Friedrich Schiller
Johann Wolfgang Goethe
Über epische und dramatische Dichtung
Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders
dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche
Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber
darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als
vollkommen gegenwärtig darstellt. Wollte man das
Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben,
aus der Natur des Menschen herleiten; so müßte man
sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als
Dichter, jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen
mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden
Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen, und es
würde nicht schwer fallen zu entwickeln, was einer
jeden von diesen beiden Dichtarten am meisten
frommt, welche Gegenstände jede vorzüglich wählen,
welcher Motive sie sich vorzüglich bedienen wird; ich
sage vorzüglich: denn, wie ich schon zu Anfang bemerkte, ganz ausschließlich kann sich keine etwas
anmaßen. Die Gegenstände des Epos und der Tragödie sollten rein menschlich, bedeutend und pathetisch sein:
die Personen stehen am besten auf einem gewissen
Grade der Kultur, wo die Selbsttätigkeit noch auf sich
allein angewiesen ist, wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlich wirkt. Die
Sagen aus der heroischen Zeit der Griechen waren in
diesem Sinne den Dichtern besonders günstig.
Das epische Gedicht stellt vorzüglich persönlich
beschränkte Tätigkeit, die Tragödie persönlich beschränktes Leiden vor; das epische Gedicht den außer
sich wirkenden Menschen: Schlachten, Reisen, jede
Art von Unternehmung, die eine gewisse sinnliche
Breite fordert; die Tragödie den nach innen geführten
Menschen, und die Handlungen der echten Tragödie
bedürfen daher nur weniges Raums.
Der Motive kenne ich fünferlei Arten:
1) Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern; deren bedient sich vorzüglich das Drama. 2) Rückwärtsschreitende, welche die Handlung
von ihrem Ziele entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast ausschließlich.
3) Retardierende, welche den Gang aufhalten oder
den Weg verlängern; dieser bedienen sich beide
Dichtarten mit dem größten Vorteile.
4) Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor
der Epoche des Gedichts geschehen ist, hereingehoben wird. 5) Vorgreifende, die dasjenige, was nach der
Epoche des Gedichts geschehen wird, antizipieren; beide
Arten braucht der epische so wie der dramatische
Dichter, um sein Gedicht vollständig zu machen.
Die Welten, welche zum Anschauen gebracht werden sollen, sind beiden gemein: 1) die physische, und zwar erstlich die nächste,
wozu die dargestellten Personen gehören und die sie
umgibt. In dieser steht der Dramatiker meist auf
einem Punkte fest, der Epiker bewegt sich freier in
einem größern Lokal; zweitens die entferntere Welt,
wozu ich die ganze Natur rechne. Diese bringt der
epische Dichter, der sich überhaupt an die Imagination wendet, durch Gleichnisse näher, deren sich der
Dramatiker sparsamer bedient. 2) die sittliche ist beiden ganz gemein und wird am
glücklichsten in ihrer physiologischen und pathologischen Einfalt dargestellt. 3) die Welt der Phantasien, Ahnungen,
Erscheinungen, Zufälle und Schicksale. Diese steht beiden
offen, nur versteht sich, daß sie an die sinnliche herangebracht werde; wobei denn für die Modernen eine
besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für die
Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der
Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden. Die Behandlung im ganzen betreffend, wird der
Rhapsode, der das vollkommen Vergangene vorträgt,
als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird
dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie
ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse
egal verteilen, weil er nicht imstande ist, einen allzu
lebhaften Eindruck geschwind zu balancieren, er wird
nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und
wandeln, man wird ihm überall folgen, denn er hat es
nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen
Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft. Der
Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem
Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen
im allgemeinen zu hören glaubte. Der Mime dagegen ist gerade in dem
entgegengesetzten Fall, er stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will, daß man an ihm und seiner nächsten
Umgebung ausschließlich teilnehme, daß man die
Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle,
seine Verlegenheiten teile und sich selbst über ihn
vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke
gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen,
weil bei sinnlicher Gegenwart auch sogar der stärkere
Eindruck durch einen schwächern vertilgt werden
kann. Der zuschauende Hörer muß von Rechts wegen
in einer steten sinnlichen Anstrengung bleiben, er darf
sich nicht zum Nachdenken erheben, er muß
leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz zum
Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie
machen, und selbst was erzählt wird, muß gleichsam
darstellend vor die Augen gebracht werden.
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