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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Siebentes Buch

IV

Die genetische Kraft ist die Mutter aller Bildungen auf der Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwirket

Wer zum erstenmal das Wunder der Schöpfung  eines lebendigen Wesens sähe, wie würde er staunen! [125] Aus Kügelchen, zwischen welchen Säfte schießen, wird ein lebender Punkt, und aus dem Punkt erzeugt sich ein Geschöpf der Erde. Bald wird das Herz sichtbar und fängt an, so schwach und unvollkommen es sei, zu schlagen; das Blut, das vor dem Herzen da  war, fängt an, sich zu röten; bald erscheinet das  Haupt; bald zeigen sich Augen, Mund, Sinne und  Glieder. Noch ist keine Brust da, und schon ist Bewegung in ihren innern Teilen; noch sind die Eingeweide nicht gebildet, und das Tier öffnet den Schnabel Das  kleine Gehirn ist außerhalb dem Kopf, das Herz noch  außer der Brust; wie ein Spinnengewebe sind Rippen  und Beine; bald zeigen sich Flügel, Füße, Zehen,  Hüften, und nun wird das Lebendige weiter genähret.  Was bloß war, bedecket sich: die Brust, das Hirn  schließen sich zu; Magen und Eingeweide hangen  noch hinunter. Auch diese bilden sich endlich, je mehr die Materie verzehrt wird; die Häute ziehn sich  zusammen und hinauf; der Unterleib schließt sich: das Tier ist bereitet. Es schwimmt jetzt nicht mehr, sondern es liegt; bald wachet, bald schläft es; es regt  sich, es schläft, es ruft, es suchet Ausgang und  kommt, in allen Teilen ganz und völlig, ans Licht der  Welt. Wie würde der, der dies Wunder zum erstenmal sähe, es nennen? Da ist, würde er sagen, eine lebendige, organische Kraft; ich weiß nicht, woher sie gekommen, noch was sie in ihrem Innern sei, aber daß  sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische Teile sich  aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unleugbar.

Bemerkte er ferner und sähe, daß jeder dieser organischen Teile, gleichsam actu, in eigner Wirkung gebildet werde: das Herz erzeuge sich nicht anders als  durch eine Zusammenströmung der Kanäle, die schon  vor ihm waren; sobald der Magen sichtbar werde,  habe er Materie der Verdauung in sich. So alle Adern, alle Gefäße; das Enthaltne war vor dem Enthaltenden, das Flüssige vor dem Festen, der Geist vor dem Körper da, in welchen jener sich nur kleidet. Bemerkte er  dies [126]: was würde er sagen, als daß die unsichtbare  Kraft nicht willkürlich bilde, sondern daß sie sich  ihrer innern Natur nach gleichsam nur offenbare. Sie  wird in einer ihr zugehörigen Masse sichtbar und  muß, wie und woher es auch sei, den Typus ihrer Erscheinung in ihr selbst haben. Das neue Geschöpf ist  nichts als eine wirklich gewordene Idee der schaffenden Natur, die immer nur tätig denket.

Führe er fort und bemerkte, daß, was diese Schöpfung befördert, mütterliche oder Sonnenwärme sei,  daß das Ei der Mutter aber, aller vorhandenen Materie und Wärme ungeachtet, ohne Belebung des Vaters  keine lebendige Frucht gebe, was würde er mutmaßen, als das Principium der Wärme könne mit dem  Principium des Lebens, das es befördert, zwar verwandt sein, eigentlich aber müsse in der Vereinigung  zweier lebendigen Wesen die Ursache liegen, die  diese organische Kraft in Wirksamkeit setzt, dem  toten Chaos der Materie lebendige Form zu geben. So sind wir, so sind alle lebende Wesen gebildet: jedes  nach der Art seiner Organisation, alle aber nach dem  unverkennbaren Gesetz einer Analogie, die durch  alles Lebendige unsrer Erde herrschet.

Endlich, wenn er erführe, daß diese lebendige Kraft das ausgebildete Geschöpf nicht verlasse, sondern  sich in ihm tätig zu offenbaren fortfahre; zwar nicht  mehr schaffend, denn es ist erschaffen, aber erhaltend, belebend, nährend. Sobald es auf die Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja  zum Teil in welchen es gebildet ward: der Mund öffnet sich, wie Öffnung seine erste Gebärde war, und  die Lunge schöpft Atem; die Stimme ruft, der Magen  verdauet, die Lippen saugen: es wächst, es lebt, alle  innern und äußern Teile kommen einander zu Hülfe;  in einer gemeinschaftlichen Tätigkeit und Mitleidenheit ziehen sie an, werfen aus, verwandeln in sich,  helfen einander in Schmerzen und Krankheit auf tausendfältig-wunderbare, unerforschte Weise. Was  würde, was könnte jeder, der dies zuerst bemerkte,  sagen als: Die eingeborne, genetische Lebenskraft ist  in dem Geschöpf, das durch sie gebildet worden, in  allen Teilen und in jedem derselben nach seiner  Weise, d. i. organisch noch einwohnend. Allenthalben ist sie ihm aufs vielartigste gegenwärtig, da es nur durch sie ein lebendiges Ganze ist, was sich erhält,  wächst und wirket.

Und diese Lebenskraft haben wir alle in uns: in Gesundheit und Krankheit stehet sie uns bei, assimiliert  gleichartige Teile, sondert die fremden ab, stößt die  feindlichen weg; sie ermattet endlich im Alter und lebt in einigen Teilen noch nach dem Tode. Das Vernunftvermögen unsrer Seele ist sie nicht; denn dieses hat  sich den Körper, den es nicht kennet und ihn nur als  ein unvollkommenes, fremdes Werkzeug seiner Gedanken braucht, gewiß nicht selbst gebildet. Verbunden ist es indes mit jener Lebenskraft, wie alle Kräfte  der Natur in Verbindung stehen; denn auch das geistige Denken hangt von der Organisation und Gesundheit des Körpers ab und alle Begierden und Triebe unsres Herzens sind von der animalischen Wärme  untrennbar. - Alle dies sind Fakta der Natur, die  keine Hypothese umstoßen, kein scholastisches Wort  vernichten kann; ihre Anerkennung ist die älteste Philosophie der Erde, wie sie auch wahrscheinlich die  letzte sein wird. [127] So gewiß ich's weiß, daß ich  denke, und kenne doch meine denkende Kraft nicht,  so gewiß empfinde und sehe ich's, daß ich lebe, wenn  ich gleich auch nie weiß, was Lebenskraft sei. Angeboren, organisch, genetisch ist dies Vermögen; es ist  der Grund meiner Naturkräfte, der innere Genius meines Daseins. Aus keiner andern Ursache ist der  Mensch das vollkommenste Wesen der Erdeschöpfung, als weil die feinsten organischen Kräfte, die wir  kennen, bei ihm in den feinsten Werkzeugen der Organisation einwohnend wirken. Er ist die vollkommenste animalische Pflanze, ein eingeborner Genius  in einer menschlichen Bildung.

Sind unsre Grundsätze bisher richtig gewesen, wie  sie sich denn auf unstreitige Erfahrungen gründen, so  kann auch keine Verartung unsres Geschlechts vorgehen ohne eigentlich durch diese organischen Kräfte.  Wie auch das Klima wirke, jeder Mensch, jedes Tier,  jede Pflanze hat ihr eignes Klima; denn alle äußern  Einwirkungen nimmt jedes nach seiner Weise auf und verarbeitet sie organisch. Auch in der kleinsten Fiber  leidet der Mensch nicht wie ein Stein, nicht wie eine  Wasserblase. Lasset uns einige Stufen oder Schattierungen dieser Verartung bemerken.

Die erste Stufe der Verartung des menschlichen  Geschlechts zeiget sich in den äußern Teilen; nicht als ob diese für sich litten oder wirkten, sondern weil die  uns einwohnende Kraft von innen heraus wirket.  Durch den wunderbarsten Mechanismus strebt sie aus dem Körper zu treiben, was ihr hinderlich und fremd  ist; die ersten Veränderungen ihres organischen Baues müssen also an den Grenzen ihres Reichs sichtbar  werden, und so betreffen die auffallendsten Varietäten des Menschengeschlechts nichts als Haut und Haare.  Die Natur schützte ihr inneres wesentliches Gebilde  und schaffte die beschwerende Materie so weit hinaus, als sie es zu tun vermochte.

Griff die verändernde äußere Macht weiter, so zeigen sich ihre Wirkungen auf keinen andern Wegen,  als auf denen die lebendige Kraft selbst wirket, auf  den Wegen der Nahrung und Fortpflanzung. Der  Neger wird weiß geboren; die Teile, die sich bei ihm  zuerst schwärzen [128], sind ein offenbares Kennzeichen, daß das Miasma seiner Veränderung, das die  äußere Luft nur entwickelt, genetisch wirke. Nun zeigen uns die Jahre der Mannbarkeit sowohl als eine  Schar von Erfahrungen an Kranken, welch ein weites  Reich die Kräfte der Nahrung und Fortpflanzung im  menschlichen Körper haben. Die entferntsten Glieder  stehn durch sie miteinander in Verbindung; und eben  diese Glieder sind's, die bei der Verartung der Völker  auch gemeinschaftlich leiden. Außer der Haut und den Geschlechtsteilen sind daher Ohren, Hals und die  Stimme, die Nase, die Lippen, das Haupt u. f. genau  die Region, in welcher sich die meisten Veränderun- gen zeigen.

Endlich, da die Lebenskraft alle Teile zur Gemeinschaft bindet und die Organisation ein vielverschlungener Kreis ist, der eigentlich nirgend Anfang und  Ende findet, so wird begreiflich, daß die innigste  Hauptveränderung zuletzt auch in den festesten Teilen sichtbar werden müsse, die vermöge der innern  leidenden Kraft vom Schädel bis zum Fuß in ein andres Verhältnis treten. Schwer gehet die Natur an  diese Verwandlung; auch bei Mißgeburten, wo sie in  ihrem Kunstwerk gewaltsam gestört wird, hat sie  wunderbare Wege der Erstattung, wie ein geschlagner Feldherr eben im Rückzuge die meiste Weisheit zeiget. Indessen zeigen die verschiednen Bildungen der  Völker, daß auch diese, die schwerste Verwandlung  beim Menschengebilde, möglich war; denn eben die  tausendfache Zusammensetzung und feine Beweglichkeit unsrer Maschine samt den unnennbar-mannigfaltigen Mächten, die auf sie wirken,  machten sie möglich. Aber auch diese schwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket.  Jahrhundertelang haben Nationen ihre Köpfe geformt, ihre Nasen durchbohrt, ihre Füße gezwungen, ihre  Ohren verlängert; die Natur blieb auf ihrem Wege;  und wenn sie eine Zeitlang folgen, wenn sie den verzerreten Gliedern Säfte zuführen mußte, wohin sie  nicht wollte: sobald sie konnte, ging sie ins Freie wieder und vollendete ihren vollkommenern Typus. Ganz anders, sobald die Mißbildung genetisch war und auf  Wegen der Natur wirkte; hier vererbten sich Mißbildungen, selbst an einzelnen Gliedern. Sage man nicht, daß Kunst oder die Sonne des Negers Nase geplattet  habe. Da die Bildung dieses Teils mit der Konformation des ganzen Schädels, des Kinns, des Halses, des  Rückens zusammenhängt und das sprossende  Rückenmark gleichsam der Stamm des Baums ist, an  dem sich die Brust und alle Glieder bilden, so zeigt  die vergleichende Anatomie genugsam [129], daß die  Verartung die ganze Gestalt angegriffen und sich keiner dieser festen Teile ändern konnte, ohne daß das  Ganze verändert wurde. Eben daher gehet die Negergestalt auch erblich über und kann nur genetisch zurückverändert werden. Setzet den Mohren nach Europa: er bleibt, was er ist; verheiratet ihn aber mit einer  Weißen, und eine Generation wird verändern, was  Jahrhunderte hindurch das bleichende Klima nicht  würde getan haben. So ist's mit den Bildungen aller  Völker: die Weltgegend verändert sie äußerst  langsam, durch die Vermischung mit fremden Nationen verschwinden in wenigen Geschlechtern alle mongolischen, sinesischen, amerikanischen Züge.

Gefällt es meinen Lesern, auf diesem Wege fortzugehen, so lasset uns ihn noch einige Schritte verfolgen.

1. Jedem Bemerkenden muß es aufgefallen sein,  daß in den unzählbar-verschiednen Gestalten der  Menschen gewisse Formen und Verhältnisse nicht  nur wiederkommen, sondern auch ausschließend zueinander gehören. Bei Künstlern ist dies eine ausgemachte Sache, und in den Statuen der Alten siehet  man, daß sie diese Proportion oder Symmetrie, wie  sie es nannten, nicht etwa nur in die Länge und Breite der Glieder, sondern auch in die harmonische Bildung derselben zur Seele des Ganzen setzten. Die Charaktere ihrer Götter und Göttinnen, ihrer Jünglinge und  Helden waren in ihrer ganzen Haltung so bestimmt,  daß man sie zum Teil schon aus einzelnen Gliedern  kennet und sich keinem Gebilde ein Arm, eine Brust,  eine Schulter geben läßt, die für ein andres gehöret.  Der Genius eines einzeln-lebendigen Wesens lebt in  jeder dieser Gestalten, die er wie eine Hülle nur  durchhaucht und sich im kleinsten Maß der Stellung  und Bewegung, ähnlich dem Ganzen, charakterisieret. Unter den Neuern hat der Polyklet unsres Vaterlandes, Albrecht Dürer [130], das Maß verschiedner Proportionen des menschlichen Körpers sorgfältig untersucht,  und jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Teile sich mit den Verhältnissen ändre. Wie nun, wenn wir Dürers Genauigkeit mit dem Seelengefühl  der Alten verbänden und die Verschiedenheit mensch- licher Hauptformen und Charaktere in ihrem zusammenstimmenden Gebilde studierten? Mich dünkt, die  Physiognomik träte damit auf den alten natürlichen  Weg, auf den sie ihr Name weiset, nach welchem sie  weder eine Etho- noch Technognomik, sondern die  Auslegerin der lebendigen Natur eines Menschen,  gleichsam die Dolmetscherin seines sichtbar gewordenen Genius sein soll. Da sie in diesen Schranken der  Analogie des Ganzen, das auch im Antlitz das sprechendste ist, stets treu bleibt, so muß die Pathognomik ihre Schwester, die Physiologie und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden; denn die Gestalt  des Menschen ist doch nur eine Hülle des innern  Triebwerks, ein zusammenstimmendes Ganze, wo  jeder Buchstab zwar zum Wort gehört, aber nur das  ganze Wort einen Sinn gibt. Im gemeinen Leben  brauchen und üben wir die Physiognomik also: Der  geübte Arzt siehet, welchen Krankheiten der Mensch  seinem Bau und Gebilde nach unterworfen sein  könne, und das physiognomische Auge, selbst der  Kinder, bemerkt die natürliche Art (physis) des  Menschen in seinem Gebilde, d. i. die Gestalt, in der  sich sein Genius offenbaret.

Ferner. Sollten sich nicht diese Formen, diese  Harmonien zusammentreffender Teile bemerken und als Buchstaben gleichsam in ein Alphabet bringen  lassen? Vollständig werden diese Buchstaben nie  werden, denn das ist auch kein Alphabet irgendeiner  Sprache; zur Charakteristik der menschlichen Natur  aber in ihren Hauptgestalten würde durch ein sorgsames Studium dieser lebendigen Säulenordnungen unsres Geschlechts gewiß ein weites Feld geöffnet.  Schränkte man sich dabei nicht auf Europa ein und  nähme noch weniger unser gewohntes Ideal zum Muster aller Gesundheit und Schönheit, sondern verfolgte die lebendige Natur überall auf der Erde, in welchen  Harmonien zusammenstimmender Teile sie sich hie  und da mannigfaltig und immer ganz zeige: ohne  Zweifel würden zahlreiche Entdeckungen über den  Concentus und die Melodie lebendiger Kräfte im Bau  des Menschen der Lohn dieser Bemerkungen werden.  Ja vielleicht würde uns dies Studium des natürlichen  Consensus der Formen im menschlichen Körper weiter führen als die so oft und fast immer mit Undank  bearbeitete Lehre der Komplexionen und Temperamente. Die scharfsinnigsten Beobachter kamen in dieser nicht weit, weil zu dem Mannigfaltigen, das bezeichnet werden sollte, ihnen ein bestimmtes  Alphabet der Bezeichnung fehlte. [131]

2. So wie nun bei einer solchen bildlichen Geschichte der Formung und Verartung des Menschengeschlechts die lebendige Physiologie allenthalben  die Fackel vortragen müßte, so würde in ihr auch  Schritt vor Schritt die Weisheit der Natur sichtbar, die nicht anders als nach einem Gesetz der tausendfach  erstattenden Güte Formen bildet und abändert.  Warum z. B. sonderte die schaffende Mutter Gattungen ab? Zu keinem andern Zweck, als daß sie den  Typus ihrer Bildung desto vollkommener machen und erhalten könnte. Wir wissen nicht, wie manche unsrer  jetzigen Tiergattungen in einem frühern Zustande der  Erde näher aneinandergegangen sein mögen; aber das  sehen wir, ihre Grenzen sind jetzt genetisch geschieden. Im wilden Zustande paaret sich kein Tier mit  einer fremden Gattung, und wenn die zwingende  Kunst der Menschen oder der üppige Müßiggang, an  dem die gemästeten Tiere teilnehmen, auch ihren  sonst sichern Trieb verwildern, so läßt doch in ihren  unwandelbaren Gesetzen die Natur von der üppigen  Kunst sich nicht überwinden. Entweder ist die Vermischung ohne Frucht, oder die erzwungene Bastardart  pflanzt sich nur unter den nächsten Gattungen weiter.  Ja bei diesen Bastardarten selbst sehen wir die Abweichung nirgend als an den äußersten Enden des  Reichs der Bildung, genau wie wir sie bei der  Verartung des Menschengeschlechts beschrieben  haben; hätte der innere, wesentliche Typus der Bildung Mißgestalt bekommen müssen, so wäre kein lebendiges Geschöpf subsistent worden. Weder ein  Centaur also noch ein Satyr, weder die Scylla noch  die Meduse kann nach den innern Gesetzen der schaffenden Natur und des genetischen wesentlichen Typus jeder Gattung sich er zeugen.

3. Das feinste Mittel endlich, dadurch die Natur  Vielartigkeit und Bestandheit der Formen in ihren  Gattungen verband, ist die Schöpfung und Paarung  zweier Geschlechter. Wie wunderbar fein und geistig  mischen sich die Züge beider Eltern in dem Angesicht und Bau ihrer Kinder! als ob nach verschiedenen Verhältnissen ihre Seele sich in sie gegossen und die tausendfältigen Naturkräfte der Organisation sich unter  dieselben verteilt hätten. Daß Krankheiten und Züge  der Bildung, daß sogar Neigungen und Dispositionen  sich forterben, ist weltbekannt; ja oft kommen wunderbarerweise die Gestalten lange verstorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Ebenso  unleugbar, obgleich schwer zu erklären, ist der Einfluß mütterlicher Gemüts- und Leibeszustände auf  den Ungebornen, dessen Wirkung manches traurige  Beispiel lebenslang mit sich träget. - Zwei Ströme  des Lebens hat also die Natur zusammengeleitet, um  das werdende Geschöpf mit einer ganzen Naturkraft  auszustatten, die nach den Zügen beider Eltern jetzt in ihr selbst lebe. Manches versunkne Geschlecht ist  durch eine gesunde und fröhliche Mutter wieder emporgehoben; mancher entkräftete Jüngling mußte im  Arm seines Weibes erst selbst zum leben den Naturgeschöpf erweckt werden. Auch in der genialischen  Bildung der Menschheit also ist Liebe die mächtigste  der Göttinnen; sie veredelt Geschlechter und hebt die  gesunknen wieder empor: eine Fackel der Gottheit,  durch deren Funken das Licht des menschlichen Lebens, hier trüber, dort heller, glänzet. Nichts widerstrebet hingegen dem bildenden Genius der Naturen  mehr als jener kalte Haß oder jene widrige Konvenienz, die ärger als Haß ist. Sie zwingt Menschen zusammen, die nicht füreinander gehören, und verewigt  elende, mit sich selbst disharmonische Geschöpfe.  Kein Tier versank je so weit, als in dieser Entartung  der Mensch versinket.

 

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