils worden: es ist ihm abgewonnen, und sowohl  hier als im weitern Asien hinauf hat die lebendige  Schöpfung sich dem künstlichen Klima bequemet.  Wir können also das Menschengeschlecht als eine  Schar kühner, obwohl kleiner Riesen betrachten, die  allmählich von den Bergen herabstiegen, die Erde zu  unterjochen und das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verändern. Wie weit sie es darin gebracht haben  mögen, wird uns die Zukunft lehren.

4. Ist's endlich erlaubt, über eine Sache, die so  ganz auf einzelnen Fällen des Orts und der Geschichte ruhet, etwas Allgemeines zu sagen, so setze ich verändert einige Kautelen her, die Baco zu seiner Geschichte der Revolutionen gibt. [124] Die Wirkung des  Klima erstreckt sich zwar auf Körper allerlei Art, vorzüglich aber auf die zärtern, die Feuchtigkeiten die  Luft und den Äther. Sie verbreitet sich viel mehr auf  die Massen der Dinge als auf die Individuen, doch  auch auf diese durch jene. Sie geht nicht auf Zeitpunkte, sondern herrscht in Zeiträumen, wo sie oft  spät und sodann vielleicht durch geringe Umstände  offenbar wird. Endlich: Das Klima zwinget nicht,  sondern es neiget; es gibt die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Völkern im ganzen  Gemälde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken,  aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen  kann. Vielleicht findet sich einmal ein eigner Reisender, der ohne Vorurteile und Übertreibungen für den  Geist des Klima reiset. Unsre Pflicht ist jetzt, viel  mehr die lebendigen Kräfte zu bemerken, für die jedes Klima geschaffen ist und die schon durch ihr Dasein  es mannigfalt modifizieren und ändern.

 

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