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Johann Wolfgang
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Erstes BuchAm
28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in
Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die
Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag;
Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig;
Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben
voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich
seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner
Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese
guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch
anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen
sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die
Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich
das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not
versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem
mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß
nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht
eingeführt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen
mag zugute gekommen sein. Wenn
man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend
begegnet ist, so kommt man oft in den Fall dasjenige, was wir von andern
gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner
anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierüber eine genaue
Untersuchung anzustellen, welche ohnehin zu nichts führen kann, bin ich
mir bewußt, daß wir in einem alten Hause wohnten, welches eigentlich
aus zwei durchgebrochenen Häusern bestand. Eine turmartige Treppe führte
zu unzusammenhängenden Zimmern, und die Ungleichheit der Stockwerke war
durch Stufen ausgeglichen. Für uns Kinder, eine jüngere Schwester und
mich, war die untere weitläuftige Hausflur der liebste Raum, welche
neben der Türe ein großes hölzernes Gitterwerk hatte, wodurch man
unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung kam. Einen
solchen Vogelbauer, mit dem viele Häuser versehen waren, nannte man ein
Geräms. Die Frauen saßen darin, um zu nähen und zu stricken; die Köchin
las ihren Salat; die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander,
und die Straßen gewannen dadurch in der guten Jahrszeit ein südliches
Ansehen. Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut
war. So kamen auch durch diese Gerämse die Kinder mit den Nachbarn in
Verbindung, und mich gewannen drei gegenüber wohnende Brüder von
Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen, gar
lieb, und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise. Die
Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen mich jene
sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ich führe nur einen von
diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht
allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt,
sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender
Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig
im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen
mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein
Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach.
Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich
so gar fröhlich in die Händchen putschte, riefen: "Noch
mehr!" Ich säumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwährendes
Rufen: "Noch mehr!" nach und nach sämtliche Schüsselchen,
Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn
fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh,
ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie
riefen immer: "Noch mehr!" Ich eilte daher stracks in die Küche
und holte die irdenen Teller, welchen nun freilich im Zerbrechen noch
ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wider, brachte
einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe
nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so
stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches
Verderben. Nur später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das
Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochene Töpferware
wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die
schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten. Meines
Vaters Mutter, bei der wir eigentlich im Hause wohnten, lebte in einem
großen Zimmer hinten hinaus, unmittelbar an der Hausflur, und wir
pflegten unsere Spiele bis an ihren Sessel, ja, wenn sie krank war, bis
an ihr Bett hin auszudehnen. Ich erinnere mich ihrer gleichsam als eines
Geistes, als einer schönen, hagern, immer weiß und reinlich
gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohlwollend ist sie mir im Gedächtnis
geblieben. Wir
hatten die Straße, in welcher unser Haus lag, den Hirschgraben nennen hören;
da wir aber weder Graben noch Hirsche sahen, so wollten wir diesen
Ausdruck erklärt wissen. Man erzählte sodann, unser Haus stehe auf
einem Raum, der sonst außerhalb der Stadt gelegen, und da, wo jetzt die
Straße sich befinde, sei ehmals ein Graben gewesen, in welchem eine
Anzahl Hirsche unterhalten worden. Man habe diese Tiere hier bewahrt und
genährt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen
Hirsch öffentlich verspeiset, den man denn für einen solchen Festtag
hier im Graben immer zur Hand gehabt, wenn auch auswärts Fürsten und
Ritter der Stadt ihre Jagdbefugnis verkümmerten und störten, oder wohl
gar Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dies gefiel
uns sehr, und wir wünschten, eine solche zahme Wildbahn wäre auch noch
bei unsern Zeiten zu sehen gewesen. Die
Hinterseite des Hauses hatte, besonders aus dem oberen Stock, eine sehr
angenehme Aussicht über eine beinah unabsehbare Fläche von Nachbarsgärten,
die sich bis an die Stadtmauern verbreiteten. Leider aber war, bei
Verwandlung der sonst hier befindlichen Gemeindeplätze in Hausgärten,
unser Haus und noch einige andere, die gegen die Straßenecke zu lagen,
sehr verkürzt worden, indem die Häuser vom Roßmarkt her weitläufige
Hintergebäude und große Gärten sich zueigneten, wir aber uns durch
eine ziemlich hohe Mauer unsres Hofes von diesen so nah gelegenen
Paradiesen ausgeschlossen sahen. Im
zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer
nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster
den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich
heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger
Aufenthalt. Über jene Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle sah
man in eine schöne fruchtbare Ebene; es ist die welche sich nach Höchst
hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewöhnlich meine Lektionen,
wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne,
gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen.
Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und
ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich
ergetzen sah, die Kegelkugeln rollen und die Kegel fallen hörte: so
erregte dies frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer
daraus entspringenden Sehnsucht, das, dem von der Natur in mich gelegten
Ernsten und Ahndungsvollen entsprechend, seinen Einfluß gar bald und in
der Folge noch deutlicher zeigte. Die
alte, winkelhafte, an vielen Stellen düstere Beschaffenheit des Hauses
war übrigens geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen Gemütern zu
erwecken. Unglücklicherweise hatte man noch die Erziehungsmaxime, den
Kindern frühzeitig alle Furcht vor dem Ahnungsvollen und Unsichtbaren
zu benehmen und sie an das Schauderhafte zu gewöhnen. Wir Kinder
sollten daher allein schlafen, und wenn uns dieses unmöglich fiel, und
wir uns sacht aus den Betten hervormachten und die Gesellschaft der
Bedienten und Mägde suchten, so stellte sich, in umgewandtem Schlafrock
und also für uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und schreckte
uns in unsere Ruhestätte zurück. Die daraus entspringende üble
Wirkung denkt sich jedermann. Wie soll derjenige die Furcht los werden,
den man zwischen ein doppeltes Furchtbare einklemmt? Meine Mutter, stets
heiter und froh, und andern das gleiche gönnend, erfand eine bessere pädagogische
Auskunft. Sie wußte ihren Zweck durch Belohnungen zu erreichen. Es war
die Zeit der Pfirschen, deren reichlichen Genuß sie uns jeden Morgen
versprach, wenn wir nachts die Furcht überwunden hätten. Es gelang,
und beide Teile waren zufrieden. Innerhalb
des Hauses zog meinen Blick am meisten eine Reihe römischer Prospekte
auf sich, mit welchen der Vater einen Vorsaal ausgeschmückt hatte,
gestochen von einigen geschickten Vorgängern des Piranesi, die sich auf
Architektur und Perspektive wohl verstanden, und deren Nadel sehr
deutlich und schätzbar ist. Hier sah ich täglich die Piazza del
Popolo, das Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von außen und
innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten drückten
sich tief bei mir ein und der sonst sehr lakonische Vater hatte wohl
manchmal die Gefälligkeit, eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen
zu lassen. Seine Vorliebe für die italienische Sprache und für alles,
was sich auf jenes Land bezieht, war sehr ausgesprochen. Eine kleine
Marmor - und Naturaliensammlung, die er von dorther mitgebracht, zeigte
er uns auch manchmal vor, und einen großen Teil seiner Zeit verwendete
er auf seine italienisch verfaßte Reisebeschreibung, deren Abschrift
und Redaktion er eigenhändig, heftweise, langsam und genau ausfertigte.
Ein alter heiterer italienischer Sprachmeister, Giovinazzi genannt, war
ihm daran behülflich. Auch sang der Alte nicht übel, und meine Mutter
mußte sich bequemen, ihn und sich selbst mit dem Klaviere täglich zu
akkompagnieren; da ich denn das " Solitario bosco ombroso"
bald kennen lernte, und auswendig wußte, ehe ich es verstand. Mein
Vater war überhaupt lehrhafter Natur, und bei seiner Entfernung von
Geschäften wollte er gern dasjenige, was er wußte und vermochte, auf
andre übertragen. So hatte er meine Mutter in den ersten Jahren ihrer
Verheiratung zum fleißigen Schreiben angehalten, wie zum Klavierspielen
und Singen; wobei sie sich genötigt sah, auch in der italienischen
Sprache einige Kenntnis und notdürftige Fertigkeit zu erwerben. Gewöhnlich
hielten wir uns in allen unsern Freistunden zur Großmutter, in deren
geräumigem Wohnzimmer wir hinlänglich Platz zu unsern Spielen fanden.
Sie wußte uns mit allerlei Kleinigkeiten zu beschäftigen, und mit
allerlei guten Bissen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch
setzte sie allen ihren Wohltaten die Krone auf, indem sie uns ein
Puppenspiel vorstellen ließ, und so in dem alten Hause eine neue Welt
erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemüter mit
Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken
Eindruck, der in eine große langdauernde Wirkung nachklang. Die
kleine Bühne mit ihrem stummen Personal, die man uns anfangs nur
vorgezeigt hatte, nachher aber zu eigner Übung und dramatischer
Belebung übergab, mußte uns Kindern um so viel werter sein, als es das
letzte Vermächtnis unserer guten Großmutter war, die bald darauf durch
zunehmende Krankheit unsern Augen erst entzogen, und dann für immer
durch den Tod entrissen wurde. Ihr Abscheiden war für die Familie von
desto größerer Bedeutung, als es eine völlige Veränderung in dem
Zustande derselben nach sich zog. Solange
die Großmutter lebte, hatte mein Vater sich gehütet, nur das mindeste
im Hause zu verändern oder zu erneuern; aber man wußte wohl, daß er
sich zu einem Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch sogleich
vorgenommen wurde. In Frankfurt, wie in mehrern alten Städten, hatte
man bei Aufführung hölzerner Gebäude, um Platz zu gewinnen, sich
erlaubt, nicht allein mit dem ersten, sondern auch mit den folgenden
Stocken überzubauen, wodurch denn freilich besonders enge Straßen
etwas Düsteres und Ängstliches bekamen. Endlich ging ein Gesetz durch,
daß, wer ein neues Haus von Grund auf baue, nur mit dem ersten Stock über
das Fundament herausrücken dürfe, die übrigen aber senkrecht aufführen
müsse. Mein Vater, um den vorspringenden Raum im zweiten Stock auch
nicht aufzugeben, wenig bekümmert um äußeres architektonisches
Ansehen, und nur um innere gute und bequeme Einrichtung besorgt,
bediente sich, wie schon mehrere vor ihm getan, der Ausflucht, die
oberen Teile des Hauses zu unterstützen und von unten herauf einen nach
dem andern wegzunehmen, und das Neue gleichsam einzuschalten, so daß,
wenn zuletzt gewissermaßen nichts von dem Alten übrig blieb, der ganz
neue Bau noch immer für eine Reparatur gelten konnte. Da nun also das
Einreißen und Aufrichten allmählich geschah, so hatte mein Vater sich
vorgenommen, nicht aus dem Hause zu weichen, um desto besser die
Aufsicht zu führen und die Anleitung geben zu können: denn aufs
Technische des Baues verstand er sich ganz gut; dabei wollte er aber
auch seine Familie nicht von sich lassen. Diese neue Epoche war den
Kindern sehr überraschend und sonderbar. Die Zimmer, in denen man sie
oft enge genug gehalten und mit wenig erfreulichem Lernen und Arbeiten
geängstigt, die Gänge, auf denen sie gespielt, die Wände, für deren
Reinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, alles das vor der
Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmermanns fallen zu sehen, und
zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstützten Balken
gleichsam in der Luft zu schweben, und dabei immer noch zu einer
gewissen Lektion, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden -
dieses alles brachte eine Verwirrung in den jungen Köpfen hervor, die
sich so leicht nicht wieder ins gleiche setzen ließ. Doch wurde die
Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr
Spielraum als bisher und manche Gelegenheit, sich auf Balken zu
schaukeln und auf Brettern zu schwingen, gelassen ward. Hartnäckig
setzte der Vater die erste Zeit seinen Plan durch; doch als zuletzt auch
das Dach teilweise abgetragen wurde, und, ohngeachtet alles übergespannten
Wachstuches von abgenommenen Tapeten, der Regen bis zu unsern Betten
gelangte: so entschloß er sich, obgleich ungern, die Kinder
wohlwollenden Freunden, welche sich schon früher dazu erboten hatten,
auf eine Zeitlang zu überlassen und sie in eine öffentliche Schule zu
schicken. Dieser
Übergang hatte manches Unangenehme: denn indem man die bisher zu Hause
abgesondert, reinlich, edel, obgleich streng gehaltenen Kinder unter
eine rohe Masse von jungen Geschöpfen hinunterstieß, so hatten sie vom
Gemeinen, Schlechten, ja Niederträchtigen ganz unerwartet alles zu
leiden, weil sie aller Waffen und aller Fähigkeit ermangelten, sich
dagegen zu schützen. Um
diese Zeit war es eigentlich, daß ich meine Vaterstadt zuerst gewahr
wurde: wie ich denn nach und nach immer freier und ungehinderter, teils
allein, teils mit muntern Gespielen, darin auf und ab wandelte. Um den
Eindruck, den diese ernsten und würdigen Umgebungen auf mich machten,
einigermaßen mitzuteilen, muß ich hier mit der Schilderung meines
Geburtsortes vorgreifen, wie er sich in seinen verschiedenen Teilen allmählich
vor mir entwickelte. Am liebsten spazierte ich auf der großen Mainbrücke.
Ihre Länge, ihre Festigkeit, ihr gutes Ansehen machte sie zu einem
bemerkenswerten Bauwerk; auch ist es aus früherer Zeit beinahe das
einzige Denkmal jener Vorsorge, welche die weltliche Obrigkeit ihren Bürgern
schuldig ist. Der schöne Fluß auf und abwärts zog meine Blicke nach
sich; und wenn auf dem Brückenkreuz der goldene Hahn im Sonnenschein glänzte,
so war es mir immer eine erfreuliche Empfindung. Gewöhnlich ward
alsdann durch Sachsenhausen spaziert, und die Überfahrt für einen
Kreuzer gar behaglich genossen. Da befand man sich nun wieder diesseits,
da schlich man zum Weinmarkte, bewunderte den Mechanismus der Krane,
wenn Waren ausgeladen wurden; besonders aber unterhielt uns die Ankunft
der Marktschiffe, wo man so mancherlei und mitunter so seltsame Figuren
aussteigen sah. Ging es nun in die Stadt herein, so ward jederzeit der
Saalhof, der wenigstens an der Stelle stand, wo die Burg Kaiser Karls
des Großen und seiner Nachfolger gewesen sein sollte, ehrfurchtsvoll
gegrüßt. Man verlor sich in die alte Gewerbstadt, und besonders
Markttages gern in dem Gewühl, das sich um die Bartholomäuskirche
herum versammelte. Hier hatte sich, von den frühsten Zeiten an, die
Menge der Verkäufer und Krämer übereinander gedrängt, und wegen
einer solchen Besitznahme konnte nicht leicht in den neuern Zeiten eine
geräumige und heitere Anstalt Platz finden. Die Buden des sogenannten
Pfarreisen waren uns Kindern sehr bedeutend, und wir trugen manchen
Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen Tieren bedruckte Bogen
anzuschaffen. Nur selten aber mochte man sich über den beschränkten,
vollgepfropften und unreinlichen Marktplatz hindrängen. So erinnere ich
mich auch, daß ich immer mit Entsetzen vor den daranstoßenden engen
und häßlichen Fleischbänken geflohen bin. Der Römerberg war ein
desto angenehmerer Spazierplatz. Der Weg nach der neuen Stadt, durch die
Neue Kräme, war immer aufheiternd und ergetzlich; nur verdroß es uns,
daß nicht neben der Liebfrauenkirche eine Straße nach der Zeile
zuging, und wir immer den großen Umweg durch die Hasengasse oder die
Katharinenpforte machen mußten. Was aber die Aufmerksamkeit des Kindes
am meisten an sich zog, waren die vielen kleinen Städte in der Stadt,
die Festungen in der Festung, die ummauerten Klosterbezirke nämlich,
und die aus frühern Jahrhunderten noch übrigen mehr oder minder
burgartigen Räume: so der Nürnberger Hof, das Kompostell, das
Braunfels, das Stammhaus derer von Stallburg, und mehrere in den spätern
Zeiten zu Wohnungen und Gewerbebenutzungen eingerichtete Festen. Nichts
architektonisch Erhebendes war damals in Frankfurt zu sehen: alles
deutete auf eine längst vergangne, für Stadt und Gegend sehr unruhige
Zeit. Pforten und Türme, welche die Grenze der alten Stadt
bezeichneten, dann weiterhin abermals Pforten, Türme, Mauern, Brücken,
Wälle, Gräben, womit die neue Stadt umschlossen war, alles sprach noch
zu deutlich aus, daß die Notwendigkeit, in unruhigen Zeiten dem
Gemeinwesen Sicherheit zu verschaffen, diese Anstalten hervorgebracht,
daß die Plätze, die Straßen, selbst die neuen, breiter und schöner
angelegten, alle nur dem Zufall und der Willkür und keinem regelnden
Geiste ihren Ursprung zu danken hatten. Eine gewisse Neigung zum Altertümlichen
setzte sich bei dem Knaben fest, welche besonders durch alte Chroniken,
Holzschnitte, wie z. B. den Graveschen von der Belagerung von Frankfurt,
genährt und begünstigt wurde; wobei noch eine andre Lust, bloß
menschliche Zustände in ihrer Mannigfaltigkeit und Natürlichkeit, ohne
weitern Anspruch auf Interesse oder Schönheit, zu erfassen, sich
hervortat. So war es eine von unsern liebsten Promenaden, die wir uns
des Jahrs ein paarmal zu verschaffen suchten, inwendig auf dem Gange der
Stadtmauer herzuspazieren. Gärten, Höfe, Hintergebäude ziehen sich
bis an den Zwinger heran, man sieht mehreren tausend Menschen in ihre häuslichen
kleinen, abgeschlossenen, verborgenen Zustände. Von dem Putz- und
Schaugarten des Reichen zu den Obstgärten des für seinen Nutzen
besorgten Bürgers, von da zu Fabriken, Bleichplätzen und ähnlichen
Anstalten, ja bis zum Gottesacker selbst - denn eine kleine Welt lag
innerhalb des Bezirks der Stadt - ging man an dem mannigfaltigsten,
wunderlichsten, mit jedem Schritt sich verändernden Schauspiel vorbei,
an dem unsere kindische Neugier sich nicht genug ergetzen konnte. Denn fürwahr,
der bekannte hinkende Teufel, als er für seinen Freund die Dächer von
Madrid in der Nacht abhob, hat kaum mehr für diesen geleistet, als
hiervor uns unter freiem Himmel, bei hellem Sonnenschein, getan war. Die
Schlüssel, deren man sich auf diesem Wege bedienen mußte, um durch
mancherlei Türme, Treppen und Pförtchen durchzukommen, waren in den Händen
der Zeugherren, und wir verfehlten nicht, ihren Subalternen aufs beste
zu schmeicheln. Bedeutender
noch und in einem andern Sinne fruchtbarer blieb für uns das Rathaus,
der Römer genannt. In seinen untern, gewölbähnlichen Hallen verloren
wir uns gar zu gerne. Wir verschafften uns Eintritt in das große, höchst
einfache Sessionszimmer des Rates. Bis auf eine gewisse Höhe getäfelt,
waren übrigens die Wände so wie die Wölbung weiß, und das Ganze ohne
Spur von Malerei oder irgend einem Bildwerk. Nur an der mittelsten Wand
in der Höhe las man die kurze Inschrift: Eines
Manns Rede Nach
der altertümlichsten Art waren für die Glieder dieser Versammlung Bänke
ringsumher an der Vertäfelung angebracht und um eine Stufe von dem
Boden erhöht. Da begriffen wir leicht, warum die Rangordnung unsres
Senats nach Bänken eingeteilt sei. Von der Türe linker Hand bis in die
gegenüberstehende Ecke, als auf der ersten Bank, saßen die Schöffen,
in der Ecke selbst der Schultheiß, der einzige, der ein kleines
Tischchen vor sich hatte; zu seiner Linken bis gegen die Fensterseite saßen
nunmehr die Herren der zweiten Bank; an den Fenstern her zog sich die
dritte Bank, welche die Handwerker einnahmen; in der Mitte des Saals
stand ein Tisch für den Protokollführer. Waren
wir einmal im Römer, so mischten wir uns auch wohl in das Gedränge vor
den burgemeisterlichen Audienzen. Aber größeren Reiz hatte alles, was
sich auf Wahl und Krönung der Kaiser bezog. Wir wußten uns die Gunst
der Schließer zu verschaffen, um die neue, heitre, in Fresko gemalte,
sonst durch ein Gitter verschlossene Kaisertreppe hinaufsteigen zu dürfen.
Das mit Purpurtapeten und wunderlich verschnörkelten Goldleisten
verzierte Wahlzimmer flößte uns Ehrfurcht ein. Die Türstücke, auf
welchen kleine Kinder oder Genien, mit dem kaiserlichen Ornat bekleidet,
und belastet mit den Reichsinsignien, eine gar wunderliche Figur
spielen, betrachteten wir mit großer Aufmerksamkeit, und hofften wohl
auch noch einmal eine Krönung mit Augen zu erleben. Aus dem großen
Kaisersaale konnte man uns nur mit sehr vieler Mühe wieder
herausbringen, wenn es uns einmal geglückt war, hineinzuschlüpfen; und
wir hielten denjenigen für unsern wahrsten Freund, der uns bei den
Brustbildern der sämtlichen Kaiser, die in einer gewissen Höhe umher
gemalt waren, etwas von ihren Taten erzählen mochte. Von Karl dem Großen
vernahmen wir manches Märchenhafte; aber das Historisch - Interessante
für uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit
so großen Verwirrungen ein Ende gemacht. Auch Karl der Vierte zog unsre
Aufmerksamkeit an sich. Wir hatten schon von der Goldnen Bulle und der
Peinlichen Halsgerichtsordnung gehört, auch daß er den Frankfurtern
ihre Anhänglichkeit an seinen edlen Gegenkaiser, Günther von
Schwarzburg, nicht entgelten ließ. Maximilianen hörten wir als einen
Menschen und Bürgerfreund loben, und daß von ihm prophezeit worden, er
werde der letzte Kaiser aus einem deutschen Hause sein; welches denn
auch leider eingetroffen, indem nach seinem Tode die Wahl nur zwischen
dem König von Spanien, Karl dem Fünften, und dem König von
Frankreich, Franz dem Ersten, geschwankt habe. Bedenklich fügte man
hinzu, daß nun abermals eine solche Weissagung oder vielmehr
Vorbedeutung umgehe: denn es sei augenfällig, daß nur noch Platz für
das Bild eines Kaisers übrig bleibe; ein Umstand, der, obgleich zufällig
scheinend, die Patriotisch gesinnten mit Besorgnis erfülle. Wenn
wir nun so einmal unsern Umgang hielten, verfehlten wir auch nicht, uns
nach dem Dom zu begeben und daselbst das Grab jenes braven, von Freund
und Feinden geschätzten Günther zu besuchen. Der merkwürdige Stein,
der es ehmals bedeckte, ist in dem Chor aufgerichtet. Die gleich daneben
befindliche Türe, welche ins Konklave führt blieb uns lange
verschlossen, bis wir endlich durch die obern Behörden auch den
Eintritt in diesen so bedeutenden Ort zu erlangen wußten. Allein wir hätten
besser getan, ihn durch unsre Einbildungskraft, wie bisher, auszumalen:
denn wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwürdigen
Raum, wo die mächtigsten Fürsten sich zu einer Handlung von solcher
Wichtigkeit zu versammlen pflegten, keinesweges würdig ausgeziert,
sondern noch obenein mit Balken, Stangen, Gerüsten und anderem solchen
Gesperr, das man beiseitesetzen wollte, verunstaltet. Desto mehr ward
unsere Einbildungskraft angeregt und das Herz uns erhoben, als wir kurz
nachher die Erlaubnis erhielten, beim Vorzeigen der Goldnen Bulle an
einige vornehme Fremden auf dem Rathause gegenwärtig zu sein. Mit
vieler Begierde vernahm der Knabe sodann, was ihm die Seinigen so wie ältere
Verwandte und Bekannte gern erzählten und wiederholten, die Geschichten
der zuletzt kurz auf einander gefolgten Krönungen: denn es war kein
Frankfurter von einem gewissen Alter, der nicht diese beiden Ereignisse,
und was sie begleitete, für den Gipfel seines Lebens gehalten hätte.
So prächtig die Krönung Karls des Siebenten gewesen war, bei welcher
besonders der französische Gesandte, mit Kosten und Geschmack,
herrliche Feste gegeben, so war doch die Folge für den guten Kaiser
desto trauriger, der seine Residenz München nicht behaupten konnte und
gewissermaßen die Gastfreiheit seiner Reichsstädter anflehen mußte. War
die Krönung Franz' des Ersten nicht so auffallend prächtig wie jene,
so wurde sie doch durch die Gegenwart der Kaiserin Maria Theresia
verherrlicht, deren Schönheit ebenso einen großen Eindruck auf die Männer
scheint gemacht zu haben, als die ernste würdige Gestalt und die blauen
Augen Karls des Siebenten auf die Frauen. Wenigstens wetteiferten beide
Geschlechter, dem aufhorchenden Knaben einen höchst vorteilhaften
Begriff von jenen beiden Personen beizubringen. Alle diese
Beschreibungen und Erzählungen geschahen mit heitrem und beruhigtem Gemüt:
denn der Aachner Friede hatte für den Augenblick aller Fehde ein Ende
gemacht, und wie von jenen Feierlichkeiten, so sprach man mit
Behaglichkeit von den vorübergegangenen Kriegszügen, von der Schlacht
bei Dettingen, und was die merkwürdigsten Begebenheiten der
verflossenen Jahre mehr sein mochten; und alles Bedeutende und Gefährliche
schien, wie es nach einem abgeschlossenen Frieden zu gehen pflegt, sich
nur ereignet zu haben, um glücklichen und sorgenfreien Menschen zur
Unterhaltung zu dienen. Hatte
man in einer solchen patriotischen Beschränkung kaum ein halbes Jahr
hingebracht, so traten schon die Messen wieder ein, welche in den sämtlichen
Kinderköpfen jederzeit eine unglaubliche Gärung hervorbrachten. Eine
durch Erbauung so vieler Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit
entspringende neue Stadt, das Wogen und Treiben, das Abladen und
Auspacken der Waren erregte von den ersten Momenten des Bewußtseins an
eine unbezwinglich tätige Neugierde und ein unbegrenztes Verlangen nach
kindischem Besitz, das der Knabe mit wachsenden Jahren, bald auf diese
bald auf jene Weise, wie es die Kräfte seines kleinen Beutels erlauben
wollten, zu befriedigen suchte. Zugleich aber bildete sich die
Vorstellung von dem, was die Welt alles hervorbringt, was sie bedarf,
und was die Bewohner ihrer verschiedenen Teile gegen einander
auswechseln. Diese
großen, im Frühjahr und Herbst eintretenden Epochen wurden durch
seltsame Feierlichkeiten angekündigt, welche um desto würdiger
schienen, als sie die alte Zeit, und was von dorther noch auf uns
gekommen, lebhaft vergegenwärtigten. Am Geleitstag war das ganze Volk
auf den Beinen, drängte sich nach der Fahrgasse, nach der Brücke, bis
über Sachsenhausen hinaus; alle Fenster waren besetzt, ohne daß den
Tag über was Besonderes vorging; die Menge schien nur da zu sein, um
sich zu drängen, und die Zuschauer, um sich unter einander zu
betrachten: denn das, worauf es eigentlich ankam, ereignete sich erst
mit sinkender Nacht, und wurde mehr geglaubt als mit Augen gesehen. In
jenen ältern unruhigen Zeiten nämlich, wo ein jeder nach Belieben
Unrecht tat, oder nach Lust das Rechte beförderte, wurden die auf die
Messen ziehenden Handelsleute von Wegelagerern, edlen und unedlen
Geschlechts, willkürlich geplagt und geplackt, so daß Fürsten und
andre mächtige Stände die Ihrigen mit gewaffneter Hand bis nach
Frankfurt geleiten ließen. Hier wollten nun aber die Reichsstädter
sich selbst und ihrem Gebiet nichts vergeben; sie zogen den Ankömmlingen
entgegen: da gab es denn manchmal Streitigkeiten, wie weit jene
Geleitenden herankommen, oder ob sie wohl gar ihren Einritt in die Stadt
nehmen könnten. Weil nun dieses nicht allein bei Handels- und Meßgeschäften
stattfand, sondern auch wenn hohe Personen in Kriegs- und
Friedenszeiten, vorzüglich aber zu Wahltagen sich heranbegaben, und es
auch öfters zu Tätlichkeiten kam, sobald irgend ein Gefolge, das man
in der Stadt nicht dulden wollte, sich mit seinem Herrn hereinzudrängen
begehrte: so waren zeither darüber manche Verhandlungen gepflogen, es
waren viele Rezesse deshalb, obgleich stets mit beiderseitigen
Vorbehalten, geschlossen worden, und man gab die Hoffnung nicht auf, den
seit Jahrhunderten dauernden Zwist endlich einmal beizulegen, als die
ganze Anstalt, weshalb er so lange und oft sehr heftig geführt worden
war, beinah für unnütz, wenigstens für überflüssig angesehen werden
konnte. Unterdessen
ritt die bürgerliche Kavallerie in mehreren Abteilungen, mit den Oberhäuptern
an ihrer Spitze, an jenen Tagen zu verschiedenen Toren hinaus, fand an
einer gewissen Stelle einige Reiter oder Husaren der zum Geleit
berechtigten Reichsstände, die nebst ihren Anführern wohl empfangen
und bewirtet wurden; man zögerte bis gegen Abend, und ritt alsdann,
kaum von der wartenden Menge gesehen, zur Stadt herein; da denn mancher
bürgerliche Reiter weder sein Pferd noch sich selbst auf dem Pferde zu
erhalten vermochte. Zu dem Brückentore kamen die bedeutendsten Züge
herein, und deswegen war der Andrang dorthin am stärksten. Ganz zuletzt
und mit sinkender Nacht langte der auf gleiche Weise geleitete Nürnberger
Postwagen an, und man trug sich mit der Rede, es müsse jederzeit, dem
Herkommen gemäß, eine alte Frau darin sitzen, weshalb denn die Straßenjungen
bei Ankunft des Wagens in ein gellendes Geschrei auszubrechen pflegten,
ob man gleich die im Wagen sitzenden Passagiere keineswegs mehr
unterscheiden konnte. Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war
der Drang der Menge, die in diesem Augenblick durch das Brückentor
herein dem Wagen nachstürzte; deswegen auch die nächsten Häuser von
den Zuschauern am meisten gesucht wurden. Eine
andere, noch viel seltsamere Feierlichkeit, welche am hellen Tage das
Publikum aufregte, war das Pfeifergericht. Es erinnerte diese Zeremonie
an jene ersten Zeiten, wo bedeutende Handelsstädte sich von den Zöllen,
welche mit Handel und Gewerb in gleichem Maße zunahmen, wo nicht zu
befreien, doch wenigstens eine Milderung derselben zu erlangen suchten.
Der Kaiser, der ihrer bedurfte, erteilte eine solche Freiheit da, wo es
von ihm abhing, gewöhnlich aber nur auf ein Jahr, und sie mußte daher
jährlich erneuert werden. Dieses geschah durch symbolische Gaben,
welche dem kaiserlichen Schultheißen, der auch wohl gelegentlich Oberzöllner
sein konnte, vor Eintritt der Bartholomäimesse gebracht wurden, und
zwar des Anstandes wegen, wenn er mit den Schöffen zu Gericht saß. Als
der Schultheiß späterhin nicht mehr vom Kaiser gesetzt, sondern von
der Stadt selbst gewählt wurde, behielt er doch diese Vorrechte, und
sowohl die Zollfreiheiten der Städte, als die Zeremonien, womit die
Abgeordneten von Worms, Nürnberg und Alt Bamberg diese uralte Vergünstigung
anerkannten, waren bis auf unsere Zeiten gekommen. Den Tag vor Mariä
Geburt ward ein öffentlicher Gerichtstag angekündigt. In dem großen
Kaisersaale, in einem umschränkten Raume, saßen erhöht die Schöffen,
und eine Stufe höher der Schultheiß in ihrer Mitte; die von den
Parteien bevollmächtigten Prokuratoren unten zur rechten Seite. Der
Aktuarius fängt an, die auf diesen Tag gesparten wichtigen Urteile laut
vorzulesen; die Prokuratoren bitten um Abschrift, appellieren, oder was
sie sonst zu tun nötig finden. Auf
einmal meldet eine wunderliche Musik gleichsam die Ankunft voriger
Jahrhunderte. Es sind drei Pfeifer, deren einer eine alte Schalmei, der
andere einen Baß, der dritte einen Pommer oder Hoboe bläst. Sie tragen
blaue mit Gold verbrämte Mäntel, auf den Ärmeln die Noten befestigt,
und haben das Haupt bedeckt. So waren sie aus ihrem Gasthause, die
Gesandten und ihre Begleitung hintendrein, Punkt zehn ausgezogen, von
Einheimischen und Fremden angestaunt, und so treten sie in den Saal. Die
Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer und Begleitung bleiben vor
den Schranken, der Abgesandte tritt hinein und stellt sich dem Schultheißen
gegenüber. Die symbolischen Gaben, welche auf das genauste nach dem
alten Herkommen gefordert wurden, bestanden gewöhnlich in solchen
Waren, womit die darbringende Stadt vorzüglich zu handlen pflegte. Der
Pfeffer galt gleichsam für alle Waren, und so brachte auch hier der
Abgesandte einen schön gedrechselten hölzernen Pokal mit Pfeffer angefüllt.
Über demselben lagen ein Paar Handschuhe, wundersam geschlitzt, mit
Seide besteppt und bequastet, als Zeichen einer gestatteten und
angenommenen Vergünstigung, dessen sich auch wohl der Kaiser selbst in
gewissen Fällen bediente. Daneben sah man ein weißes Stäbchen,
welches vormals bei gesetzlichen und gerichtlichen Handlungen nicht
leicht fehlen durfte. Es waren noch einige kleine Silbermünzen hinzugefügt,
und die Stadt Worms brachte einen alten Filzhut, den sie immer wieder
einlöste, so daß derselbe viele Jahre ein Zeuge dieser Zeremonien
gewesen. Nachdem
der Gesandte seine Anrede gehalten, das Geschenk abgegeben, von dem
Schultheißen die Versicherung fortdauernder Begünstigung empfangen, so
entfernte er sich aus dem geschlossenen Kreise, die Pfeifer bliesen, der
Zug ging ab, wie er gekommen war, das Gericht verfolgte seine Geschäfte,
bis der zweite und endlich der dritte Gesandte eingeführt wurden: denn
sie kamen erst einige Zeit nach einander, teils damit das Vergnügen des
Publikums länger daure, teils auch weil es immer dieselben altertümlichen
Virtuosen waren, welche Nürnberg für sich und seine Mitstädte zu
unterhalten und jedes Jahr an Ort und Stelle zu bringen übernommen
hatte. Wir
Kinder waren bei diesem Feste besonders interessiert, weil es uns nicht
wenig schmeichelte, unsern Großvater an einer so ehrenvollen Stelle zu
sehen, und weil wir gewöhnlich noch selbigen Tag ihn ganz bescheiden zu
besuchen pflegten, um, wenn die Großmutter den Pfeffer in ihre Gewürzladen
geschüttet hätte, einen Becher und Stäbchen, ein Paar Handschuh oder
einen alten Räderalbus zu erhaschen. Man konnte sich diese
symbolischen, das Altertum gleichsam hervorzaubernden Zeremonien nicht
erklären lassen, ohne in vergangene Jahrhunderte wieder zurückgeführt
zu werden, ohne sich nach Sitten, Gebräuchen und Gesinnungen unserer
Altvordern zu erkundigen, die sich durch wieder auferstandene Pfeifer
und Abgeordnete, ja durch handgreifliche und für uns besitzbare Gaben
auf eine so wunderliche Weise vergegenwärtigten. Solchen
altehrwürdigen Feierlichkeiten folgte in guter Jahrszeit manches für
uns Kinder lustreichere Fest außerhalb der Stadt unter freiem Himmel.
An dem rechten Ufer des Mains unterwärts, etwa eine halbe Stunde vom
Tor, quillt ein Schwefelbrunnen, sauber eingefaßt und mit uralten
Linden umgeben. Nicht weit davon steht der "Hof zu den guten
Leuten", ehmals ein um dieser Quelle willen erbautes Hospital. Auf
den Gemeindeweiden umher versammelte man zu einem gewissen Tage des
Jahres die Rindviehherden aus der Nachbarschaft, und die Hirten samt
ihren Mädchen feierten ein ländliches Fest, mit Tanz und Gesang, mit
mancherlei Lust und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der Stadt lag
ein ähnlicher nur größerer Gemeindeplatz, gleichfalls durch einen
Brunnen und durch noch schönere Linden geziert. Dorthin trieb man zu
Pfingsten die Schafherden, und zu gleicher Zeit ließ man die armen
verbleichten Waisenkinder aus ihren Mauern ins Freie: denn man sollte
erst später auf den Gedanken geraten, daß man solche verlassene
Kreaturen, die sich einst durch die Welt durchzuhelfen genötigt sind,
früh mit der Welt in Verbindung bringen, anstatt sie auf eine traurige
Weise zu hegen, sie lieber gleich zum Dienen und Dulden gewöhnen müsse,
und alle Ursach habe, sie von Kindesbeinen an sowohl physisch als
moralisch zu kräftigen. Die Ammen und Mägde, welche sich selbst immer
gern einen Spaziergang bereiten, verfehlten nicht, von den frühsten
Zeiten, uns an dergleichen Orte zu tragen und zu führen, so daß diese
ländlichen Feste wohl mit zu den ersten Eindrücken gehören, deren ich
mich erinnern kann. Das
Haus war indessen fertig geworden, und zwar in ziemlich kurzer Zeit,
weil alles wohl überlegt, vorbereitet und für die nötige Geldsumme
gesorgt war. Wir fanden uns nun alle wieder versammelt und fühlten uns
behaglich: denn ein wohlausgedachter Plan, wenn er ausgeführt dasteht,
läßt alles vergessen, was die Mittel, um zu diesem Zweck zu gelangen,
Unbequemes mögen gehabt haben. Das Haus war für eine Privatwohnung geräumig
genug, durchaus hell und heiter, die Treppe frei, die Vorsäle lustig,
und jene Aussicht über die Gärten aus mehrern Fenstern bequem zu genießen.
Der innere Ausbau, und was zur Vollendung und Zierde gehört, ward nach
und nach vollbracht, und diente zugleich zur Beschäftigung und zur
Unterhaltung. Das
erste, was man in Ordnung brachte, war die Büchersammlung des Vaters,
von welcher die besten, in Franz oder Halbfranzband gebundenen Bücher
die Wände seines Arbeits- und Studierzimmers schmücken sollten. Er
besaß die schönen holländischen Ausgaben der lateinischen
Schriftsteller, welche er der äußern Übereinstimmung wegen sämtlich
in Quart anzuschaffen suchte; sodann vieles, was sich auf die römischen
Antiquitäten und die elegantere Jurisprudenz bezieht. Die vorzüglichsten
italienischen Dichter fehlten nicht, und für den Tasso bezeigte er eine
große Vorliebe. Die besten neusten Reisebeschreibungen waren auch
vorhanden, und er selbst machte sich ein Vergnügen daraus, den Keyßler
und Nemeiz zu berichtigen und zu ergänzen Nicht weniger hatte er sich
mit den nötigsten Hülfsmitteln umgeben, mit Wörterbüchern aus
verschiedenen Sprachen, mit Reallexiken, daß man sich also nach
Belieben Rats erholen konnte, so wie mit manchem andern, was zum Nutzen
und Vergnügen gereicht. Die andere Hälfte dieser Büchersammlung, in
saubern Pergamentbänden mit sehr schön geschriebenen Titeln, ward in
einem besondern Mansardzimmer aufgestellt. Das Nachschaffen der neuen Bücher,
so wie das Binden und Einreihen derselben, betrieb er mit großer
Gelassenheit und Ordnung. Dabei hatten die gelehrten Anzeigen, welche
diesem oder jenem Werk besondere Vorzüge beilegten, auf ihn großen
Einfluß, seine Sammlung juristischer Dissertationen vermehrte sich jährlich
um einige Bände. Zunächst
aber wurden die Gemälde, die sonst in dem alten Hause zerstreut
herumgehangen, nunmehr zusammen an den Wänden eines freundlichen
Zimmers neben der Studierstube, alle in schwarzen, mit goldenen Stäbchen
verzierten Rahmen, symmetrisch angebracht. Mein Vater hatte den
Grundsatz, den er öfters und sogar leidenschaftlich aussprach, daß man
die lebenden Meister beschäftigen, und weniger auf die abgeschiedenen
wenden solle, bei deren Schätzung sehr viel Vorurteil mit unterlaufe.
Er hatte die Vorstellung, daß es mit den Gemälden völlig wie mit den
Rheinweinen beschaffen sei, die, wenn ihnen gleich das Alter einen vorzüglichen
Wert beilege, dennoch in jedem folgenden Jahre ebenso vortrefflich als
in den vergangenen könnten hervorgebracht werden. Nach Verlauf einiger
Zeit werde der neue Wein auch ein alter, ebenso kostbar und vielleicht
noch schmackhafter. In dieser Meinung bestätigte er sich vorzüglich
durch die Bemerkung, daß mehrere alte Bilder hauptsächlich dadurch für
die Liebhaber einen großen Wert zu erhalten schienen, weil sie dunkler
und bräuner geworden, und der harmonische Ton eines solchen Bildes öfters
gerühmt wurde. Mein Vater versicherte dagegen, es sei ihm gar nicht
bange, daß die neuen Bilder künftig nicht auch schwarz werden sollten;
daß sie aber gerade dadurch gewonnen, wollte er nicht zugestehen. Nach
diesen Grundsätzen beschäftigte er mehrere Jahre hindurch die sämtlichen
Frankfurter Künstler: den Maler Hirt, welcher Eichen - und Buchenwälder
und andere sogenannte ländliche Gegenden sehr wohl mit Vieh zu
staffieren wußte; desgleichen Trautmann, der sich den Rembrandt zum
Muster genommen, und es in eingeschlossenen Lichtern und Widerscheinen,
nicht weniger in effektvollen Feuersbrünsten weit gebracht hatte, so daß
er einstens aufgefordert wurde, einen Pendant zu einem Rembrandtischen
Bilde zu malen; ferner Schütz, der auf dem Wege des Sachtleben die
Rheingegenden fleißig bearbeitete; nicht weniger Junckern, der Blumen-
und Fruchtstücke, Stilleben und ruhig beschäftigte Personen, nach dem
Vorgang der Niederländer, sehr reinlich ausführte. Nun aber ward durch
die neue Ordnung, durch einen bequemem Raum, und noch mehr durch die
Bekanntschaft eines geschickten Künstlers die Liebhaberei wieder
angefrischt und belebt. Dieses war Seekatz, ein Schüler von Brinckmann,
darmstädtischer Hofmaler, dessen Talent und Charakter sich in der Folge
vor uns umständlicher entwickeln wird. Man
schritt auf diese Weise mit Vollendung der übrigen Zimmer, nach ihren
verschiedenen Bestimmungen, weiter. Reinlichkeit und Ordnung herrschten
im ganzen; vorzüglich trugen große Spiegelscheiben das Ihrige zu einer
vollkommenen Helligkeit bei, die in dem alten Hause aus mehrern
Ursachen, zunächst aber auch wegen meist runder Fensterscheiben gefehlt
hatte. Der Vater zeigte sich heiter, weil ihm alles gut gelungen war;
und wäre der gute Humor nicht manchmal dadurch unterbrochen worden, daß
nicht immer der Fleiß und die Genauigkeit der Handwerker seinen
Forderungen entsprachen, so hätte man kein glücklicheres Leben denken
können, zumal da manches Gute teils in der Familie selbst entsprang,
teils ihr von außen zufloß. Durch
ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des
Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755
ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in
Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine
große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird
ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und
schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser
stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast
zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint
Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den
Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und
behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der Glücklichste darunter
ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück
mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine
Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter
Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem
Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen
Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. Schneller
als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich
durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere
Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den
heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto
größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im
allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch
verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an
Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten
die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die
Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch
fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch Sorgen für sich
selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die
weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer
mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der
Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine
Schauer über die Erde verbreitet. Der
Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig
betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den
ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig
vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten
gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens
suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen,
welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und
Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen
anzusehen habe, nicht vereinigen konnten. Der
folgende Sommer gab eine nähere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem
das Alte Testament so viel überliefert, unmittelbar kennen zu lernen.
Unversehens brach ein Hagelwetter herein und schlug die neuen
Spiegelscheiben der gegen Abend gelegenen Hinterseite des Hauses unter
Donner und Blitzen auf das gewaltsamste zusammen, beschädigte die neuen
Möbeln, verderbte einige schäzbare Bücher und sonst werte Dinge, und
war für die Kinder um so fürchterlicher, als das ganz außer sich
gesetzte Hausgesinde sie in einen dunklen Gang mit fortriß, und dort
auf den Knieen liegend durch schreckliches Geheul und Geschrei die erzürnte
Gottheit zu versöhnen glaubte; indessen der Vater, ganz allein gefaßt,
die Fensterflügel aufriß und aushob; wodurch er zwar manche Scheiben
rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regenguß einen desto
offnern Weg bereitete, so daß man sich, nach endlicher Erholung, auf
den Vorsälen und Treppen von flutendem und rinnendem Wasser umgeben
sah. Solche
Vorfälle, wie störend sie auch im ganzen waren, unterbrachen doch nur
wenig den Gang und die Folge des Unterrichts, den der Vater selbst uns
Kindern zu geben sich einmal vorgenommen. Er hatte seine Jugend auf dem
Koburger Gymnasium zugebracht, welches unter den deutschen Lehranstalten
eine der ersten Stellen einnahm. Er hatte daselbst einen guten Grund in
den Sprachen, und was man sonst zu einer gelehrten Erziehung rechnete,
gelegt, nachher in Leipzig sich der Rechtswissenschaft beflissen, und
zuletzt in Gießen promoviert. Seine mit Ernst und Fleiß verfaßte
Dissertation: "Electa de aditione hereditatis", wird, noch von
den Rechtslehrern mit Lob angeführt. Es
ist ein frommer Wunsch aller Väter, das, was ihnen selbst abgegangen,
an den Söhnen realisiert zu sehen, so ohngefähr, als wenn man zum
zweitenmal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst
recht nutzen wollte. Im Gefühl seiner Kenntnisse, in Gewißheit einer
treuen Ausdauer, und im Mißtrauen gegen die damaligen Lehrer nahm der
Vater sich vor, seine Kinder selbst zu unterrichten, und nur so viel,
als es nötig schien, einzelne Stunden durch eigentliche Lehrmeister zu
besetzen. Ein pädagogischer Dilettantismus fing sich überhaupt schon
zu zeigen an. Die Pedanterie und Trübsinnigkeit der an öffentlichen
Schulen angestellten Lehrer mochte wohl die erste Veranlassung dazu
geben. Man suchte nach etwas Besserem, und vergaß, wie mangelhaft aller
Unterricht sein muß, der nicht durch Leute vom Metier erteilt wird. Meinem
Vater war sein eigner Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch
gelungen; ich sollte denselben Weg gehen, aber bequemer und weiter. Er
schätzte meine angeborenen Gaben um so mehr, als sie ihm mangelten:
denn er hatte alles nur durch unsäglichen Fleiß, Anhaltsamkeit und
Wiederholung erworben. Er versicherte mir öfters, früher und später,
im Ernst und Scherz, daß er mit meinen Anlagen sich ganz anders würde
benommen, und nicht so liederlich damit würde gewirtschaftet haben. Durch
schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten entwuchs ich sehr bald
dem Unterricht, den mir mein Vater und die übrigen Lehrmeister geben
konnten, ohne daß ich doch in irgend etwas begründet gewesen wäre.
Die Grammatik mißfiel mir, weil ich sie nur als ein willkürliches
Gesetz ansah; die Regeln schienen mir lächerlich, weil sie durch so
viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder besonders lernen
sollte. Und wäre nicht der gereimte angehende Lateiner gewesen, so hätte
es schlimm mit mir ausgesehen; doch diesen trommelte und sang ich mir
gern vor. So hatten wir auch eine Geographie in solchen Gedächtnisversen,
wo uns die abgeschmacktesten Reime das zu Behaltende am besten einprägten,
z. B.: Oberyssel:
viel Morast Macht
das gute Land verhaßt. Die
Sprachformen und Wendungen faßte ich leicht; so auch entwickelte ich
mir schnell, was in dem Begriff einer Sache lag. In rhetorischen Dingen,
Chrien und dergleichen tat es mir niemand zuvor, ob ich schon wegen
Sprachfehler oft hintanstehen mußte. Solche Aufsätze waren es jedoch,
die meinem Vater besondre Freude machten, und wegen deren er mich mit
manchem für einen Knaben bedeutenden Geldgeschenk belohnte. Mein
Vater lehrte die Schwester in demselben Zimmer Italienisch, wo ich den
Cellarius auswendig zu lernen hatte. Indem ich nun mit meinem Pensum
bald fertig war und doch still sitzen sollte, horchte ich über das Buch
weg und faßte das Italienische, das mir als eine lustige Abweichung des
Lateinischen auffiel, sehr behende. Andere
Frühzeitigkeiten in Absicht auf Gedächtnis und Kombination hatte ich
mit jenen Kindern gemein, die dadurch einen frühen Ruf erlangt haben.
Deshalb konnte mein Vater kaum erwarten, bis ich auf Akademie gehen würde.
Sehr bald erklärte er, daß ich in Leipzig, für welches er eine große
Vorliebe behalten, gleichfalls Jura studieren, alsdann noch eine andre
Universität besuchen und promovieren sollte. Was diese zweite betraf,
war es ihm gleichgültig, welche ich wählen würde; nur gegen Göttingen
hatte er, ich weiß nicht warum, einige Abneigung, zu meinem Leidwesen:
denn ich hatte gerade auf diese viel Zutrauen und große Hoffnungen
gesetzt. Ferner
erzählte er mir, daß ich nach Wetzlar und Regensburg, nicht weniger
nach Wien und von da nach Italien gehen sollte; ob er gleich wiederholt
behauptete, man müsse Paris voraus sehen, weil man aus Italien kommend
sich an nichts mehr ergetze. Dieses
Märchen meines künftigen Jugendganges ließ ich mir gern wiederholen,
besonders da es in eine Erzählung von Italien und zuletzt in eine
Beschreibung von Neapel auslief. Sein sonstiger Ernst und Trockenheit
schien sich jederzeit aufzulösen und zu beleben, und so erzeugte sich
in uns Kindern der leidenschaftliche Wunsch, auch dieser Paradiese
teilhaft zu werden. Privatstunden,
welche sich nach und nach vermehrten, teilte ich mit Nachbarskindern.
Dieser gemeinsame Unterricht förderte mich nicht; die Lehrer gingen
ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Bösartigkeiten
meiner Gesellen brachten Unruh, Verdruß und Störung in die kärglichen
Lehrstunden. Chrestomathien, wodurch die Belehrung heiter und
mannigfaltig wird, waren noch nicht bis zu uns gekommen. Der für junge
Leute so starre Cornelius Nepos, das allzu leichte, und durch Predigten
und Religionsunterricht sogar trivial gewordne Neue Testament, Cellarius
und Pasor konnten uns kein Interesse geben; dagegen hatte sich eine
gewisse Reim- und Versewut, durch Lesung der damaligen deutschen
Dichter, unser bemächtigt. Mich hatte sie schon früher ergriffen, als
ich es lustig fand, von der rhetorischen Behandlung der Aufgaben zu der
poetischen überzugehen. Wir
Knaben hatten eine sonntägliche Zusammenkunft, wo jeder von ihm selbst
verfertigte Verse produzieren sollte. Und hier begegnete mir etwas
Wunderbares, was mich sehr lange in Unruh setzte. Meine Gedichte, wie
sie auch sein mochten, mußte ich immer für die bessern halten. Allein
ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche sehr lahme Dinge
vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und sich nicht weniger dünkten;
ja, was mir noch bedenklicher schien, ein guter, obgleich zu solchen
Arbeiten völlig unfähiger Knabe, dem ich übrigens gewogen war, der
aber seine Reime sich vom Hofmeister machen ließ, hielt diese nicht
allein für die allerbesten, sondern war völlig überzeugt, er habe sie
selbst gemacht; wie er mir, in dem vertrauteren Verhältnis, worin ich
mit ihm stand, jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun solchen
Irrtum und Wahnsinn offenbar vor mir sah, fiel es mir eines Tages aufs
Herz, ob ich mich vielleicht selbst in dem Falle befände, ob nicht jene
Gedichte wirklich besser seien als die meinigen, und ob ich nicht mit
Recht jenen Knaben ebenso toll als sie mir vorkommen möchte? Dieses
beunruhigte mich sehr und lange Zeit: denn es war mir durchaus unmöglich,
ein äußeres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich stockte sogar
in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtsinn und Selbstgefühl
und zuletzt eine Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und Eltern,
welche auf unsere Scherze aufmerksam geworden aus dem Stegreif aufgaben,
wobei ich gut bestand und allgemeines Lob davontrug. Man
hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet. Die
Alten hatten selbst noch kindliche Gesinnungen, und fanden es bequem,
ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzuteilen. Außer dem "Orbis
pictus" des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände;
aber die große Foliobibel, mit Kupfern von Merlan, ward häufig von uns
durchblättert; Gottfrieds "Chronik", mit Kupfern desselben
Meisters, belehrte uns von den merkwürdigsten Fällen der
Weltgeschichte; die "Acerra philologica" tat noch allerlei
Fabeln, Mythologien und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die
Ovidischen "Verwandlungen" gewahr wurde, und besonders die
ersten Bücher fleißig studierte: so war mein junges Gehirn schnell
genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und
wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt, und ich konnte niemals
Langeweile haben, indem ich mich immerfort beschäftigte, diesen Erwerb
zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen. Einen
frömmern, sittlichern Effekt als jene mitunter rohen und gefährlichen
Altertümlichkeiten machte Fénelons "Telemach", den ich erst
nur in der Neukirchischen Übersetzung kennen lernte, und der, auch so
unvollkommen überliefert, eine gar süße und wohltätige Wirkung auf
mein Gemüt äußerte. Daß "Robinson Crusoe" sich zeitig
angeschlossen, liegt wohl in der Natur der Sache; daß die "Insel
Felsenburg" nicht gefehlt habe, läßt sich denken. Lord Ansons
"Reise um die Welt" verband das Würdige der Wahrheit mit dem
Phantasiereichen des Märchens, und indem wir diesen trefflichen Seemann
mit den Gedanken begleiteten wurden wir weit in alle Welt hinausgeführt,
und versuchten, ihm mit unsern Fingern auf dem Globus zu folgen. Nun
sollte mir auch noch eine reichlichere Ernte bevorstehen, indem ich an
eine Masse Schriften geriet, die zwar in ihrer gegenwärtigen Gestalt
nicht vortrefflich genannt werden können, deren Inhalt jedoch uns
manches Verdienst voriger Zeiten in einer unschuldigen Weise näher
bringt. Der
Verlag oder vielmehr die Fabrik jener Bücher, welche in der folgenden
Zeit unter dem Titel "Volksschriften", "Volksbücher"
bekannt und sogar berühmt geworden, war in Frankfurt selbst, und sie
wurden, wegen des großen Abgangs, mit stehenden Lettern auf das
schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckt. Wir Kinder hatten
also das Glück, diese schätzbaren Überreste der Mittelzeit auf einem
Tischchen vor der Haustüre eines Büchertrödlers täglich zu finden,
und sie uns für ein paar Kreuzer zuzueignen. Der
"Eulenspiegel", "Die vier Haimonskinder", "Die
schöne Melusine", "Der Kaiser Oktavian", "Die schöne
Magelone", "Fortunatus", mit der ganzen Sippschaft bis
auf den "Ewigen Juden", alles stand uns zu Diensten, sobald
uns gelüstete, nach diesen Werken anstatt nach irgend einer Näscherei
zu greifen. Der größte Vorteil dabei war, daß, wenn wir ein solches
Heft zerlesen oder sonst beschädigt hatten, es bald wieder angeschafft
und aufs neue verschlungen werden konnte. Wie
eine Familienspazierfahrt im Sommer durch ein plötzliches Gewitter auf
eine höchst verdrießliche Weise gestört, und ein froher Zustand in
den widerwärtigsten verwandelt wird, so fallen auch die
Kinderkrankheiten unerwartet in die schönste Jahrszeit des Frühlebens.
Mir erging es auch nicht anders. Ich hatte mir eben den "Fortunalus"
mit seinem Säckel und Wünschhütlein gekauft, als mich ein Mißbehagen
und ein Fieber überfiel, wodurch die Pocken sich ankündigten. Die
Einimpfung derselben ward bei uns noch immer für sehr problematisch
angesehen, und ob sie gleich populäre Schriftsteller schon faßlich und
eindringlich empfohlen, so zauderten doch die deutschen Ärzte mit einer
Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende Engländer
kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar,
die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurteil
fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt;
die Krankheit wütete durch die Familien, tötete und entstellte viele
Kinder, und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen,
dessen wahrscheinliche Hülfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig
bestätigt war. Das Übel betraf nun auch unser Haus, und überfiel mich
mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersäet,
das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen
Leiden. Man suchte die möglichste Linderung, und versprach mir goldene
Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Übel nicht durch Reiben
und Kratzen vermehren wollte. Ich gewann es über mich; indessen hielt
man uns, nach herrschendem Vorurteil, so warm als möglich, und schärfte
dadurch nur das Übel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es
mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern eine sichtbare
Spur auf der Haut zurückgelassen; aber die Bildung war merklich verändert.
Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach
und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber andere waren unbarmherzig
genug, mich öfters an den vorigen Zustand zu erinnern; besonders eine
sehr lebhafte Tante, die früher Abgötterei mit mir getrieben hatte,
konnte mich, selbst noch in späteren Jahren, selten ansehen, ohne
auszurufen: "Pfui Teufel! Vetter, wie garstig ist Er
geworden!" Dann erzählte sie mir umständlich, wie sie sich sonst
an mir ergetzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie mich
umhergetragen; und so erfuhr ich frühzeitig, daß uns die Menschen für
das Vergnügen, das wir ihnen gewährt haben, sehr oft empfindlich büßen
lassen. Weder
von Masern, noch Windblattern, und wie die Quälgeister der Jugend heißen
mögen, blieb ich verschont, und jedesmal versicherte man mir, es wäre
ein Glück, daß dieses Übel nun für immer vorüber sei; aber leider
drohte schon wieder ein andres im Hintergrund und rückte heran. Alle
diese Dinge vermehrten meinen Hang zum Nachdenken, und da ich, um das
Peinliche der Ungeduld von mir zu entfernen, mich schon öfter im
Ausdauern geübt hatte, so schienen mir die Tugenden, welche ich an den
Stoikern hatte rühmen hören, höchst nachahmenswert, um so mehr, als
durch die christliche Duldungslehre ein Ähnliches empfohlen wurde. Bei
Gelegenheit dieses Familienleidens will ich auch noch eines Bruders
gedenken, welcher, um drei Jahr jünger als ich, gleichfalls von jener
Ansteckung ergriffen wurde und nicht wenig davon litt. Er war von zarter
Natur, still und eigensinnig, und wir hatten niemals ein eigentliches
Verhältnis zusammen. Auch überlebte er kaum die Kinderjahre. Unter
mehrern nachgebornen Geschwistern, die gleichfalls nicht lange am Leben
blieben, erinnere ich mich nur eines sehr schönen und angenehmen Mädchens,
die aber auch bald verschwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre,
ich und meine Schwester, uns allein übrig sahen, und nur um so inniger
und liebevoller verbanden. Jene
Krankheiten und andere unangenehme Störungen wurden in ihren Folgen
doppelt lästig: denn mein Vater, der sich einen gewissen Erziehungs-
und Unterrichtskalender gemacht zu haben schien, wollte jedes Versäumnis
unmittelbar wieder einbringen, und belegte die Genesenden mit doppelten
Lektionen, welche zu leisten mir zwar nicht schwer, aber insofern
beschwerlich fiel, als es meine innere Entwicklung, die eine
entschiedene Richtung genommen hatte, aufhielt und gewissermaßen zurückdrängte. Vor
diesen didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen flüchteten wir
gewöhnlich zu den Großeltern. Ihre Wohnung lag auf der Friedberger
Gasse und schien ehmals eine Burg gewesen zu sein: denn wenn man
herankam, sah man nichts als ein großes Tor mit Zinnen, welches zu
beiden Seiten an zwei Nachbarhäuser stieß. Trat man hinein, so
gelangte man durch einen schmalen Gang endlich in einen ziemlich breiten
Hof, umgeben von ungleichen Gebäuden, welche nunmehr alle zu einer
Wohnung vereinigt waren. Gewöhnlich eilten wir sogleich in den Garten,
der sich ansehnlich lang und breit hinter den Gebäuden hin erstreckte
und sehr gut unterhalten war; die Gänge meistens mit Rebgeländer
eingefaßt, ein Teil des Raums den Küchengewächsen, ein andrer den
Blumen gewidmet, die vom Frühjahr bis in den Herbst, in reichlicher
Abwechslung, die Rabatten so wie die Beete schmückten. Die lange gegen
Mittag gerichtete Mauer war zu wohl gezogenen Spalier-Pfirsichbäumen
genützt, von denen uns die verbotenen Früchte den Sommer über gar
appetitlich entgegenreiften. Doch vermieden wir lieber diese Seite, weil
wir unsere Genäschigkeit hier nicht befriedigen durften, und wandten
uns zu der entgegengesetzten, wo eine unabsehbare Reihe Johannis- und
Stachelbeerbüsche unserer Gierigkeit eine Folge von Ernten bis in den
Herbst eröffnete. Nicht weniger war uns ein alter, hoher,
weitverbreiteter Maulbeerbaum bedeutend, sowohl wegen seiner Früchte
als auch, weil man uns erzählte, daß von seinen Blättern die Seidenwürmer
sich ernährten. In diesem friedlichen Revier fand man jeden Abend den
Großvater mit behaglicher Geschäftigkeit eigenhändig die feinere
Obst- und Blumenzucht besorgend, indes ein Gärtner die gröbere Arbeit
verrichtete. Die vielfachen Bemühungen, welche nötig sind, um einen
schönen Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ er sich niemals
verdrießen. Er selbst band sorgfältig die Zweige der Pfirsichbäume fächerartig
an die Spaliere, um einen reichlichen und bequemen Wachstum der Früchte
zu befördern. Das Sortieren der Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen und
verwandter Gewächse so wie die Sorge für Aufbewahrung derselben überließ
er niemanden; und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem
Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschäftigte. Dabei zog er, um
sich vor den Dornen zu schützen, jene altertümlichen ledernen
Handschuhe an, die ihm beim Pfeifergericht jährlich in Triplo überreicht
wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer
einen tatarähnlichen Schlafrock, und auf dem Haupt eine faltige
schwarze Samtmütze, so daß er eine mittlere Person zwischen Alkinous
und Laertes hätte vorstellen können. Alle
diese Gartenarbeiten betrieb er ebenso regelmäßig und genau als seine
Amtsgeschäfte: denn eh er herunterkam, hatte er immer die Registrande
seiner Proponenden für den andern Tag in Ordnung gebracht und die Akten
gelesen. Ebenso fuhr er morgens aufs Rathaus, speiste nach seiner Rückkehr,
nickte hierauf in seinem Großvaterstuhl, und so ging alles einen Tag
wie den andern. Er sprach wenig, zeigte keine Spur von Heftigkeit; ich
erinnere mich nicht, ihn zornig gesehen zu haben. Alles, was ihn umgab,
war altertümlich. In seiner getäfelten Stube habe ich niemals irgend
eine Neuerung wahrgenommen, seine Bibliothek enthielt außer
juristischen Werken nur die ersten Reisebeschreibungen, Seefahrten und Länderentdeckungen.
Überhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefühl
eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hätte. Was
jedoch die Ehrfurcht, die wir für diesen würdigen Greis empfanden, bis
zum Höchsten steigerte, war die Überzeugung, daß derselbe die Gabe
der Weissagung besitze, besonders in Dingen, die ihn selbst und sein
Schicksal betrafen. Zwar ließ er sich gegen niemand als gegen die Großmutter
entschieden und umständlich heraus; aber wir alle wußten doch, daß er
durch bedeutende Träume von dem, was sich ereignen sollte, unterrichtet
werde. So versicherte er z. B. seiner Gattin, zur Zeit als er noch unter
die jüngern Ratsherren gehörte, daß er bei der nächsten Vakanz auf
der Schöffenbank zu der erledigten Stelle gelangen würde. Und als
wirklich bald darauf einer der Schöffen vom Schlage gerührt starb,
verordnete er am Tage der Wahl und Kugelung, daß zu Hause im Stillen
alles zum Empfang der Gäste und Gratulanten solle eingerichtet werden,
und die entscheidende goldne Kugel ward wirklich für ihn gezogen. Den
einfachen Traum, der ihn hievon belehrt, vertraute er seiner Gattin
folgendermaßen: Er habe sich in voller gewöhnlicher Ratsversammlung
gesehen, wo alles nach hergebrachter Weise vorgegangen. Auf einmal habe
sich der nun verstorbene Schöff von seinem Sitz erhoben, sei
herabgestiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Kompliment
gemacht er möge den verlassenen Platz einnehmen, und sei darauf zur Türe
hinausgegangen. Etwas
Ähnliches begegnete, als der Schultheiß mit Tode abging. Man zaudert
in solchem Falle nicht lange mit Besetzung dieser Stelle, weil man immer
zu fürchten hat, der Kaiser werde sein altes Recht, einen Schultheißen
zu bestellen, irgend einmal wieder hervorrufen. Diesmal ward um
Mitternacht eine außerordentliche Sitzung auf den andern Morgen durch
den Gerichtsboten angesagt. Weil diesem nun das Licht in der Laterne
verlöschen wollte, so erbat er sich ein Stümpfchen, um seinen Weg
weiter fortsetzen zu können. "Gebt ihm ein ganzes", sagte der
Großvater zu den Frauen, "er hat ja doch die Mühe um
meinetwillen." Dieser Äußerung entsprach auch der Erfolg: er
wurde wirklich Schultheiß; wobei der Umstand noch besonders merkwürdig
war, daß, obgleich sein Repräsentant bei der Kugelung an der dritten
und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwei silbernen Kugeln zuerst
herauskamen, und also die goldne für ihn auf dem Grunde des Beutels
liegen blieb. Völlig prosaisch, einfach und ohne Spur von
Phantastischem oder Wundersamem waren auch die übrigen der uns bekannt
gewordenen Träume. Ferner erinnere ich mich, daß ich als Knabe unter
seinen Büchern und Schreibkalendern gestört, und darin unter andern
auf Gärtnerei bezüglichen Anmerkungen aufgezeichnet gefunden:
"Heute nacht kam N. N. zu mir und sagte..." Name und
Offenbarung waren in Chiffern geschrieben. Oder es stand auf gleiche
Weise: "Heute nacht sah ich..." Das übrige war wieder in
Chiffern, bis auf die Verbindungs- und andre Worte, aus denen sich
nichts abnehmen ließ. Bemerkenswert
bleibt es hiebei, daß Personen, welche sonst keine Spur von
Ahndungsvermögen zeigten, in seiner Sphäre für den Augenblick die Fähigkeit
erlangten, daß sie von gewissen gleichzeitigen, obwohl in der
Entfernung vorgehenden Kranheits- und Todesereignissen durch sinnliche
Wahrzeichen eine Vorempfindung hatten. Aber auf keines seiner Kinder und
Enkel hat eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie meistenteils rüstige
Personen, lebensfroh und nur aufs Wirkliche gestellt. Bei
dieser Gelegenheit gedenk ich derselben mit Dankbarkeit für vieles
Gute, das ich von ihnen in meiner Jugend empfangen, so waren wir z. B.
auf gar mannigfaltige Weise beschäftigt und unterhalten, wenn wir die
an einen Materialhändler Melber verheiratete zweite Tochter besuchten,
deren Wohnung und Laden mitten im lebhaftesten, gedrängtesten Teile der
Stadt an dem Markte lag. Hier sahen wir nun dem Gewühl und Gedränge,
in welches wir uns scheuten zu verfieren, sehr vergnüglich aus den
Fenstern zu; und wenn uns im Laden unter so vielerlei Waren anfänglich
nur das Süßholz und die daraus bereiteten braunen gestempelten
Zeltlein vorzüglich interessierten, so wurden wir doch allmählich mit
der großen Menge von Gegenständen bekannt, welche bei einer solchen
Handlung aus und ein fließen. Diese Tante war unter den Geschwistern
die lebhafteste. Wenn meine Mutter, in Jüngern Jahren, sich in
reinlicher Kleidung bei einer zierlichen weiblichen Arbeit oder im Lesen
eines Buches gefiel, so fuhr jene in der Nachbarschaft umher, um sich
dort versäumter Kinder anzunehmen, sie zu warten, zu kämmen und
herumzutragen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Weile so
getrieben. Zur Zeit öffentlicher Feierlichkeiten, wie bei Krönungen,
war sie nicht zu Hause zu halten. Als kleines Kind schon hatte sie nach
dem bei solchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gelde gehascht, und man erzählte
sich: wie sie einmal eine gute Partie beisammen gehabt und solches vergnüglich
in der flachen Hand beschaut, habe ihr einer dagegen geschlagen, wodurch
denn die wohlerworbene Beute auf einmal verloren gegangen. Nicht weniger
wußte sie sich viel damit, daß sie dem vorbeifahrenden Kaiser Karl dem
Siebenten, während eines Augenblicks, da alles Volk schwieg, auf einem
Prallsteine stehend, ein heftiges Vivat in die Kutsche gerufen und ihn
veranlaßt habe, den Hut vor ihr abzuziehen und für diese kecke
Aufmerksamkeit gar gnädig zu danken. Auch
in ihrem Hause war um sie her alles bewegt, lebenslustig und munter, und
wir Kinder sind ihr manche frohe Stunde schuldig geworden. In
einem ruhigern, aber auch ihrer Natur angemessenen Zustande befand sich
eine zweite Tante, welche mit dem bei der St.-Katharinen-Kirche
angestellten Pfarrer Starck verheiratet war. Er lebte seiner Gesinnung
und seinem Stande gemäß sehr einsam, und besaß eine schöne
Bibliothek. Hier lernte ich zuerst den Homer kennen, und zwar in einer
prosaischen Übersetzung, wie sie im siebenten Teil der durch Herrn von
Loen besorgten "Neuen Sammlung der merkwürdigsten
Reisegeschichten", unter dem Titel "Homers Beschreibung der
Eroberung des Trojanischen Reichs", zu finden ist, mit Kupfern im
französischen Theatersinne geziert. Diese Bilder verdarben mir dermaßen
die Einbildungskraft, daß ich lange Zeit die Homerischen Helden mir nur
unter diesen Gestalten vergegenwärtigen konnte. Die Begebenheiten
selbst gefielen mir unsäglich; nur hatte ich an dem Werke sehr
auszusetzen, daß es uns von der Eroberung Trojas keine Nachricht gebe,
und so stumpf mit dem Tode Hektors endige. Mein Oheim, gegen den ich
diesen Tadel äußerte, verwies mich auf den Virgil, welcher denn meiner
Forderung vollkommen Genüge tat. Es
versteht sich von selbst, daß wir Kinder, neben den übrigen
Lehrstunden, auch eines fortwährenden und fortschreitenden
Religionsunterrichts genossen. Doch war der kirchliche Protestantismus,
den man uns überlieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral:
an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte
weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar
mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die
Separatisten, Pietisten, Herrnhuter, die "Stillen im Lande",
und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle
bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum,
mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion
möglich zu sein schien. Der
Knabe hörte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhörlich
sprechen: denn die Geistlichkeit sowohl als die Laien teilten sich in
das Für und Wider. Die mehr oder weniger Abgesonderten waren immer die
Minderzahl; aber ihre Sinnesweise zog an durch Originalität,
Herzlichkeit, Beharren und Selbstständigkeit. Man erzählte von diesen
Tugenden und ihren Äußerungen allerlei Geschichten. Besonders ward die
Antwort eines frommen Klempnermeisters bekannt, den einer seiner
Zunftgenossen durch die Frage zu beschämen gedachte: wer denn
eigentlich sein Beichtvater sei? Mit Heiterkeit und Vertrauen auf seine
gute Sache erwiderte jener: "Ich habe einen sehr vornehmen, es ist
niemand Geringeres als der Beichtvater des Königs David." Dieses
und dergleichen mag wohl Eindruck auf den Knaben gemacht und ihn zu ähnlichen
Gesinnungen aufgefordert haben. Genug, er kam auf den Gedanken, sich dem
großen Gotte der Natur, dem Schöpfer und Erhalter Himmels und der
Erden, dessen frühere Zornäußerungen schon lange über die Schönheit
der Welt und das mannigfaltige Gute, das uns darin zuteil wird,
vergessen waren, unmittelbar zu nähern; der Weg dazu aber war sehr
sonderbar. Der
Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der
Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein
Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der
jawohl auch mit dem Menschen wie mit allem übrigen in ein genaueres
Verhältnis treten könne, und für denselben ebenso wie für die
Bewegung der Sterne, für Tages- und Jahrszeiten, für Pflanzen und
Tiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dieses
ausdrücklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht
verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf, und wollte ihm auf
gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturprodukte sollten
die Welt im Gleichnis vorstellen, über diesen sollte eine Flamme
brennen und das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen
bedeuten. Nun wurden aus der vorhandnen und zufällig vermehrten
Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein
wie solche zu schichten und aufzubauen sein möchten, das war nun die
Schwierigkeit. Der Vater hatte einen schönen, rotlackierten, goldgeblümten
Musikpult, in Gestalt einer vierseitigen Pyramide mit verschiedenen
Abstufungen, den man zu Quartetten sehr bequem fand, ob er gleich in der
letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Dessen bemächtigte sich der
Knabe, und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur übereinander,
so daß es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte
bei einem frühen Sonnenaufgang die erste Gottesverehrung angestellt
werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einig, auf welche
Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch auch zu gleicher
Zeit einen guten Geruch von sich geben müsse. Endlich gelang ihm ein
Einfall, beides zu verbinden, indem er Räucherkerzchen besaß, welche,
wo nicht flammend, doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten.
Ja dieses gelinde Verbrennen und Verdampfen schien noch mehr das, was im
Gemüt vorgeht, auszudrücken als eine offene Flamme. Die Sonne war
schon längst aufgegangen, aber Nachbarhäuser verdeckten den Osten.
Endlich erschien sie über den Dächern; sogleich ward ein Brennglas zur
Hand genommen, und die in einer schönen Porzellanschale auf dem Gipfel
stehenden Räucherkerzen angezündet. Alles gelang nach Wunsch, und die
Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine besondre Zierde des
Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingeräumt hatte, stehen. Jedermann
sah darin nur eine wohl aufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe
hingegen wußte besser, was er verschwieg. Er sehnte sich nach der
Wiederholung jener Feierlichkeit. Unglücklicherweise war eben, als die
gelegenste Sonne hervorstieg, die Porzellantasse nicht bei der Hand; er
stellte die Räucherkerzchen unmittelbar auf die obere Fläche des
Musikpultes; sie wurden angezündet, und die Andacht war so groß, daß
der Priester nicht merkte, welchen Schaden sein Opfer anrichtete, als
bis ihm nicht mehr abzuhelfen war. Die Kerzen hatten sich nämlich in
den roten Lack und in die schönen goldnen Blumen auf eine schmähliche
Weise eingebrannt und, gleich als wäre ein böser Geist verschwunden,
ihre schwarzen unauslöschlichen Fußtapfen zurückgelassen. Hierüber
kam der junge Priester in die äußerste Verlegenheit. Zwar wußte er
den Schaden durch die größesten Prachtstufen zu bedecken, allein der
Mut zu neuen Opfern war ihm vergangen, und fast möchte man diesen
Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefährlich es überhaupt
sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen. |
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