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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Sechzehntes Buch

IV

Slawische Völker

Die slawischen Völker nehmen auf der Erde einen großem Raum ein als in der Geschichte, unter andern Ursachen auch deswegen, weil sie entfernter von den Römern lebten. Wir kennen sie zuerst am Don, späterhin an der Donau, dort unter Goten, hier unter Hunnen und Bulgarn, mit denen sie oft das römische Reich sehr beunruhigten, meistens nur als mitgezogene, helfende oder dienende Völker. Trotz ihrer Taten hie und da waren sie nie ein unternehmendes Kriegs- und Abenteuervolk wie die Deutschen; vielmehr rückten sie diesen stille nach und besetzten ihre leergelassenen Plätze und Länder, bis sie endlich den ungeheuren Strich innehatten, der vom Don zur Elbe, von der Ostsee bis zum Adriatischen Meer reicht. Von Lüneburg an über Mecklenburg, Pommern, Brandenburg, Sachsen, die Lausitz, Böhmen, Mähren, Schlesien, Polen, Rußland erstreckten sich ihre Wohnungen diesseit der karpatischen Gebirge, und jenseit derselben, wo sie frühe schon in der Walachei und Moldau saßen, breiteten sie sich, durch mancherlei Zufälle unterstützt, immer weiter und weiter aus, bis sie der Kaiser Heraklius auch in Dalmatien aufnahm und nach und nach die Königreiche Slawonien, Bosnien, Servien, Dalmatien von ihnen gegründet wurden. In Pannonien wurden sie ebenso zahlreich; von Friaul aus bezogen sie auch die südöstliche Ecke Deutschlands, also daß ihr Gebiet sich mit Steiermark, Kärnten, Krain festschloß: der ungeheuerste Erdstrich, den in Europa eine Nation größtenteils noch jetzt bewohnt. Allenthalben ließen sie sich nieder, um das von andern Völkern verlassene Land zu besitzen, es als Kolonisten, als Hirten oder Ackerleute zu bauen und zu nutzen; mithin war nach allen vorhergegangenen Verheerungen, Durch- und Auszügen ihre geräuschlose, fleißige Gegenwart den Ländern ersprießlich. Sie liebten die Landwirtschaft, einen Vorrat von Herden und Getreide, auch mancherlei häusliche Künste und eröffneten allenthalben mit den Erzeugnissen ihres Landes und Fleißes einen nützlichen Handel. Längs der Ostsee von Lübeck an hatten sie Seestädte erbaut, unter welchen Vineta auf der Insel Rügen das slawische Amsterdam war; so pflogen sie auch mit den Preußen, Kuren und Letten Gemeinschaft, wie die Sprache dieser Völker zeigt. Am Dnepr hatten sie Kiew, am Wolchow Nowgorod gebaut, welche bald blühende Handelsstädte wurden, indem sie das Schwarze Meer mit der Ostsee vereinigten und die Produkte der Morgenwelt dem nörd- und westlichen Europa zuführten. In Deutschland trieben sie den Bergbau, verstanden das Schmelzen und Gießen der Metalle, bereiteten das Salz, verfertigten Leinwand, brauten Met, pflanzten Fruchtbäume und führten nach ihrer Art ein fröhliches, musikalisches Leben. Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde. Alles das half ihnen nicht gegen die Unterdrückung, ja es trug zu derselben bei. Denn da sie sich nie um die Oberherrschaft der Welt bewarben, keine kriegssüchtige erbliche Fürsten unter sich hatten und lieber steuerpflichtig wurden, wenn sie ihr Land nur mit Ruhe bewohnen konnten, so haben sich mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme, an ihnen hart versündigt.

Schon unter Karl dem Großen gingen jene Unterdrückungskriege an, die offenbar Handelsvorteile zur Ursache hatten, ob sie gleich die christliche Religion zum Verwände gebrauchten; denn den heldenmäßigen Franken mußte es freilich bequem sein, eine fleißige, den Landbau und Handel treibende Nation als Knechte zu behandeln, statt selbst diese Künste zu lernen und zu treiben. Was die Franken angefangen hatten, vollführten die Sachsen; in ganzen Provinzen wurden die Slawen ausgerottet oder zu Leibeigenen gemacht und ihre Ländereien unter Bischöfe und Edelleute verteilt. Ihren Handel auf der Ostsee zerstörten nordische Germanen; ihr Vineta nahm durch die Dänen ein trauriges Ende, und ihre Reste in Deutschland sind dem ähnlich, was die Spanier aus den Peruanern machten. Ist es ein Wunder, daß nach Jahrhunderten der Unterjochung und der tiefsten Erbitterung dieser Nation gegen ihre christlichen Herren und Räuber ihr weicher Charakter zur arglistigen, grausamen Knechtsträgheit herabgesunken wäre? Und dennoch ist allenthalben, zumal in Ländern, wo sie einiger Freiheit genießen, ihr altes Gepräge noch kennbar. Unglücklich ist das Volk dadurch worden, daß es bei seiner Liebe zur Ruhe und zum häuslichen Fleiß sich keine daurende Kriegsverfassung geben konnte, ob es ihm wohl an Tapferkeit in einem hitzigen Widerstande nicht gefehlt hat. Unglücklich, daß seine Lage unter den Erdvölkern es auf einer Seite den Deutschen so nahe brachte und auf der andern seinen Rücken allen Anfällen östlicher Tataren frei ließ, unter welchen, sogar unter den Mogolen, es viel gelitten, viel geduldet. Das Rad der ändernden Zeit dreht sich indes unaufhaltsam; und da diese Nationen größtenteils den schönsten Erdstrich Europas bewohnen, wenn er ganz bebaut und der Handel daraus eröffnet würde, da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als daß in Europa die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und das ruhige Verkehr der Völker untereinander befördern müssen und befördern werden, so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker endlich einmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreit, eure schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum karpatischen Gebirge, vom Don bis zur Mulda als Eigentum nutzen und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dörfen.

Da wir aus mehreren Gegenden schöne und nutzbare Beiträge zur Geschichte dieses Volks haben [255], so ist zu wünschen, daß auch aus andern ihre Lücken ergänzt, die immer mehr verschwindenden Reste ihrer Gebräuche, Lieder und Sagen gesammelt und endlich eine Geschichte dieses Völkerstammes im ganzen gegeben würde, wie sie das Gemälde der Menschheit fodert.

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