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Johann Wolfgang
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Zehntes BuchDie
deutschen Dichter, da sie nicht mehr als Gildeglieder für einen Mann
standen, genossen in der bürgerlichen Welt nicht der mindesten
Vorteile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Ansehn, als insofern sonst
ein Verhältnis ihnen günstig war, und es kam daher bloß auf den
Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren sein sollte. Ein
armer Erdensohn, im Gefühl von Geist und Fähigkeiten, mußte sich kümmerlich
ins Leben hineinschleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Musen
erhalten hatte, von dem augenblicklichen Bedürfnis gedrängt,
vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die erste und echteste aller
Dichtarten, ward verächtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt
nicht zu einem Begriff des hohen Wertes desselben gelangen kann, und ein
Poet, wenn er nicht gar den Weg Günthers einschlug, erschien in der
Welt auf die traurigste Weise subordiniert, als Spaßmacher und
Schmarutzer, so daß er sowohl auf dem Theater als auf der Lebensbühne
eine Figur vorstellte, der man nach Belieben mitspielen konnte. Gesellte
sich hingegen die Muse zu Männern von Ansehen, so erhielten diese
dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurückfiel. Lebensgewandte
Edelleute, wie Hagedorn, stattliche Bürger, wie Brockes, entschiedene
Gelehrte, wie Haller, erschienen unter den Ersten der Nation, den
Vornehmsten und Geschütztesten gleich. Besonders wurden auch solche
Personen verehrt, die, neben jenem angenehmen Talente, sich noch als
emsige, treue Geschäftsmänner auszeichneten. Deshalb erfreuten sich
Uz, Rabener, Weiße einer Achtung ganz eigner Art, weil man die
heterogensten, selten mit einander verbundenen Eigenschaften hier
vereint zu schätzen hatte. Nun
sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde,
sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer
unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock
zusammen, um eine solche Epoche zu begründen. Er war, von der
sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner Jüngling.
Ernst und gründlich erzogen, legt er, von Jugend an, einen großen Wert
auf sich selbst und auf alles, was er tut, und indem er die Schritte
seines Lebens bedächtig vorausmißt, wendet er sich, im Vorgefühl der
ganzen Kraft seines Innern, gegen den höchsten denkbaren Gegenstand. Der
Messias, ein Name, der unendliche Eigenschaften bezeichnet, sollte durch
ihn aufs neue verherrlicht werden. Der Erlöser sollte der Held sein,
den er, durch irdische Gemeinheit und Leiden, zu den höchsten
himmlischen Triumphen zu begleiten gedachte. Alles, was Göttliches,
Englisches, Menschliches in der jungen Seele lag, ward hier in Anspruch
genommen. Er, an der Bibel erzogen und durch ihre Kraft genährt, lebt
nun mit Erzvätern, Propheten und Vorläufern als Gegenwärtigen; doch
alle sind seit Jahrhunderten nur dazu berufen, einen lichten Kreis um
den einen zu ziehn, dessen Erniedrigung sie mit Staunen beschauen, und
an dessen Verherrlichung sie glorreich teilnehmen sollen. Denn endlich,
nach trüben und schrecklichen Stunden, wird der ewige Richter sein
Antlitz entwölken, seinen Sohn und Mitgott wieder anerkennen, und
dieser wird ihm dagegen die abgewendeten Menschen, ja sogar einen
abgefallenen Geist wieder zuführen. Die lebendigen Himmel jauchzen in
tausend Engelstimmen um den Thron, und ein Liebesglanz übergießt das
Weltall, das seinen Blick kurz vorher auf eine greuliche Opferstätte
gesammelt hielt. Der himmlische Friede, welchen Klopstock bei Konzeption
und Ausführung dieses Gedichtes empfunden, teilt sich noch jetzt einem
jeden mit, der die ersten zehn Gesänge liest, ohne die Forderungen bei
sich laut werden zu lassen, auf die eine fortrückende Bildung nicht
gerne Verzicht tut. Die
Würde des Gegenstands erhöhte dem Dichter das Gefühl eigner Persönlichkeit.
Daß er selbst dereinst zu diesen Chören eintreten, daß der Gottmensch
ihn auszeichnen, ihm von Angesicht zu Angesicht den Dank für seine Bemühungen
abtragen würde, den ihm schon hier jedes gefühlvolle, fromme Herz,
durch manche reine Zähre, lieblich genug entrichtet hatte: dies waren
so unschuldige kindliche Gesinnungen und Hoffnungen, als sie nur ein
wohlgeschaffenes Gemüt haben und hegen kann. So erwarb nun Klopstock
das völlige Recht, sich als eine geheiligte Person anzusehn, und so
befliß er sich auch in seinem Tun der aufmerksamsten Reinigkeit. Noch
in spätem Alter beunruhigte es ihn ungemein, daß er seine erste Liebe
einem Frauenzimmer zugewendet hatte, die ihn, da sie einen andern
heiratete, in Ungewißheit ließ, ob sie ihn wirklich geliebt habe, ob
sie seiner wert gewesen sei. Die Gesinnungen, die ihn mit Meta
verbanden, diese innige ruhige Neigung, der kurze heilige Ehestand, des
überbliebenen Gatten Abneigung vor einer zweiten Verbindung, alles ist
von der Art, um sich desselben einst im Kreise der Seligen wohl wieder
erinnern zu dürfen. Dieses
ehrenhafte Verfahren gegen sich selbst ward noch dadurch erhöht, daß
er in dem wohlgesinnten Dänemark in dem Hause eines großen und, auch
menschlich betrachtet, fürtrefflichen Staatsmanns eine Zeitlang wohl
aufgenommen war. Hier, in einem höheren Kreise, der zwar in sich
abgeschlossen, aber auch zugleich der äußeren Sitte, der
Aufmerksamkeit gegen die Welt gewidmet war, entschied sich seine
Richtung noch mehr. Ein gefaßtes Betragen, eine abgemessene Rede, ein
Lakonismus, selbst wenn er offen und entscheidend sprach, gaben ihm
durch sein ganzes Leben ein gewisses diplomatisches, ministerielles
Ansehn, das mit jenen zarten Naturgesinnungen im Widerstreit zu liegen
schien, obgleich beide aus einer Quelle entsprangen. Von allem diesen
geben seine ersten Werke ein reines Ab- und Vorbild, und sie mußten
daher einen unglaublichen Einfluß gewinnen. Daß er jedoch persönlich
andere Strebende im Leben und Dichten gefördert, ist kaum als eine
seiner entschiedenen Eigenschaften zur Sprache gekommen. Aber
eben ein solches Fördernis junger Leute im literarischen Tun und
Treiben, eine Lust, hoffnungsvolle, vom Glück nicht begünstigte
Menschen vorwärts zu bringen und ihnen den Weg zu erleichtern, hat
einen deutschen Mann verherrlicht, der, in Absicht auf Würde, die er
sich selbst gab, wohl als der Zweite, in Absicht aber auf lebendige
Wirkung als der Erste genannt werden darf. Niemanden wird entgehen, daß
hier Gleim gemeint sei. Im Besitz einer zwar dunkeln, aber einträglichen
Stelle, wohnhaft an einem wohlgelegenen, nicht allzu großen, durch
militärische, bürgerliche, literarische Betriebsamkeit belebten Orte,
von wo die Einkünfte einer großen und reichen Stiftung ausgingen,
nicht ohne daß ein Teil derselben zum Vorteil des Platzes zurückblieb,
fühlte er einen lebhaften produktiven Trieb in sich, der jedoch bei
aller Stärke ihm nicht ganz genügte, deswegen er sich einem andern,
vielleicht mächtigern Triebe hingab, dem nämlich, andere etwas
hervorbringen zu machen. Beide Tätigkeiten flochten sich während
seines ganzen langen Lebens unablässig durch einander. Er hätte
ebensowohl des Atemholens entbehrt als des Dichtens und Schenkens, und
indem er bedürftigen Talenten aller Art über frühere oder spätere
Verlegenheiten hinaus und dadurch wirklich der Literatur zu Ehren half,
gewann er sich so viele Freunde, Schuldner und Abhängige, daß man ihm
seine breite Poesie gerne gelten ließ, weil man ihm für die
reichlichen Wohltaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner
Gedichte. Jener
hohe Begriff nun, den sich beide Männer von ihrem Wert bilden durften,
und wodurch andere veranlaßt wurden, sich auch für etwas zu halten,
hat im öffentlichen und geheimen sehr große und schöne Wirkungen
hervorgebracht. Allein dieses Bewußtsein, so ehrwürdig es ist, führte
für sie selbst, für ihre Umgebungen, ihre Zeit ein eignes Übel
herbei. Darf man beide Männer, nach ihren geistigen Wirkungen,
unbedenklich groß nennen, so blieben sie gegen die Welt doch nur klein,
und gegen ein bewegteres Leben betrachtet, waren ihre äußeren Verhältnisse
nichtig. Der Tag ist lang und die Nacht dazu; man kann nicht immer
dichten, tun oder geben; ihre Zeit konnte nicht ausgefüllt werden, wie
die der Weltleute, Vornehmen und Reichen; sie legten daher auf ihre
besondern engen Zustände einen zu hohen Wert, in ihr tägliches Tun und
Treiben eine Wichtigkeit, die sie sich nur unter einander zugestehn
mochten; sie freuten sich mehr als billig ihrer Scherze, wenn sie den
Augenblick anmutig machten, doch in der Folge keineswegs für bedeutend
gelten konnten. Sie empfingen von andern Lob und Ehre, wie sie
verdienten, sie gaben solche zurück, wohl mit Maß, aber doch immer zu
reichlich, und eben weil sie fühlten, daß ihre Neigung viel wert sei,
so gefielen sie sich, dieselbe wiederholt auszudrücken, und schonten
hierbei weder Papier noch Tinte. So entstanden jene Briefwechsel, über
deren Gehaltsmangel die neuere Welt sich verwundert, der man nicht
verargen kann, wenn sie kaum die Möglichkeit einsieht, wie vorzügliche
Menschen sich an einer solchen Wechselnichtigkeit ergetzen konnten, wenn
sie den Wunsch laut werden läßt, dergleichen Blätter möchten
ungedruckt geblieben sein. Allein man lasse jene wenigen Bände doch
immer neben viel andern auf dem Bücherbrette stehen, wenn man sich
daran belehrt hat, daß der vorzüglichste Mensch auch nur vom Tage lebt
und nur kümmerlichen Unterhalt genießt, wenn er sich zu sehr auf sich
selbst zurückwirft und in die Fülle der äußeren Welt zu greifen versäumt,
wo er allein Nahrung für sein Wachstum und zugleich einen Maßstab
desselben finden kann. Die
Tätigkeit jener Männer stand in ihrer schönsten Blüte, als wir
jungen Leute uns auch in unserem Kreise zu regen anfingen, und ich war
so ziemlich auf dem Wege, mit jüngeren Freunden, wo nicht auch mit älteren
Personen, in so ein solches wechselseitiges Schönetun, Geltenlassen,
Heben und Tragen zu geraten. In meiner Sphäre konnte das, was ich
hervorbrachte, immer für gut gehalten werden. Frauenzimmer, Freunde, Gönner
werden nicht schlecht finden, was man ihnen zu Liebe unternimmt und
dichtet; aus solchen Verbindlichkeiten entspringt zuletzt der Ausdruck
eines leeren Behagens an einander, in dessen Phrasen sich ein Charakter
leicht verliert, wenn er nicht von Zeit zu Zeit zu höherer Tüchtigkeit
gestählt wird. Und
so hatte ich von Glück zu sagen, daß, durch eine unerwartete
Bekanntschaft, alles, was in mir von Selbstgefälligkeit,
Bespiegelungslust, Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen oder wirken
mochte, einer sehr harten Prüfung ausgesetzt ward, die in ihrer Art
einzig, der Zeit keineswegs gemäß, und nur desto eindringender und
empfindlicher war. Denn
das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben
sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende nähere
Verbindung mit Herder. Er hatte den Prinzen von Holstein-Eutin, der sich
in traurigen Gemütszuständen befand, auf Reisen begleitet und war mit
ihm bis Straßburg gekommen. Unsere Sozietät, sobald sie seine
Gegenwart vernahm, trug ein großes Verlangen sich ihm zu nähern, und
mir begegnete dies Glück zuerst ganz unvermutet und zufällig. Ich war
nämlich in den Gasthof "Zum Geist" gegangen, ich weiß nicht
welchen bedeutenden Fremden aufzusuchen. Gleich unten an der Treppe fand
ich einen Mann, der eben auch hinaufzusteigen im Begriff war, und den
ich für einen Geistlichen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in
eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn
gleichfalls, mehr noch aber ein langer, schwarzer, seidner Mantel,
dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses
einigermaßen auffallende, aber doch im ganzen galante und gefällige
Wesen, wovon ich schon hatte sprechen hören, ließ mich keineswegs
zweifeln, daß er der berühmte Ankömmling sei, und meine Anrede mußte
ihn sogleich überzeugen, daß ich ihn kenne. Er fragte nach meinem
Namen, der ihm von keiner Bedeutung sein konnte; allein meine Offenheit
schien ihm zu gefallen indem er sie mit großer Freundlichkeit
erwiderte, und, als wir die Treppe hinaufstiegen, sich sogleich zu einer
lebhaften Mitteilung bereit finden ließ. Es ist mir entfallen, wen wir
damals besuchten; genug, beim Scheiden bat ich mir die Erlaubnis aus,
ihn bei sich zu sehen, die er mir denn auch freundlich genug erteilte.
Ich versäumte nicht, mich dieser Vergünstigung wiederholt zu bedienen,
und ward immer mehr von ihm angezogen. Er hatte etwas Weiches in seinem
Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es
eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende
Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst
individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen
Augenbrauen ein Paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht
verfehlten, obgleich das eine rot und entzündet zu sein pflegte. Durch
mannigfaltige Fragen suchte er sich mit mir und meinem Zustande bekannt
zu machen, und seine Anziehungskraft wirkte immer stärker auf mich. Ich
war überhaupt sehr zutraulicher Natur, und vor ihm besonders hatte ich
gar kein Geheimnis. Es währte jedoch nicht lange, als der abstoßende
Puls seines Wesens eintrat und mich in nicht geringes Mißbehagen
versetzte. Ich erzählte ihm mancherlei von meinen Jugendbeschäftigungen
und Liebhabereien, unter andern von einer Siegelsammlung, die ich hauptsächlich
durch des korrespondenzreichen Hausfreundes Teilnahme zusammengebracht.
Ich hatte sie nach dem Staatskalender eingerichtet, und war bei dieser
Gelegenheit mit sämtlichen Potentaten, größern und geringern Mächten
und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl bekannt geworden, und
meinem Gedächtnis waren diese heraldischen Zeichen gar oft, und vorzüglich
bei der Krönungsfeierlichkeit, zustatten gekommen. Ich sprach von
diesen Dingen mit einiger Behaglichkeit; allein er war anderer Meinung,
verwarf nicht allein dieses ganze Interesse, sondern wußte es mir auch
lächerlich zu machen, ja beinahe zu verleiden. Von
diesem seinem Widersprechungsgeiste sollte ich noch gar manches
ausstehen: denn er entschloß sich, teils weil er sich vom Prinzen
abzusondern gedachte, teils eines Augenübels wegen, in Straßburg zu
verweilen. Dieses Übel ist so eins der beschwerlichsten und
unangenehmsten, und um desto lästiger, als es nur durch eine
schmerzliche, höchst verdrießliche und unsichere Operation geheilt
werden kann. Das Tränensäckchen nämlich ist nach unten zu
verschlossen, so daß die darin enthaltene Feuchtigkeit nicht nach der
Nase hin und um so weniger abfließen kann, als auch dem benachbarten
Knochen die Öffnung fehlt, wodurch diese Sekretion naturgemäß
erfolgen sollte. Der Boden des Säckchens muß daher aufgeschnitten und
der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den Tränenpunkt,
ferner durch das eröffnete Säckchen und durch den damit in Verbindung
gesetzten neuen Kanal gezogen und täglich hin und wider bewegt wird, um
die Kommunikation zwischen beiden Teilen herzustellen, welches alles
nicht getan noch erreicht werden kann, wenn nicht erst in jener Gegend
äußerlich ein Einschnitt gemacht worden. Herder
war nun, vom Prinzen getrennt, in ein eignes Quartier gezogen, der
Entschluß war gefaßt, sich durch Lobstein operieren zu lassen. Hier
kamen mir jene Übungen gut zustatten, durch die ich meine
Empfindlichkeit abzustumpfen versucht hatte; ich konnte der Operation
beiwohnen und einem so werten Manne auf mancherlei Weise dienstlich und
behülflich sein. Hier fand ich nun alle Ursache, seine große
Standhaftigkeit und Geduld zu bewundern: denn weder bei den vielfachen
chirurgischen Verwundungen, noch bei dem oftmals wiederholten
schmerzlichen Verbande bewies er sich im mindesten verdrießlich, und er
schien derjenige von uns zu sein, der am wenigsten litt; aber in der
Zwischenzeit hatten wir freilich den Wechsel seiner Laune vielfach zu
ertragen. Ich sage wir: denn es war außer mir ein behaglicher Russe,
namens Pegelow, meistens um ihn. Dieser war ein früherer Bekannter von
Herder in Riga gewesen, und suchte sich, obgleich kein Jüngling mehr,
noch in der Chirurgie unter Lobsteins Anleitung zu vervollkommnen.
Herder konnte allerliebst einnehmend und geistreich sein, aber ebenso
leicht eine verdrießliche Seite hervorkehren. Dieses Anziehen und Abstoßen
haben zwar alle Menschen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger,
einige in langsamern, andere in schnelleren Pulsen; wenige können ihre
Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern
betrifft, so schrieb sich das Übergewicht seines widersprechenden,
bittern, bissigen Humors gewiß von seinem Übel und den daraus
entspringenden Leiden her. Dieser
Fall kommt im Leben öfters vor, und man beachtet nicht genug die
moralische Wirkung krankhafter Zustände, und beurteilt daher manche
Charaktere sehr ungerecht, weil man alle Menschen für gesund nimmt und
von ihnen verlangt, daß sie sich auch in solcher Maße betragen sollen. Die
ganze Zeit dieser Kur besuchte ich Herdern morgens und abends; ich blieb
auch wohl ganze Tage bei ihm und gewöhnte mich in kurzem um so mehr an
sein Schelten und Tadeln, als ich seine schönen und großen
Eigenschaften, seine ausgebreiteten Kenntnisse, seine tiefen Einsichten
täglich mehr schätzen lernte. Die Einwirkung dieses gutmütigen
Polterers war groß und bedeutend. Er hatte fünf Jahre mehr als ich,
welches in jüngeren Tagen schon einen großen Unterschied macht; und da
ich ihn für das anerkannte, was er war, da ich dasjenige zu schätzen
suchte, was er schon geleistet hatte, so mußte er eine große
Superiorität über mich gewinnen. Aber behaglich war der Zustand nicht:
denn ältere Personen, mit denen ich bisher umgegangen, hatten mich mit
Schonung zu bilden gesucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit
verzogen; von Herdern aber konnte man niemals eine Billigung erwarten,
man mochte sich anstellen wie man wollte. Indem nun also auf der einen
Seite meine große Neigung und Verehrung für ihn, und auf der andern
das Mißbehagen, das er in mir erweckte, beständig mit einander im
Streit lagen; so entstand ein Zwiespalt in mir, der erste in seiner Art,
den ich in meinem Leben empfunden hatte. Da seine Gespräche jederzeit
bedeutend waren, er mochte fragen, antworten oder sich sonst auf eine
Weise mitteilen; so mußte er mich zu neuen Ansichten täglich, ja stündlich
befördern. In Leipzig hatte ich mir eher ein enges und abgezirkeltes
Wesen angewöhnt, und meine allgemeinen Kenntnisse der deutschen
Literatur konnten durch meinen Frankfurter Zustand nicht erweitert
werden; ja mich hatten jene mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen
in dunkle Regionen geführt, und was seit einigen Jahren in der weiten
literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun
wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen
den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. Er selbst
hatte sich schon genugsam berühmt gemacht, und durch seine
"Fragmente", die "Kritischen Wälder" und anderes
unmittelbar an die Seite der vorzüglichsten Männer gesetzt, welche
seit längerer Zeit die Augen des Vaterlands auf sich zogen. Was in
einem solchen Geiste für eine Bewegung, was in einer solchen Natur für
eine Gärung müsse gewesen sein, läßt sich weder fassen noch
darstellen. Groß aber war gewiß das eingehüllte Streben, wie man
leicht eingestehn wird, wenn man bedenkt, wie viele Jahre nachher, und
was er alles gewirkt und geleistet hat. Wir
hatten nicht lange auf diese Weise zusammengelebt, als er mir vertraute,
daß er sich um den Preis, welcher auf die beste Schrift über den
Ursprung der Sprachen von Berlin ausgesetzt war, mit zu bewerben
gedenke. Seine Arbeit war schon ihrer Vollendung nahe, und wie er eine
sehr reinliche Hand schrieb, so konnte er mir bald ein lesbares
Manuskript heftweise mitteilen. Ich hatte über solche Gegenstände
niemals nachgedacht, ich war noch zu sehr in der Mitte der Dinge
befangen, als daß ich hätte an Anfang und Ende denken sollen. Auch
schien mir die Frage einigermaßen müßig: denn wenn Gott den Menschen
als Menschen erschaffen hatte, so war ihm ja so gut die Sprache als der
aufrechte Gang anerschaffen; so gut er gleich merken mußte, daß er
gehen und greifen könne, so gut mußte er auch gewahr werden, daß er
mit der Kehle zu singen, und diese Töne durch Zunge, Gaumen und Lippen
noch auf verschiedene Weise zu modifizieren vermöge. War der Mensch göttlichen
Ursprungs, so war es ja auch die Sprache selbst, und war der Mensch, in
dem Umkreis der Natur betrachtet, ein natürliches Wesen, so war die
Sprache gleichfalls natürlich Diese beiden Dinge konnte ich wie Seel'
und Leib niemals auseinander bringen. Süßmilch, bei einem kruden
Realismus doch etwas phantastisch gesinnt, hatte sich für den göttlichen
Ursprung entschieden, das heißt, daß Gott den Schulmeister bei den
ersten Menschen gespielt habe. Herders Abhandlung ging darauf hinaus, zu
zeigen, wie der Mensch als Mensch wohl aus eignen Kräften zu einer
Sprache gelangen könne und müsse. Ich las die Abhandlung mit großem
Vergnügen und zu meiner besondern Kräftigung; allein ich stand nicht
hoch genug, weder im Wissen noch im Denken, um ein Urteil darüber zu
begründen. Ich bezeigte dem Verfasser daher meinen Beifall, indem ich
nur wenige Bemerkungen, die aus meiner Sinnesweise herflossen, hinzufügte.
Eins aber wurde wie das andre aufgenommen; man wurde gescholten und
getadelt, man mochte nun bedingt oder unbedingt zustimmen. Der dicke
Chirurgus hatte weniger Geduld als ich; er lehnte die Mitteilung dieser
Preisschrift humoristisch ab, und versicherte, daß er gar nicht
eingerichtet sei, über so abstrakte Materien zu denken. Er drang
vielmehr aufs L'hombre, welches wir gewöhnlich abends zusammen
spielten. Bei einer so verdrießlichen und schmerzhaften Kur verlor
unser Herder nicht an seiner Lebhaftigkeit; sie ward aber immer weniger
wohltätig. Er konnte nicht ein Billett schreiben, um etwas zu
verlangen, das nicht mit irgend einer Verhöhnung gewürzt gewesen wäre.
So schrieb er mir zum Beispiel einmal: Wenn
des Brutus Briefe dir sind in Ciceros Briefen, Es
war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß
erlaubte: denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein
Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch
zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie
die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht
schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen. Der
erste Vorwurf hingegen war gegründeter. Ich hatte nämlich die von
Langern eingetauschten Autoren, und dazu noch verschiedene schöne
Ausgaben aus meines Vaters Sammlung, mit nach Straßburg genommen und
sie auf einem reinlichen Bücherbrett aufgestellt, mit dem besten
Willen, sie zu benutzen. Wie sollte aber die Zeit zureichen, die ich in
hunderterlei Tätigkeiten zersplitterte. Herder, der auf Bücher höchst
aufmerksam war, weil er deren jeden Augenblick bedurfte, gewahrte beim
ersten Besuch meine schöne Sammlung, aber auch bald, daß ich mich
derselben gar nicht bediente; deswegen er, als der größte Feind alles
Scheins und aller Ostentation, bei Gelegenheit mich damit aufzuziehen
pflegte. Noch
ein anderes Spottgedicht fällt mir ein, das er mir abends nachsendete,
als ich ihm von der Dresdner Galerie viel erzählt hatte. Freilich war
ich in den höhern Sinn der italienischen Schule nicht eingedrungen,
aber Dominico Feti, ein trefflicher Künstler, wiewohl Humorist und also
nicht vom ersten Range, hatte mich sehr angesprochen. Geistliche Gegenstände
mußten gemalt werden. Er hielt sich an die neutestamentlichen Parabeln
und stellte sie gern dar, mit viel Eigenheit, Geschmack und guter Laune.
Er führte sie dadurch ganz ans gemeine Leben heran, und die so
geistreichen als naiven Einzelheiten seiner Kompositionen, durch einen
freien Pinsel empfohlen, hatten sich mir lebendig eingedrückt. Über
diesen meinen kindlichen Kunstenthusiasmus spottete Herder
folgendergestalt: Aus
Sympathie Behagt mir besonders ein Meister, Dergleichen
mehr oder weniger heitre oder abstruse, muntre oder bittre Späße könnte
ich noch manche anführen. Sie verdrossen mich nicht, waren mir aber
unbequem. Da ich jedoch alles, was zu meiner Bildung beitrug, höchlich
zu schätzen wußte, und ich ja mehrmals frühere Meinungen und
Neigungen aufgegeben hatte; so fand ich mich gar bald darein und suchte
nur, so viel mir auf meinem damaligen Standpunkt möglich war, gerechten
Tadel von ungerechten Invektiven zu unterscheiden. Und so war denn auch
kein Tag, der nicht auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre. Ich
ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne
bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die
hebräische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth
geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß
aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie gaben das
Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei,
nicht ein Privaterbteil einiger feinen gebildeten Männer. Ich
verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto
freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten
Stunden zusammen zu. Meine übrigen angefangenen Naturstudien suchte ich
fortzusetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden
will; so gelang mir mitunter das Doppelte und Dreifache. Was die Fülle
dieser wenigen Wochen betrifft, welche wir zusammen lebten, kann ich
wohl sagen, daß alles, was Herder nachher allmählich ausgeführt hat,
im Keim angedeutet ward, und daß ich dadurch in die glückliche Lage
geriet, alles, was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu
komplettieren, an ein Höheres anzuknüpfen, zu erweitern. Wäre Herder
methodischer gewesen, so hätte ich auch für eine dauerhafte Richtung
meiner Bildung die köstlichste Anleitung gefunden; aber er war mehr
geneigt zu prüfen und anzuregen, als zu führen und zu leiten. So
machte er mich zuerst mit Hamanns Schriften bekannt, auf die er einen
sehr großen Wert setzte. Anstatt mich aber über dieselben zu belehren
und mir den Hang und Gang dieses außerordentlichen Geistes begreiflich
zu machen; so diente es ihm gewöhnlich nur zur Belustigung, wenn ich
mich, um zu dem Verständnis solcher sibyllischen Blätter zu gelangen,
freilich wunderlich genug gebärdete. Indessen fühlte ich wohl, daß
mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich überließ, ohne zu
wissen, woher es komme und wohin es führe. Nachdem
die Kur länger als billig gedauert, Lobstein in seiner Behandlung zu
schwanken und sich zu wiederholen anfing, so daß die Sache kein Ende
nehmen wollte auch Pegelow mir schon heimlich anvertraut hatte, daß
wohl schwerlich ein guter Ausgang zu hoffen sei; so trübte sich das
ganze Verhältnis: Herder ward ungeduldig und mißmutig, es wollte ihm
nicht gelingen, seine Tätigkeit wie bisher fortzusetzen, und er mußte
sich um so mehr einschränken, als man die Schuld des mißratenen
chirurgischen Unternehmens auf Herders allzu große geistige Anstrengung
und seinen ununterbrochenen lebhaften, ja lustigen Umgang mit uns zu
schieben anfing. Genug, nach so viel Qual und Leiden wollte die künstliche
Tränenrinne sich nicht bilden und die beabsichtigte Kommunikation nicht
zustande kommen. Man sah sich genötigt, damit das Übel nicht arger würde,
die Wunde zugehn zu lassen. Wenn man nun bei der Operation Herders
Standhaftigkeit unter solchen Schmerzen bewundern mußte, so hatte seine
melancholische, ja grimmige Resignation in den Gedanken, zeitlebens
einen solchen Makel tragen zu müssen, etwas wahrhaft Erhabenes, wodurch
er sich die Verehrung derer, die ihn schauten und liebten, für immer zu
eigen machte. Dieses Übel, das ein so bedeutendes Angesicht entstellte,
mußte ihm um so ärgerlicher sein, als er ein vorzügliches
Frauenzimmer in Darmstadt kennen gelernt und sich ihre Neigung erworben
hatte. Hauptsächlich in diesem Sinne mochte er sich jener Kur
unterwerfen, um bei der Rückreise freier, fröhlicher, wohlgebildeter
vor seine Halbverlobte zu treten, und sich gewisser und unverbrüchlicher
mit ihr zu verbinden. Er eilte jedoch, sobald als möglich von Straßburg
wegzukommen, und weil sein bisheriger Aufenthalt so kostbar als
unangenehm gewesen, erborgte ich eine Summe Geldes für ihn, die er auf
einen bestimmten Termin zu erstatten versprach. Die Zeit verstrich, ohne
daß das Geld ankam. Mein Gläubiger mahnte mich zwar nicht, aber ich
war doch mehrere Wochen in Verlegenheit. Endlich kam Brief und Geld, und
auch hier verleugnete er sich nicht: denn anstatt eines Dankes, einer
Entschuldigung enthielt sein Schreiben lauter spöttliche Dinge in
Knittelversen, die einen andern irre, oder gar abwendig gemacht hätten;
mich aber rührte das nicht weiter, da ich von seinem Wert einen so großen
und mächtigen Begriff gefaßt hatte, der alles Widerwärtige
verschlang, was ihm hätte schaden können. Man
soll jedoch von eignen und fremden Fehlern niemals, am wenigsten öffentlich
reden, wenn man nicht dadurch etwas Nützliches zu bewirken denkt;
deshalb will ich hier gewisse zudringende Bemerkungen einschalten. Dank
und Undank gehören zu denen in der moralischen Welt jeden Augenblick
hervortretenden Ereignissen, worüber die Menschen sich unter einander
niemals beruhigen können. Ich pflege einen Unterschied zu machen
zwischen Nichtdankbarkeit, Undank und Widerwillen gegen den Dank. Jene
erste ist dem Menschen angeboren, ja anerschaffen: denn sie entspringt
aus einer glücklichen, leichtsinnigen Vergessenheit des Widerwärtigen
wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fortsetzung des Lebens möglich
wird. Der Mensch bedarf so unendlich vieler äußeren Vor- und
Mitwirkungen zu einem leidlichen Dasein, daß, wenn er der Sonne und der
Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und Eltern, Freunden und Gesellen
immer den gebührenden Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch Gefühl
übrig bliebe, um neue Wohltaten zu empfangen und zu genießen. Läßt
nun freilich der natürliche Mensch jenen Leichtsinn in und über sich
walten, so nimmt eine kalte Gleichgültigkeit immer mehr überhand, und
man sieht den Wohltäter zuletzt als einen Fremden an, zu dessen Schaden
man allenfalls, wenn es uns nützlich wäre, auch etwas unternehmen dürfte.
Dies allein kann eigentlich Undank genannt werden, der aus der Roheit
entspringt, worin die ungebildete Natur sich am Ende notwendig verlieren
muß. Widerwille gegen das Danken jedoch, Erwiderung einer Wohltat durch
unmutiges und verdrießliches Wesen ist sehr selten und kommt nur bei
vorzüglichen Menschen vor: solchen, die mit großen Anlagen und dem
Vorgefühl derselben, in einem niederen Stande oder in einer hülflosen
Lage geboren, sich von Jugend auf Schritt vor Schritt durchdrängen und
von allen Orten her Hülfe und Beistand annehmen müssen, die ihnen denn
manchmal durch Plumpheit der Wohltäter vergellt und widerwärtig
werden, indem das, was sie empfangen, irdisch und das, was sie dagegen
leisten, höherer Art ist, so daß eine eigentliche Kompensation nicht
gedacht werden kann. Lessing hat bei dem schönen Bewußtsein, das ihm,
in seiner besten Lebenszeit, über irdische Dinge zuteil ward, sich hierüber
einmal derb aber heiter ausgesprochen. Herder hingegen vergällte sich
und andern immerfort die schönsten Tage, da er jenen Unmut, der ihn in
der Jugend notwendig ergriffen hatte, in der Folgezeit durch
Geisteskraft nicht zu mäßigen wußte. Diese
Forderung kann man gar wohl an sich machen: denn der Bildungsfähigkeit
eines Menschen kommt das Licht der Natur, welches immer tätig ist, ihn
über seine Zustände aufzuklären, auch hier gar freundlich zustatten;
und überhaupt sollte man in manchen sittlichen Bildungsfällen die Mängel
nicht zu schwer nehmen, und sich nicht nach allzu ernsten weitliegenden
Mitteln umsehen, da sich gewisse Fehler sehr leicht, ja spielend abtun
lassen. So können wir zum Beispiel die Dankbarkeit in uns durch bloße
Gewohnheit erregen, lebendig erhalten, ja zum Bedürfnis machen. In
einem biographischen Versuch ziemt es wohl, von sich selbst zu reden.
Ich bin von Natur so wenig dankbar als irgend ein Mensch, und beim
Vergessen empfangenes Guten konnte das heftige Gefühl eines
augenblicklichen Mißverhältnisses mich sehr leicht zum Undank
verleiten. Diesem
zu begegnen, gewöhnte ich mich zuvörderst, bei allem, was ich besitze,
mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es
sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art.
Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu
gedenken, durch deren Vermittelung ich das einzelne erhielt, ja der
Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung,
wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Das, was uns umgibt, erhält dadurch ein Leben,
wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und
durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das
augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben
steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit
ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmöglich
und ein gelegentliches Erwidern leicht und wünschenswert. Zugleich wird
man auf die Betrachtung desjenigen geführt, was nicht sinnlicher Besitz
ist, und man rekapituliert gar gern, woher sich unsere höheren Güter
schreiben und datieren. Ehe
ich nun von jenem für mich so bedeutenden und folgereichen Verhältnisse
zu Herdern den Blick hinwegwende, finde ich noch einiges nachzubringen.
Es war nichts natürlicher, als daß ich nach und nach in Mitteilung
dessen, was bisher zu meiner Bildung beigetragen, besonders aber solcher
Dinge, die mich noch in dem Augenblicke ernstlich beschäftigten, gegen
Herdern immer karger und karger ward. Er hatte mir den Spaß an so
manchem, was ich früher geliebt, verdorben und mich besonders wegen der
Freude, die ich an Ovids "Metamorphosen" gehabt, aufs
Strengste getadelt. Ich mochte meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich
wollte, ich mochte sagen, daß für eine jugendliche Phantasie nichts
erfreulicher sein könne, als in jenen heitern und herrlichen Gegenden
mit Göttern und Halbgöttern zu verweilen und ein Zeuge ihres Tuns und
ihrer Leidenschaften zu sein; ich mochte jenes oben erwähnte Gutachten
eines ernsthaften Mannes umständlich beibringen und solches durch meine
eigne Erfahrung bekräftigen: das alles sollte nicht gelten, es sollte
sich keine eigentliche unmittelbare Wahrheit in diesen Gedichten finden;
hier sei weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine
gebildete, alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine
manierierte Darstellung, wie sie sich nur von einem Überkultivierten
erwarten lasse. Und wenn ich denn zuletzt behaupten wollte: was ein vorzügliches
Individuum hervorbringe, sei doch auch Natur, und unter allen Völkern,
frühern und spätern, sei doch immer nur der Dichter Dichter gewesen;
so wurde mir dies nun gar nicht gut gehalten, und ich mußte manches
deswegen ausstehen, ja mein Ovid war mir beinah dadurch verleidet: denn
es ist keine Neigung, keine Gewohnheit so stark, daß sie gegen die Mißreden
vorzüglicher Menschen, in die man Vertrauen setzt, auf die Länge sich
erhalten könnte. Immer bleibt etwas hängen, und wenn man nicht
unbedingt lieben darf, sieht es mit der Liebe schon mißlich aus. Am
sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen,
die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu
poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen
und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstem hatte mich im Innersten
ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in
wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil. Die bedeutende
Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir
wider. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh
genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch
im Leben auf allerlei Weise versucht, und war immer unbefriedigter und
gequälter zurückgekommen. Nun trug ich diese Dinge, sowie manche
andre, mit mir herum und ergetzte mich daran in einsamen Stunden, ohne
jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor
Herdern meine mystischkabbalistische Chemie und was sich darauf bezog,
ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschäftigte, sie
konsequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte. Von
poetischen Arbeiten glaube ich ihm "Die Mitschuldigen"
vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, daß mir irgend eine
Zurechtweisung oder Aufmunterung von seiner Seite hierüber zuteil
geworden wäre. Aber bei diesem allen blieb er, der er war; was von ihm
ausging, wirkte, wenn auch nicht erfreulich, doch bedeutend; ja seine
Handschrift sogar übte auf mich eine magische Gewalt aus. Ich erinnere
mich nicht, daß ich eins seiner Blätter, ja nur ein Couvert von seiner
Hand, zerrissen oder verschleudert hätte; dennoch ist mir, bei den so
mannigfaltigen Ort- und Zeitwechseln, kein Dokument jener wunderbaren,
ahndungsvollen und glücklichen Tage übrig geblieben. Daß
übrigens Herders Anziehungskraft sich so gut auf andre als auf mich
wirksam erwies, würde ich kaum erwähnen, hätte ich nicht zu bemerken,
daß sie sich besonders auf Jung, genannt Stilling, erstreckt habe. Das
treue redliche Streben dieses Mannes mußte jeden, der nur irgend Gemüt
hatte, höchlich interessieren, und seine Empfänglichkeit jeden, der
etwas mitzuteilen imstande war, zur Offenheit reizen. Auch betrug sich
Herder gegen ihn nachsichtiger als gegen uns andre: denn seine
Gegenwirkung schien jederzeit mit der Wirkung, die auf ihn geschah, im
Verhältnis zu stehn. Jungs Umschränktheit war von so viel gutem
Willen, sein Vordringen von so viel Sanftheit und Ernst begleitet, daß
ein Verständiger gewiß nicht hart gegen ihn sein, und ein
Wohlwollender ihn nicht verhöhnen noch zum besten haben konnte. Auch
war Jung durch Herdern dergestalt exaltiert, daß er sich in allem
seinen Tun gestärkt und gefördert fühlte, ja seine Neigung gegen mich
schien in eben diesem Maße abzunehmen; doch blieben wir immer gute
Gesellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeigten uns
wechselseitig die freundlichsten Dienste. Entfernen
wir uns jedoch nunmehr von der freundschaftlichen Krankenstube und von
den allgemeinen Betrachtungen, welche eher auf Krankheit als auf
Gesundheit des Geistes deuten; begeben wir uns in die freie Luft, auf
den hohen und breiten Altan des Münsters, als wäre die Zeit noch da,
wo wir junge Gesellen uns öfters dorthin auf den Abend beschieden, um
mit gefüllten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen. Hier verlor
sich alles Gespräch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die
Schärfe der Augen geprüft, und jeder bestrebte sich, die entferntesten
Gegenstände gewahr zu werden, ja deutlich zu unterscheiden. Gute Fernröhre
wurden zu Hülfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete
genau die Stelle, die ihm die liebste und werteste geworden; und schon
fehlte es auch mir nicht an einem solchen Plätzchen, das, ob es gleich
nicht bedeutend in der Landschaft hervortrat, mich doch mehr als alles
andere mit einem lieblichen Zauber an sich zog. Bei solchen
Gelegenheiten ward nun durch Erzählung die Einbildungskraft angeregt
und manche kleine Reise verabredet, ja oft aus dem Stegreife
unternommen, von denen ich nur eine statt vieler umständlich erzählen
will, da sie in manchem Sinne für mich folgereich gewesen. Mit
zwei werten Freunden und Tischgenossen, Engelbach und Weyland, beide aus
dem untern Elsaß gebürtig, begab ich mich zu Pferde nach Zabern, wo
uns, bei schönem Wetter, der kleine freundliche Ort gar anmutig
anlachte. Der Anblick des bischöflichen Schlosses erregte unsere
Bewunderung; eines neuen Stalles Weitläuftigkeit, Größe und Pracht
zeugten von dem übrigen Wohlbehagen des Besitzers. Die Herrlichkeit der
Treppe überraschte uns, die Zimmer und Säle betraten wir mit
Ehrfurcht, nur kontrastierte die Person des Kardinals, ein kleiner
zusammengefallener Mann, den wir speisen sahen. Der Blick in den Garten
ist herrlich, und ein Kanal, drei Viertelstunden lang, schnurgerade auf
die Mitte des Schlosses gerichtet, gibt einen hohen Begriff von dem Sinn
und den Kräften der vorigen Besitzer. Wir spazierten daran hin und
wider und genossen mancher Partien dieses schön gelegenen Ganzen, zu
Ende der herrlichen Elsasser Ebene, am Fuße der Vogesen. Nachdem
wir uns nun an diesem geistlichen Vorposten einer königlichen Macht
erfreut, und es uns in seiner Region wohl sein lassen, gelangten wir früh
den andern Morgen zu einem öffentlichen Werk, das höchst würdig den
Eingang in ein mächtiges Königreich eröffnet. Von der aufgehenden
Sonne beschienen, erhob sich vor uns die berühmte Zaberner Steige, ein
Werk von unüberdenklicher Arbeit. Schlangenweis, über die fürchterlichsten
Felsen aufgemauert, führt eine Chaussee, für drei Wagen neben einander
breit genug, so leise bergauf, daß man es kaum empfindet. Die Härte
und Glätte des Wegs, die geplatteten Erhöhungen an beiden Seiten für
die Fußgänger, die steinernen Rinnen zum Ableiten der Bergwasser,
alles ist so reinlich als künstlich und dauerhaft hergerichtet, daß es
einen genügenden Anblick gewährt. So gelangt man allmählich nach
Pfalzburg, einer neueren Festung. Sie liegt auf einem mäßigen Hügel;
die Werke sind elegant auf schwärzlichen Felsen von gleichem Gestein
erbaut, die mit Kalk weiß ausgestrichenen Fugen bezeichnen genau die Größe
der Quadern und geben von der reinlichen Arbeit ein auffallendes
Zeugnis. Den Ort selbst fanden wir, wie sich's für eine Festung
geziemt, regelmäßig, von Steinen gebaut, die Kirche geschmackvoll. Als
wir durch die Straßen wandelten - es war Sonntags früh um neun -, hörten
wir Musik; man walzte schon im Wirtshause nach Herzenslust, und da sich
die Einwohner durch die große Teurung, ja durch die drohende Hungersnot
in ihrem Vergnügen nicht irre machen ließen, so ward auch unser
jugendlicher Frohsinn keineswegs getrübt, als uns der Bäcker einiges
Brot auf die Reise versagte und uns in den Gasthof verwies, wo wir es
allenfalls an Ort und Stelle verzehren dürften. Sehr
gern ritten wir nun wieder die Steige hinab, um dieses architektonische
Wunder zum zweiten Male anzustaunen, und uns der erquickenden Aussicht
über das Elsaß nochmals zu erfreuen. Wir gelangten bald nach
Buchsweiler, wo uns Freund Weyland eine gute Aufnahme vorbereitet hatte.
Dem frischen jugendlichen Sinne ist der Zustand einer kleinen Stadt sehr
gemäß; die Familienverhältnisse sind näher und fühlbarer, das
Hauswesen, das zwischen läßlicher Amtsbeschäftigung, städtischem
Gewerb, Feld- und Gartenbau mit mäßiger Tätigkeit sich hin und wider
bewegt, lädt uns ein zu freundlicher Teilnahme, die Geselligkeit ist
notwendig, und der Fremde befindet sich in den beschränkten Kreisen
sehr angenehm, wenn ihn nicht etwa die Mißhelligkeiten der Einwohner,
die an solchen Orten fühlbarer sind, irgendwo berühren. Dieses Städtchen
war der Hauptplatz der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, dem Landgrafen von
Darmstadt unter französischer Hoheit gehörig. Eine daselbst
angestellte Regierung und Kammer machten den Ort zum bedeutenden
Mittelpunkt eines sehr schönen und wünschenswerten fürstlichen
Besitzes. Wir vergaßen leicht die ungleichen Straßen, die unregelmäßige
Bauart des Orts, wenn wir heraustraten, um das alte Schloß und die an
einem Hügel vortrefflich angelegten Gärten zu beschauen. Mancherlei
Lustwäldchen, eine zahme und wilde Fasanerie und die Reste mancher ähnlichen
Anstalten zeigten, wie angenehm diese kleine Residenz ehemals müsse
gewesen sein. Doch
alle diese Betrachtungen übertraf der Anblick, wenn man von dem
nahgelegenen Bastberg die völlig paradiesische Gegend überschaute.
Diese Höhe, ganz aus verschiedenen Muscheln zusammengehäuft, machte
mich zum ersten Male auf solche Dokumente der Vorwelt aufmerksam; ich
hatte sie noch niemals in so großer Masse beisammen gesehn. Doch
wendete sich der schaulustige Blick bald ausschließlich in die Gegend.
Man steht auf dem letzten Vorgebirge nach dem Lande zu; gegen Norden
liegt eine fruchtbare, mit kleinen Wäldchen durchzogene Fläche, von
einem ernsten Gebirge begrenzt, das sich gegen Abend nach Zabern hin
erstreckt, wo man den bischöflichen Palast und die eine Stunde davon
liegende Abtei St. Johann deutlich erkennen mag. Von da verfolgt das
Auge die immer mehr schwindende Bergkette der Vogesen bis nach Süden
hin. Wendet man sich gegen Nordost, so sieht man das Schloß Lichtenberg
auf einem Felsen, und gegen Südost hat das Auge die unendliche Fläche
des Elsasses zu durchforschen, die sich in immer mehr abduftenden
Landschaftsgründen dem Gesicht entzieht, bis zuletzt die schwäbischen
Gebirge schattenweis in den Horizont verfließen. Schon
bei meinen wenigen Wanderungen durch die Welt hatte ich bemerkt, wie
bedeutend es sei, sich auf Reisen nach dem Laufe der Wasser zu
erkundigen, ja bei dem kleinsten Bache zu fragen, wohin er denn
eigentlich laufe. Man erlangt dadurch eine Übersicht von jeder Flußregion,
in der man eben befangen ist, einen Begriff von den Höhen und Tiefen,
die auf einander Bezug haben, und windet sich am sichersten an diesen
Leitfäden, welche sowohl dem Anschauen als dem Gedächtnis zu Hülfe
kommen, aus geologischem und politischem Ländergewirre. In dieser
Betrachtung nahm ich feierlichen Abschied von dem teuren Elsaß, da wir
uns den andern Morgen nach Lothringen zu wenden gedachten. Der Abend
ging hin in vertraulichen Gesprächen, wo man sich über eine
unerfreuliche Gegenwart durch Erinnerung an eine bessere Vergangenheit
zu erheitern suchte. Vor allem andern war hier, wie im ganzen Ländchen,
der Name des letzten Grafen Reinhard von Hanau in Segen, dessen großer
Verstand und Tüchtigkeit in allem seinen Tun und Lassen hervortrat, und
von dessen Dasein noch manches schöne Denkmal übrig geblieben war.
Solche Männer haben den Vorzug, doppelte Wohltäter zu sein, einmal für
die Gegenwart, die sie beglücken, und sodann für die Zukunft, deren
Gefühl und Mut sie nähren und aufrecht erhalten. Als
wir nun uns nordwestwärts in das Gebirg wendeten und bei Lützelstein,
einem alten Bergschloß in einer sehr hügelvollen Gegend, vorbeizogen,
und in die Region der Saar und Mosel hinabstiegen, fing der Himmel an
sich zu trüben, als wollte er uns den Zustand des rauheren Westreiches
noch fühlbarer machen. Das Tal der Saar, wo wir zuerst Bockenheim,
einen kleinen Ort, antrafen, und gegenüber Neusaarwerden, gut gebaut,
mit einem Lustschloß, erblickten, ist zu beiden Seiten von Bergen
begleitet, die traurig heißen könnten, wenn nicht an ihrem Fuß eine
unendliche Folge von Wiesen und Matten, die Hohnau genannt, sich bis
Saaralben und weiter hin unübersehlich erstreckte. Große Gebäude
eines ehmaligen Gestütes der Herzoge von Lothringen ziehen hier den
Blick an; sie dienen gegenwärtig, zu solchen Zwecken freilich sehr wohl
gelegen, als Meierei. Wir gelangten über Saargemünd nach Saarbrück,
und diese kleine Residenz war ein lichter Punkt im einem so felsig
waldigen Lande. Die Stadt, klein und hüglig, aber durch den letzten Fürsten
wohl ausgeziert, macht sogleich einen angenehmen Eindruck, weil die Häuser
alle grauweiß angestrichen sind und die verschiedene Höhe derselben
einen mannigfaltigen Anblick gewährt. Mitten auf einem schönen mit
ansehnlichen Gebäuden umgebenen Platze steht die lutherische Kirche, in
einem kleinen, aber dem Ganzen entsprechenden Maßstabe. Die Vorderseite
des Schlosses liegt mit der Stadt auf ebenem Boden, die Hinterseite
dagegen am Abhange eines steilen Felsens. Diesen hat man nicht allein
terrassenweis abgearbeitet, um bequem in das Tal zu gelangen, sondern
man hat sich auch unten einen länglich-viereckten Gartenplatz, durch
Verdrängung des Flusses an der einen und durch Abschroten des Felsens
an der andern Seite, verschafft, worauf denn dieser ganze Raum erst mit
Erde ausgefüllt und bepflanzt worden. Die Zeit dieser Unternehmung fiel
in die Epoche, da man bei Gartenanlagen den Architekten zu Rate zog, wie
man gegenwärtig das Auge des Landschaftsmalers zu Hülfe nimmt. Die
ganze Einrichtung des Schlosses, das Kostbare und Angenehme, das Reiche
und Zierliche deuteten auf einen lebenslustigen Besitzer, wie der
verstorbene Fürst gewesen war; der gegenwärtige befand sich nicht am
Orte. Präsident von Günderode empfing uns aufs verbindlichste und
bewirtete uns drei Tage besser, als wir es erwarten durften. Ich
benutzte die mancherlei Bekanntschaften, zu denen wir gelangten, um mich
vielseitig zu unterrichten. Das genußreiche Leben des vorigen Fürsten
gab Stoff genug zur Unterhaltung, nicht weniger die mannigfaltigen
Anstalten, die er getroffen, um Vorteile, die ihm die Natur seines
Landes darbot, zu benutzen. Hier wurde ich nun eigentlich in das
Interesse der Berggegenden eingeweiht, und die Lust zu ökonomischen und
technischen Betrachtungen, welche mich einen großen Teil meines Lebens
beschäftigt haben, zuerst erregt. Wir hörten von den reichen Dudweiler
Steinkohlengruben, von Eisen- und Alaunwerken, ja sogar von einem
brennenden Berge, und rüsteten uns, diese Wunder in der Nähe zu
beschauen. Nun
zogen wir durch waldige Gebirge, die demjenigen, der aus einem
herrlichen fruchtbaren Lande kommt, wüst und traurig erscheinen müssen,
und die nur durch den innern Gehalt ihres Schoßes uns anziehen können.
Kurz hinter einander wurden wir mit einem einfachen und einem
komplizierten Maschinenwerke bekannt, mit einer Sensenschmiede und einem
Drahtzug. Wenn man sich an jener schon erfreut, daß sie sich an die
Stelle gemeiner Hände setzt, so kann man diesen nicht genug bewundern,
indem er in einem höheren organischen Sinne wirkt, von dem Verstand und
Bewußtsein kaum zu trennen sind. In der Alaunhütte erkundigten wir uns
genau nach der Gewinnung und Reinigung dieses so nötigen Materials, und
als wir große Haufen eines weißen, fetten, lockeren, erdigen Wesens
bemerkten und dessen Nutzen erforschten, antworteten die Arbeiter lächelnd,
es sei der Schaum, der sich beim Alaunsieden obenauf werfe, und den Herr
Stauf sammeln lasse, weil er denselben gleichfalls hoffe zu Gute zu
machen. - "Lebt Herr Stauf noch?" rief mein Begleiter
verwundert aus. Man bejahte es und versicherte, daß wir, nach unserm
Reiseplan, nicht weit von seiner einsamen Wohnung vorbeikommen würden. Unser
Weg ging nunmehr an den Rinnen hinauf, in welchen das Alaunwasser
heruntergeleitet wird, und an dem vornehmsten Stollen vorbei, den sie
die Landgrube nennen, woraus die berühmten Dudweiler Steinkohlen
gezogen werden. Sie haben, wenn sie trocken sind, die blaue Farbe eines
dunkel angelaufenen Stahls, und die schönste Irisfolge spielt bei jeder
Bewegung über die Oberfläche hin. Die finsteren Stollenschlünde zogen
uns jedoch um so weniger an, als der Gehalt derselben reichlich um uns
her ausgeschüttet lag. Nun gelangten wir zu offnen Gruben, in welchen
die gerösteten Alaunschiefer ausgelaugt werden, und bald darauf überraschte
uns, obgleich vorbereitet, ein seltsames Begegnis. Wir traten in eine
Klamme und fanden uns in der Region des brennenden Berges. Ein starker
Schwefelgeruch umzog uns; die eine Seite der Hohle war nahezu glühend,
mit rötlichem, weißgebrannten Stein bedeckt; ein dicker Dampf stieg
aus den Klunsen hervor, und man fühlte die Hitze des Bodens auch durch
die starken Sohlen. Ein so zufälliges Ereignis, denn man weiß nicht,
wie diese Strecke sich entzündete, gewährt der Alaunfabrikation den
großen Vorteil, daß die Schiefer, woraus die Oberfläche des Berges
besteht, vollkommen geröstet daliegen und nur kurz und gut ausgelaugt
werden dürfen. Die ganze Klamme war entstanden, daß man nach und nach
die kalzinierten Schiefer abgeräumt und verbraucht hatte. Wir
kletterten aus dieser Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel des Berges.
Ein anmutiger Buchenwald umgab den Platz, der auf die Hohle folgte und
sich ihr zu beiden Seiten verbreitete. Mehrere Bäume standen schon
verdorrt, andere welkten in der Nähe von andern, die, noch ganz frisch,
jene Glut nicht ahndeten, welche sich auch ihren Wurzeln bedrohend näherte. Auf
dem Platze dampften verschiedene Öffnungen, andere hatten schon
ausgeraucht, und so glomm dieses Feuer bereits zehen Jahre durch alte
verbrochene Stollen und Schächte, mit welchen der Berg unterminiert
ist. Es mag sich auch auf Klüften durch frische Kohlenlager durchziehn:
denn einige hundert Schritte weiter in den Wald gedachte man bedeutende
Merkmale von ergiebigen Steinkohlen zu verfolgen; man war aber nicht
weit gelangt, als ein starker Dampf den Arbeitern entgegendrang und sie
vertrieb. Die Öffnung ward wieder zugeworfen; allein wir fanden die
Stelle noch rauchend, als wir daran vorbei den Weg zur Residenz unseres
einsiedlerischen Chemikers verfolgten. Sie liegt zwischen Bergen und Wäldern;
die Täler nehmen daselbst sehr mannigfaltige und angenehme Krümmungen,
rings umher ist der Boden schwarz und kohlenartig, die Lager gehen häufig
zu Tage aus. Ein Kohlenphilosoph - Philosophus per ignem, wie man sonst
sagte - hätte sich wohl nicht schicklicher ansiedeln können. Wir
traten vor ein kleines, zur Wohnung nicht übel dienliches Haus und
fanden Herrn Stauf, der meinen Freund sogleich erkannte und mit Klagen
über die neue Regierung empfing. Freilich konnten wir aus seinen Reden
vermerken, daß das Alaunwerk, sowie manche andre wohlgemeinte Anstalt,
wegen äußerer, vielleicht auch innerer Umstände die Unkosten nicht
trage, und was dergleichen mehr war. Er gehörte unter die Chemiker
jener Zeit, die, bei einem innigen Gefühl dessen, was mit
Naturprodukten alles zu leisten wäre, sich in einer abstrusen
Betrachtung von Kleinigkeiten und Nebensachen gefielen, und, bei unzulänglichen
Kenntnissen, nicht fertig genug dasjenige zu leisten verstanden, woraus
eigentlich ökonomischer und merkantilischer Vorteil zu ziehn ist. So
lag der Nutzen, den er sich von jenem Schaum versprach, sehr im weiten;
so zeigte er nichts als einen Kuchen Salmiak, den ihm der brennende Berg
geliefert hatte. Bereitwillig
und froh, seine Klagen einem menschlichen Ohre mitzuteilen, schleppte
sich das hagere abgelebte Männchen in einem Schuh und einem Pantoffel,
mit herabhängenden, vergebens wiederholt von ihm heraufgezogenen Strümpfen,
den Berg hinauf, wo die Harzhütte steht, die er selbst errichtet hat
und nun mit großem Leidwesen verfallen sieht. Hier fand sich eine
zusammenhangende Ofenreihe, wo Steinkohlen abgeschwefelt und zum
Gebrauch bei Eisenwerken tauglich gemacht werden sollten; allein zu
gleicher Zeit wollte man Öl und Harz auch zu Gute machen, ja sogar den
Ruß nicht missen, und so unterlag den vielfachen Absichten alles
zusammen. Bei Lebzeiten des vorigen Fürsten trieb man das Geschäft aus
Liebhaberei, auf Hoffnung; jetzt fragte man nach dem unmittelbaren
Nutzen, der nicht nachzuweisen war. Nachdem
wir unsern Adepten seiner Einsamkeit überlassen, eilten wir - denn es
war schon spät geworden - der Friedrichsthaler Glashütte zu, wo wir
eine der wichtigsten und wunderbarsten Werktätigkeiten des menschlichen
Kunstgeschickes im Vorübergehen kennen lernten. Doch
fast mehr als diese bedeutenden Erfahrungen interessierten uns junge
Bursche einige lustige Abenteuer, und bei einbrechender Finsternis,
ohnweit Neukirch, ein überraschendes Feuerwerk. Denn wie vor einigen Nächten,
an den Ufern der Saar, leuchtende Wolken Johanniswürmer zwischen Fels
und Busch um uns schwebten, so spielten uns nun die funkenwerfenden
Essen ihr lustiges Feuerwerk entgegen. Wir betraten bei tiefer Nacht die
im Talgrunde liegenden Schmelzhütten, und vergnügten uns an dem
seltsamen Halbdunkel dieser Bretterhöhlen, die nur durch des glühenden
Ofens geringe Öffnung kümmerlich erleuchtet werden. Das Geräusch des
Wassers und der von ihm getriebenen Blasbälge, das fürchterliche
Sausen und Pfeifen des Windstroms, der, in das geschmolzene Erz wütend,
die Ohren betäubt und die Sinne verwirrt, trieb uns endlich hinweg, um
in Neukirch einzukehren, das an dem Berg hinaufgebaut ist. Aber
ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und Unruhe des Tags konnte ich hier
noch keine Rast finden. Ich überließ meinen Freund einem glücklichen
Schlafe und suchte das höher gelegene Jagdschloß. Es blickt weit über
Berg und Wälder hin, deren Umrisse nur an dem heitern Nachthimmel zu
erkennen, deren Seiten und Tiefen aber meinem Blick undurchdringlich
waren. So leer als einsam stand das wohlerhaltene Gebäude; kein
Kastellan, kein Jäger war zu finden. Ich saß vor den großen Glastüren
auf den Stufen, die um die ganze Terrasse hergehn. Hier, mitten im
Gebirg, über einer waldbewachsenen finsteren Erde, die gegen den
heitern Horizont einer Sommernacht nur noch finsterer erschien, das
brennende Sterngewölbe über mir, saß ich an der verlassenen Stätte
lange mit mir selbst und glaubte niemals eine solche Einsamkeit
empfunden zu haben. Wie lieblich überraschte mich daher aus der Ferne
der Ton von ein paar Waldhörnern, der auf einmal wie ein Balsamduft die
ruhige Atmosphäre belebte. Da erwachte in mir das Bild eines holden
Wesens, das vor den bunten Gestalten dieser Reisetage in den Hintergrund
gewichen war, es enthüllte sich immer mehr und mehr, und trieb mich von
meinem Platze nach der Herberge, wo ich Anstalten traf, mit dem frühsten
abzureisen. Der Rückweg wurde nicht benutzt wie der Herweg. So eilten
wir durch Zweibrücken, das, als eine schöne und merkwürdige Residenz,
wohl auch unsere Aufmerksamkeit verdient hätte. Wir warfen einen Blick
auf das große, einfache Schloß, auf die weitläuftigen, regelmäßig
mit Lindenstämmen bepflanzten, zum Dressieren der Parforcepferde
wohleingerichteten Esplanaden, auf die großen Ställe, auf die Bürgerhäuser,
welche der Fürst baute, um sie ausspielen zu lassen. Alles dieses,
sowie Kleidung und Betragen der Einwohner, besonders der Frauen und Mädchen,
deutete auf ein Verhältnis in die Ferne, und machte den Bezug auf Paris
anschaulich, dem alles Überrheinische seit geraumer Zeit sich nicht
entziehen konnte. Wir besuchten auch den vor der Stadt liegenden
herzoglichen Keller, der weitläuftig ist, mit großen und künstlichen
Fässern versehen. Wir zogen weiter und fanden das Land zuletzt wie im
Saarbrückischen. Zwischen wilden und rauhen Bergen wenig Dörfer; man
verlernt hier, sich nach Getreide umzusehn. Den Hornbach zur Seite
stiegen wir nach Bitsch, das an dem bedeutenden Platze liegt, wo die Gewässer
sich scheiden, und ein Teil in die Saar, ein Teil dem Rheine zufällt;
diese letztem sollten uns bald nach sich ziehn. Doch konnten wir dem Städtchen
Bitsch, das sich sehr malerisch um einen Berg herumschlingt, und der
oben liegenden Festung unsere Aufmerksamkeit nicht versagen. Diese ist
teils auf Felsen gebaut, teils in Felsen gehauen. Die unterirdischen Räume
sind besonders merkwürdig; hier ist nicht allein hinreichender Platz
zum Aufenthalt einer Menge Menschen und Vieh, sondern man trifft sogar
große Gewölbe zum Exerzieren, eine Mühle, eine Kapelle und was man
unter der Erde sonst fordern könnte, wenn die Oberfläche beunruhigt würde. Den
hinabstürzenden Bächen folgten wir nunmehr durchs Bärental. Die
dicken Wälder auf beiden Höhen sind unbenutzt. Hier faulen Stämme zu
Tausenden über einander, und junge Sprößlinge keimen in Unzahl auf
halbvermoderten Vorfahren. Hier kam uns durch Gespräche einiger Fußbegleiter
der Name von Dietrich wieder in die Ohren, den wir schon öfter in
diesen Waldgegenden ehrenvoll hatten aussprechen hören. Die Tätigkeit
und Gewandtheit dieses Mannes, sein Reichtum, die Benutzung und
Anwendung desselben, alles erschien im Gleichgewicht, er konnte sich mit
Recht des Erworbenen erfreuen, das er vermehrte, und das Verdiente genießen,
das er sicherte. Je mehr ich die Welt sah, je mehr erfreute ich mich, außer
den allgemein berühmten Namen, auch besonders an denen, die in
einzelnen Gegenden mit Achtung und Liebe genannt wurden; und so erfuhr
ich auch hier bei einiger Nachfrage gar leicht, daß von Dietrich früher
als andre sich der Gebirgsschätze, des Eisens, der Kohlen und des
Holzes, mit gutem Erfolg zu bedienen gewußt und sich zu einem immer
wachsenden Wohlhaben herangearbeitet habe. Niederbronn,
wohin wir gelangten, war ein neues Zeugnis hiervon. Er hatte diesen
kleinen Ort den Grafen von Leiningen und andern Teilbesitzern abgekauft,
um in der Gegend bedeutende Eisenwerke einzurichten. Hier
in diesen von den Römern schon angelegten Bädern umspülte mich der
Geist des Altertums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von
Basreliefs und Inschriften, Säulenknäufen und Schäften mir aus Bauerhöfen,
zwischen wirtschaftlichem Wust und Geräte, gar wundersam
entgegenleuchteten. So
verehrte ich auch, als wir die nahe gelegene Wasenburg bestiegen, an der
großen Felsmasse, die den Grund der einen Seite ausmacht, eine gut
erhaltene Inschrift, die dem Merkur ein dankbares Gelübd abstattet. Die
Burg selbst liegt auf dem letzten Berge von Bitsch her gegen das Land
zu. Es sind die Ruinen eines deutschen, auf römische Reste gebauten
Schlosses. Von dem Turm übersah man abermals das ganze Elsaß, und des
Münsters deutliche Spitze bezeichnete die Lage von Straßburg. Zunächst
jedoch verbreitete sich der große Hagenauer Forst, und die Türme
dieser Stadt ragten dahinter ganz deutlich hervor. Dorthin wurde ich
gezogen. Wir ritten durch Reichshofen, wo von Dietrich ein bedeutendes
Schloß erbauen ließ, und nachdem wir, von den Hügeln bei
Niedermodern, den angenehmen Lauf des Moderflüßchens am Hagenauer Wald
her betrachtet hatten, ließ ich meinen Freund bei einer lächerlichen
Steinkohlengrubenvisitation, die zu Dudweiler freilich etwas ernsthafter
würde gewesen sein, und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen, welche mir
die Neigung schon andeutete, nach dem geliebten Sesenheim. Denn
jene sämtlichen Aussichten in eine wilde Gebirgsgegend und sodann
wieder in ein heiteres, fruchtbares, fröhliches Land konnten meinen
Innern Blick nicht fesseln, der auf einen liebenswürdigen anziehenden
Gegenstand gerichtet war. Auch diesmal erschien mir der Herweg reizender
als der Hinweg, weil er mich wieder in die Nähe eines Frauenzimmers
brachte, der ich von Herzen ergeben war und welche so viel Achtung als
Liebe verdiente. Mir sei jedoch, ehe ich meine Freunde zu ihrer ländlichen
Wohnung führe, vergönnt, eines Umstandes zu erwähnen, der sehr viel
beitrug, meine Neigung und die Zufriedenheit, welche sie mir gewährte,
zu beleben und zu erhöhen. Wie
sehr ich in der neuern Literatur zurück sein mußte, läßt sich aus
der Lebensart schließen, die ich in Frankfurt geführt, aus den
Studien, denen ich mich gewidmet hatte, und mein Aufenthalt in Straßburg
konnte mich darin nicht fördern. Nun kam Herder und brachte neben
seinen großen Kenntnissen noch manche Hülfsmittel und überdies auch
neuere Schriften mit. Unter diesen kündigte er uns den
"Landpriester von Wakefield" als ein fürtreffliches Werk an,
von dem er uns die deutsche Übersetzung durch Selbsteigne Vorlesung
bekannt machen wolle. Seine
Art zu lesen war ganz eigen; wer ihn predigen gehört hat, wird sich
davon einen Begriff machen können. Er trug alles, und so auch diesen
Roman, ernst und schlicht vor; völlig entfernt von aller
dramatisch-mimischen Darstellung, vermied er sogar jene
Mannigfaltigkeit, die bei einem epischen Vortrag nicht allein erlaubt
ist, sondern wohl gefordert wird: eine geringe Abwechselung des Tons,
wenn verschiedene Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt,
herausgehoben und der Handelnde von dem Erzählenden abgesondert wird.
Ohne monoton zu sein, ließ Herder alles in einem Ton hinter einander
folgen, eben als wenn nichts gegenwärtig, sondern alles nur historisch
wäre, als wenn die Schatten dieser poetischen Wesen nicht lebhaft vor
ihm wirkten, sondern nur sanft vorübergleiteten. Doch hatte diese Art
des Vortrags, aus seinem Munde, einen unendlichen Reiz: denn weil er
alles aufs tiefste empfand, und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werks
hochzuschätzen wußte, so trat das ganze Verdienst einer Produktion
rein und um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf
ausgesprochene Einzelnheiten gestört und aus der Empfindung gerissen
wurde, welche das Ganze gewähren sollte. Ein
protestantischer Landgeistlicher ist vielleicht der schönste Gegenstand
einer modernen Idylle; er erscheint, wie Melchisedek, als Priester und König
in einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden
denken läßt, an den des Ackermanns, ist er meistens durch gleiche
Beschäftigung, sowie durch gleiche Familienverhältnisse geknüpft; er
ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeine.
Auf diesem reinen, schönen, irdischen Grunde ruht sein höherer Beruf;
ihm ist übergeben, die Menschen ins Leben zu führen, für ihre
geistige Erziehung zu sorgen, sie bei allen Hauptepochen ihres Daseins
zu segnen, sie zu belehren, zu kräftigen, zu trösten, und, wenn der
Trost für die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer glücklicheren
Zukunft heranzurufen und zu verbürgen. Denke man sich einen solchen
Mann, mit rein menschlichen Gesinnungen, stark genug, um unter keinen
Umständen davon zu weichen, und schon dadurch über die Menge erhaben,
von der man Reinheit und Festigkeit nicht erwarten kann; gebe man ihm
die zu seinem Amte nötigen Kenntnisse, sowie eine heitere, gleiche Tätigkeit,
welche sogar leidenschaftlich ist, indem sie keinen Augenblick versäumt,
das Gute zu wirken - und man wird ihn wohl ausgestattet haben. Zugleich
aber füge man die nötige Beschränktheit hinzu, daß er nicht allein
in einem kleinen Kreise verharren, sondern auch allenfalls in einen
kleineren übergehen möge; man verleihe ihm Gutmütigkeit, Versöhnlichkeit,
Standhaftigkeit und was sonst noch aus einem entschiedenen Charakter Löbliches
hervorspringt, und über dies alles eine heitere Nachgiebigkeit und lächelnde
Duldung eigner und fremder Fehler: so hat man das Bild unseres
trefflichen Wakefield so ziemlich beisammen. Die
Darstellung dieses Charakters auf seinem Lebensgange durch Freuden und
Leiden, das immer wachsende Interesse der Fabel, durch Verbindung des
ganz Natürlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen, macht diesen Roman
zu einem der besten, die je geschrieben worden; der noch überdies den
großen Vorzug hat, daß er ganz sittlich, ja im reinen Sinne christlich
ist, die Belohnung des guten Willens, des Beharrens bei dem Rechten
darstellt, das unbedingte Zutrauen auf Gott bestätigt und den endlichen
Triumph des Guten über das Böse beglaubigt; und dies alles ohne eine
Spur von Frömmelei oder Pedantismus. Vor beiden hatte den Verfasser der
hohe Sinn bewahrt, der sich hier durchgängig als Ironie zeigt, wodurch
dieses Werkchen uns ebenso weise als liebenswürdig entgegenkommen muß.
Der Verfasser, Doktor Goldsmith, hat ohne Frage große Einsicht in die
moralische Welt, in ihren Wert und in ihre Gebrechen; aber zugleich mag
er nur dankbar anerkennen, daß er ein Engländer ist, und die Vorteile,
die ihm sein Land, seine Nation darbietet, hoch anrechnen. Die Familie,
mit deren Schilderung er sich beschäftigt, steht auf einer der letzten
Stufen des bürgerlichen Behagens, und doch kommt sie mit dem Höchsten
in Berührung; ihr enger Kreis, der sich noch mehr verengt, greift,
durch den natürlichen und bürgerlichen Lauf der Dinge, in die große
Welt mit ein; auf der reichen bewegten Woge des englischen Lebens
schwimmt dieser kleine Kahn, und in Wohl und Weh hat er Schaden oder Hülfe
von der ungeheueren Flotte zu erwarten, die um ihn hersegelt. Ich
kann voraussetzen, daß meine Leser dieses Werk kennen und im Gedächtnis
haben; wer es zuerst hier nennen hört, sowie der, welcher aufgeregt
wird, es wieder zu lesen, beide werden mir danken. Für jene bemerke ich
nur im Vorübergehn, daß des Landgeistlichen Hausfrau von der tätigen,
guten Art ist, die es sich und den Ihrigen an nichts fehlen läßt, aber
auch dafür auf sich und die Ihrigen etwas einbildisch ist. Zwei Töchter,
Olivie, schön und mehr nach außen, Sophie, reizend und mehr nach innen
gesinnt; einen fleißigen, dem Vater nacheifernden etwas herben Sohn,
Moses, will ich zu nennen nicht unterlassen. Wenn
Herder bei seiner Vorlesung eines Fehlers beschuldigt werden konnte, so
war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zuhörer einen
gewissen Teil des Verlaufs vernommen und gefaßt hätte, um richtig
dabei empfinden und gehörig denken zu können: voreilig wollte er
sogleich Wirkungen sehen, und doch war er auch mit diesen unzufrieden,
wenn sie hervortraten. Er tadelte das Übermaß von Gefühl, das bei mir
von Schritt zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als Mensch, als
junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß
Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, daß ich vom Stoff überwältigt
ward, und das wollte er nicht gelten lassen. Pegelows Reflexionen zunächst,
die nicht von den feinsten waren, wurden noch übler aufgenommen;
besonders aber erzürnte er sich über unsern Mangel an Scharfsinn, daß
wir die Kontraste, deren sich der Verfasser oft bedient, nicht
voraussahen, uns davon rühren und hinreißen ließen, ohne den öfters
wiederkehrenden Kunstgriff zu merken. Daß wir aber gleich zu Anfang, wo
Burchell, indem er bei einer Erzählung aus der dritten Person in die
erste übergeht, sich zu verraten im Begriff ist, daß wir nicht gleich
eingesehn oder wenigstens gemutmaßt hatten, daß er der Lord, von dem
er spricht, selbst sei, verzieh er uns nicht, und als wir zuletzt, bei
Entdeckung und Verwandlung des armen kümmerlichen Wanderers in einen
reichen, mächtigen Herrn, uns kindlich freuten, rief er erst jene
Stelle zurück, die wir nach der Absicht des Autors überhört hatten,
und hielt über unsern Stumpfsinn eine gewaltige Strafpredigt. Man sieht
hieraus, daß er das Werk bloß als Kunstprodukt ansah und von uns das
gleiche verlangte, die wir noch in jenen Zuständen wandelten, wo es
wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu
lassen. Ich
ließ mich durch Herders Invektiven keineswegs irre machen; wie denn
junge Leute das Glück oder Unglück haben, daß, wenn einmal etwas auf
sie gewirkt hat, diese Wirkung in ihnen selbst verarbeitet werden muß,
woraus denn manches Gute, sowie manches Unheil entsteht. Gedachtes Werk
hatte bei mir einen großen Eindruck zurückgelassen, von dem ich mir
selbst nicht Rechenschaft geben konnte; eigentlich fühlte ich mich aber
in Übereinstimmung mit jener ironischen Gesinnung, die sich über die
Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben
erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt.
Freilich konnte dieses nur später bei mir zum Bewußtsein kommen,
genug, es machte mir für den Augenblick viel zu schaffen; keineswegs
aber hätte ich erwartet, alsobald aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche
wirkliche versetzt zu werden. Mein
Tischgenosse Weyland, der sein stilles fleißiges Leben dadurch
erheiterte, daß er, aus dem Elsaß gebürtig, bei Freunden und
Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach, leistete mir auf
meinen kleinen Exkursionen manchen Dienst, indem er mich in
verschiedenen Ortschaften und Familien teils persönlich, teils durch
Empfehlungen einführte. Dieser hatte mir öfters von einem
Landgeistlichen gesprochen, der nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von
Straßburg, im Besitz einer guten Pfarre mit einer verständigen Frau
und ein paar liebenswürdigen Töchtern lebe. Die Gastfreiheit und Anmut
dieses Hauses ward immer dabei höchlich gerühmt. So viel bedurfte es
kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewöhnt
hatte, alle abzumüßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier
Luft zuzubringen. Also entschlossen wir uns auch zu dieser Partie, wobei
mir mein Freund versprechen mußte, daß er bei der Einführung weder
Gutes noch Böses von mir sagen, überhaupt aber mich gleichgültig
behandeln wolle, sogar erlauben, wo nicht schlecht, doch etwas ärmlich
und nachlässig gekleidet zu erscheinen. Er willigte darein und
versprach sich selbst einigen Spaß davon. Es
ist eine verzeihliche Grille bedeutender Menschen, gelegentlich einmal
äußere Vorzüge ins Verborgene zu stellen, um den eignen innern
menschlichen Gehalt desto reiner wirken zu lassen; deswegen hat das
Inkognito der Fürsten und die daraus entspringenden Abenteuer immer
etwas höchst Angenehmes: es erscheinen verkleidete Gottheiten, die
alles Gute, was man ihrer Persönlichkeit erweist, doppelt hoch
anrechnen dürfen und im Fall sind, das Unerfreuliche entweder leicht zu
nehmen oder ihm ausweichen zu können. Daß Jupiter bei Philemon und
Baucis, Heinrich der Vierte, nach einer Jagdpartie, unter seinen Bauern
sich in ihrem Inkognito wohlgefallen, ist ganz der Natur gemäß, und
man mag es gern; daß aber ein junger Mensch ohne Bedeutung und Namen
sich einfallen läßt, aus dem Inkognito einiges Vergnügen zu ziehen, möchte
mancher für einen unverzeihlichen Hochmut auslegen. Da aber hier die
Rede nicht ist von Gesinnungen und Handlungen, inwiefern sie lobens-
oder tadelnswürdig, sondern wiefern sie sich offenbaren und ereignen können;
so wollen wir für diesmal, unserer Unterhaltung zu Liebe, dem Jüngling
seinen Dünkel verzeihen, um so mehr, als ich hier anführen muß, daß
von Jugend auf in mir eine Lust mich zu verkleiden selbst durch den
ernsten Vater erregt worden. Auch
diesmal hatte ich mich, teils durch eigne ältere, teils durch einige
geborgte Kleidungsstücke und durch die Art, die Haare zu kämmen, wo
nicht entstellt, doch wenigstens so wunderlich zugestutzt, daß mein
Freund unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn
ich Haltung und Gebärde solcher Figuren, wenn sie zu Pferde sitzen, und
die man lateinische Reiter nennt, vollkommen nachzuahmen wußte. Die schöne
Chaussee, das herrlichste Wetter und die Nähe des Rheins gaben uns den
besten Humor. In Drusenheim hielten wir einen Augenblick an, er, um sich
nett zu machen, und ich, um mir meine Rolle zurückzurufen, aus der ich
gelegentlich zu fallen fürchtete. Die Gegend hier hat den Charakter des
ganz freien ebenen Elsasses. Wir ritten einen anmutigen Fußpfad über
Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, ließen unsere Pferde im
Wirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe. - "Laß
dich", sagte Weyland, indem er mir das Haus von weitem zeigte,
"nicht irren, daß es einem alten und schlechten Bauerhause ähnlich
sieht; inwendig ist es desto jünger." Wir traten in den Hof; das
Ganze gefiel mir wohl: denn es hatte gerade das, was man malerisch
nennt, und was mich in der niederländischen Kunst so zauberisch
angesprochen hatte. Jene Wirkung war gewaltig sichtbar, welche die Zeit
über alles Menschenwerk ausübt. Haus und Scheune und Stall befanden
sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man unschlüssig,
zwischen Erhalten und Neuaufrichten zweifelhaft, das eine unterläßt,
ohne zu dem andern gelangen zu können. Alles
war still und menschenleer, wie im Dorfe so im Hofe. Wir fanden den
Vater, einen kleinen, in sich gekehrten aber doch freundlichen Mann,
ganz allein: denn die Familie war auf dem Felde. Er hieß uns
willkommen, bot uns eine Erfrischung an, die wir ablehnten. Mein Freund
eilte die Frauenzimmer aufzusuchen, und ich blieb mit unserem Wirt
allein. - "Sie wundern sich vielleicht", sagte er, "daß
Sie mich in einem reichen Dorfe und bei einer einträglichen Stelle so
schlecht quartiert finden; das kommt aber", fuhr er fort, "von
der Unentschlossenheit. Schon lange ist mir's von der Gemeine, ja von
den oberen Stellen zugesagt, daß das Haus neu aufgerichtet werden soll;
mehrere Risse sind schon gemacht, geprüft, verändert, keiner ganz
verworfen und keiner ausgeführt worden. Es hat so viele Jahre gedauert,
daß ich mich vor Ungeduld kaum zu fassen weiß." - Ich erwiderte
ihm, was ich für schicklich hielt, um seine Hoffnung zu nähren und ihn
aufzumuntern, daß er die Sache stärker betreiben möchte. Er fuhr
darauf fort, mit Vertrauen die Personen zu schildern, von denen solche
Sachen abhingen, und obgleich er kein sonderlicher Charakterzeichner
war, so konnte ich doch recht gut begreifen, wie das ganze Geschäft
stocken mußte. Die Zutraulichkeit des Mannes hatte was Eignes; er
sprach zu mir, als wenn er mich zehen Jahre gekannt hätte, ohne daß
irgend etwas in seinem Blick gewesen wäre, woraus ich einige
Aufmerksamkeit auf mich hätte mutmaßen können. Endlich trat mein
Freund mit der Mutter herein. Diese schien mich mit ganz andern Augen
anzusehn. Ihr Gesicht war regelmäßig und der Ausdruck desselben verständig;
sie mußte in ihrer Jugend schön gewesen sein. Ihre Gestalt war lang
und hager, doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt; sie hatte vom Rücken
her noch ein ganz jugendliches, angenehmes Ansehen. Die älteste Tochter
kam darauf lebhaft hereingestürmt; sie fragte nach Friedriken, so wie
die andern beiden auch nach ihr gefragt hatten. Der Vater versicherte,
sie nicht gesehen zu haben, seitdem alle drei fortgegangen. Die Tochter
fuhr wieder zur Türe hinaus, um die Schwester zu suchen; die Mutter
brachte uns einige Erfrischungen und Weyland setzte mit den beiden
Gatten das Gespräch fort, das sich auf lauter bewußte Personen und
Verhältnisse bezog, wie es zu geschehn pflegt, wenn Bekannte nach
einiger Zeit zusammenkommen, von den Gliedern eines großen Zirkels
Erkundigung einziehn und sich wechselsweise berichten. Ich hörte zu und
erfuhr nunmehr, wie viel ich mir von diesem Kreise zu versprechen hatte. Die
älteste Tochter kam wieder hastig in die Stube, unruhig, ihre Schwester
nicht gefunden zu haben. Man war besorgt um sie und schalt auf diese
oder jene böse Gewohnheit; nur der Vater sagte ganz ruhig: "Laßt
sie immer gehn, sie kommt schon wieder!" In diesem Augenblick trat
sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen
Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch
deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte
Nationaltracht kleidete Friedriken besonders gut. Ein kurzes weißes
rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten
Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes
Mieder und eine schwarze Taffetschürze - so stand sie auf der Grenze
zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie
nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für
die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu
zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das
artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der
Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so
hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer
ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen. Ich
fing nun an, meine Rolle mit Mäßigung zu spielen, halb beschämt, so
gute Menschen zum besten zu haben, die zu beobachten es mir nicht an
Zeit fehlte: denn die Mädchen setzten jenes Gespräch fort und zwar mit
Leidenschaft und Laune. Sämtliche Nachbarn und Verwandte wurden
abermals vorgeführt, und es erschien meiner Einbildungskraft ein
solcher Schwarm von Onkeln und Tanten, Vettern, Basen, Kommenden,
Gehenden, Gevattern und Gästen, daß ich in der belebtesten Welt zu
hausen glaubte. Alle Familienglieder hatten einige Worte mit mir
gesprochen, die Mutter betrachtete mich jedesmal, so oft sie kam oder
ging, aber Friedrike ließ sich zuerst mit mir in ein Gespräch ein, und
indem ich umherliegende Noten aufnahm und durchsah, fragte sie, ob ich
auch spiele? Als ich es bejahte, ersuchte sie mich, etwas vorzutragen;
aber der Vater ließ mich nicht dazu kommen: denn er behauptete es sei
schicklich, dem Gaste zuerst mit irgend einem Musikstück oder einem
Liede zu dienen. Sie
spielten verschiedenes mit einiger Fertigkeit, in der Art, wie man es
auf dem Lande zu hören pflegt, und zwar auf einem Klavier, das der
Schulmeister schon längst hätte stimmen sollen, wenn er Zeit gehabt hätte.
Nun sollte sie auch ein Lied singen, ein gewisses zärtlich-trauriges;
das gelang ihr nun gar nicht. Sie stand auf und sagte lächelnd, oder
vielmehr mit dem auf ihrem Gesicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer
Freude: "Wenn ich schlecht singe, so kann ich die Schuld nicht auf
das Klavier und den Schulmeister werfen; lassen Sie uns aber nur
hinauskommen, dann sollen Sie meine Elsasser- und Schweizerliedchen hören,
die klingen schon besser." Beim
Abendessen beschäftigte mich eine Vorstellung, die mich schon früher
überfallen hatte, dergestalt, daß ich nachdenklich und stumm wurde,
obgleich die Lebhaftigkeit der älteren Schwester und die Anmut der jüngern
mich oft genug aus meinen Betrachtungen schüttelten. Meine Verwunderung
war über allen Ausdruck, mich so ganz leibhaftig in der Wakefieldschen
Familie zu finden. Der Vater konnte freilich nicht mit jenem trefflichen
Manne verglichen werden; allein wo gäbe es auch seinesgleichen! Dagegen
stellte sich alle Würde, welche jenem Ehegatten eigen ist, hier in der
Gattin dar. Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und
zu scheuen. Man bemerkte bei ihr die Folgen einer guten Erziehung; ihr
Betragen war ruhig, frei, heiter und einladend. Hatte
die ältere Tochter nicht die gerühmte Schönheit Oliviens, so war sie
doch wohl gebaut, lebhaft und eher heftig; sie zeigte sich überall tätig
und ging der Mutter in allem an Handen. Friedriken an die Stelle von
Primrosens Sophie zu setzen, war nicht schwer: denn von jener ist wenig
gesagt, man gibt nur zu, daß sie liebenswürdig sei; diese war es
wirklich. Wie nun dasselbe Geschäft, derselbe Zustand überall, wo er
vorkommen mag, ähnliche, wo nicht gleiche Wirkungen hervorbringt; so
kam auch hier manches zur Sprache, es geschah gar manches, was in der
Wakefieldschen Familie sich auch schon ereignet hatte. Als nun aber gar
zuletzt ein längst angekündigter und von dem Vater mit Ungeduld
erwarteter jüngerer Sohn ins Zimmer sprang und sich dreust zu uns
setzte, indem er von den Gästen wenig Notiz nahm, so enthielt ich mich
kaum auszurufen: "Moses, bist du auch da!" Die
Unterhaltung bei Tische erweiterte die Ansicht jenes Land- und
Familienkreises, indem von mancherlei lustigen Begebenheiten, die bald
da bald dort vorgefallen, die Rede war. Friedrike, die neben mir saß,
nahm daher Gelegenheit, mir verschiedene Ortschaften zu beschreiben, die
es wohl zu besuchen der Mühe wert sei. Da immer ein Geschichtchen das
andere hervorruft, so konnte ich nun auch mich desto besser in das Gespräch
mischen und ähnliche Begebenheiten erzählen, und weil hiebei ein guter
Landwein keineswegs geschont wurde, so stand ich in Gefahr, aus meiner
Rolle zu fallen, weshalb der vorsichtigere Freund den schönen
Mondschein zum Vorwand nahm und auf einen Spaziergang antrug, welcher
denn auch sogleich beliebt wurde. Er bot der Ältesten den Arm, ich der
Jüngsten, und so zogen wir durch die weiten Fluren, mehr den Himmel über
uns zum Gegenstand habend, als die Erde, die sich neben uns in der
Breite verlor. Friedrikens Reden jedoch hatten nichts Mondscheinhaftes;
durch die Klarheit, womit sie sprach, machte sie die Nacht zum Tage, und
es war nichts darin, was eine Empfindung angedeutet oder erweckt hätte,
nur bezogen sich ihre Äußerungen mehr als bisher auf mich, indem sie
sowohl ihren Zustand als die Gegend und ihre Bekannten mir von der Seite
vorstellte, wiefern ich sie würde kennen lernen: denn sie hoffe, setzte
sie hinzu daß ich keine Ausnahme machen und sie wieder besuchen würde,
wie jeder Fremde gern getan, der einmal bei ihnen eingekehrt sei. Es
war mir sehr angenehm, stillschweigend der Schilderung zuzuhören, die
sie von der kleinen Welt machte, in der sie sich bewegte, und von denen
Menschen, die sie besonders schätzte. Sie brachte mir dadurch einen
klaren und zugleich so liebenswürdigen Begriff von ihrem Zustande bei,
der sehr wunderlich auf mich wirkte: denn ich empfand auf einmal einen
tiefen Verdruß, nicht früher mit ihr gelebt zu haben, und zugleich ein
recht peinliches, neidisches Gefühl gegen alle, welche das Glück
gehabt hatten, sie bisher zu umgeben. Ich paßte sogleich, als wenn ich
ein Recht dazu gehabt hätt, genau auf alle ihre Schilderungen von Männern,
sie mochten unter den Namen von Nachbarn, Vettern oder Gevattern
auftreten, und lenkte bald da- bald dorthin meine Vermutung; allein wie
hätte ich etwas entdecken sollen in der völligen Unbekanntschaft aller
Verhältnisse. Sie wurde zuletzt immer redseliger und ich immer stiller.
Es hörte sich ihr gar so gut zu, und da ich nur ihre Stimme vernahm,
ihre Gesichtsbildung aber sowie die übrige Welt in Dämmerung schwebte,
so war es mir, als ob ich in ihr Herz sähe, das ich höchst rein finden
mußte, da es sich in so unbefangener Geschwätzigkeit vor mir eröffnete. Als
mein Gefährte mit mir in das für uns zubereitete Gastzimmer gelangte,
brach er sogleich mit Selbstgefälligkeit in behaglichen Scherz aus und
tat sich viel darauf zugute, mich mit der Ähnlichkeit der Primrosischen
Familie so sehr überrascht zu haben. Ich stimmte mit ein, indem ich
mich dankbar erwies. - "Fürwahr!" rief er aus, "das Märchen
ist ganz beisammen. Diese Familie vergleicht sich jener sehr gut, und
der verkappte Herr da mag sich die Ehre antun, für Herrn Burchell
gelten zu wollen; ferner, weil wir im gemeinen Leben die Bösewichter
nicht so nötig haben als in Romanen, so will ich für diesmal die Rolle
des Neffen übernehmen, und mich besser aufführen als er." Ich
verließ jedoch sogleich dieses Gespräch, so angenehm es mir auch sein
mochte, und fragte ihn vor allen Dingen auf sein Gewissen, ob er mich
wirklich nicht verraten habe. Er beteuerte "Nein!" und ich
durfte ihm glauben. Sie hätten sich vielmehr, sagte er, nach dem
lustigen Tischgesellen erkundigt, der in Straßburg mit ihm in einer
Pension speise und von dem man ihnen allerlei verkehrtes Zeug erzählt
habe. Ich schritt nun zu andern Fragen: ob sie geliebt habe? ob sie
liebe? ob sie versprochen sei? Er verneinte das alles. - "Fürwahr!"
versetzte ich, "eine solche Heiterkeit von Natur aus ist mir
unbegreiflich. Hätte sie geliebt und verloren und sich wieder gefaßt,
oder wäre sie Braut, in beiden Fällen wollte ich es gelten
lassen." So
schwatzten wir zusammen tief in die Nacht, und ich war schon wieder
munter, als es tagte. Das Verlangen, sie wieder zu sehen, schien unüberwindlich;
allein indem ich mich anzog, erschrak ich über die verwünschte
Garderobe, die ich mir so freventlich ausgesucht hatte. Je weiter ich
kam, meine Kleidungsstücke anzulegen, desto niederträchtiger erschien
ich mir: denn alles war ja auf diesen Effekt berechnet. Mit meinen
Haaren wäre ich allenfalls noch fertig geworden; aber wie ich mich
zuletzt in den geborgten, abgetragenen grauen Rock einzwängte und die
kurzen Ärmel mir das abgeschmackteste Ansehen gaben, fiel ich desto
entschiedener in Verzweiflung, als ich mich in einem kleinen Spiegel nur
teilweise betrachten konnte; da denn immer ein Teil lächerlicher aussah
als der andre. Über
dieser Toilette war mein Freund aufgewacht und blickte, mit der
Zufriedenheit eines guten Gewissens und im Gefühl einer freudigen
Hoffnung für den Tag, aus der gestopften seidenen Decke. Ich hatte
schon seine hübschen Kleider, wie sie über den Stuhl hingen, längst
beneidet, und wäre er von meiner Taille gewesen, ich hätte sie ihm vor
den Augen weggetragen, mich draußen umgezogen und ihm meine verwünschte
Hülle, in den Garten eilend, zurückgelassen; er hätte guten Humor
genug gehabt, sich in meine Kleider zu stecken, und das Märchen wäre
bei frühem Morgen zu einem lustigen Ende gelangt. Daran war aber nun
gar nicht zu denken, so wenig als wie an irgend eine schickliche
Vermittelung. In der Figur, in der mich mein Freund für einen zwar fleißigen
und geschickten aber armen Studiosen der Theologie ausgeben konnte,
wieder vor Friedriken hinzutreten, die gestern abend an mein
verkleidetes Selbst so freundlich gesprochen hatte, das war mir ganz unmöglich.
Ärgerlich und sinnend stand ich da und bot all mein Erfindungsvermögen
auf; allein es verließ mich. Als nun aber gar der behaglich
Ausgestreckte, nachdem er mich eine Weile fixiert hatte, auf einmal in
ein lautes Lachen ausbrach und ausrief: "Nein! es ist wahr, du
siehst ganz verwünscht aus!", versetzte ich heftig: "Und ich
weiß, was ich tue, leb wohl und entschuldige mich!" - "Bist
du toll!" rief er, indem er aus dem Bette sprang und mich aufhalten
wollte. Ich war aber schon zur Türe hinaus, die Treppe hinunter, aus
Haus und Hof, nach der Schenke; im Nu war mein Pferd gesattelt, und ich
eilte in rasendem Unmut galoppierend nach Drusenheim, den Ort hindurch
und immer weiter. Da ich mich nun in Sicherheit glaubte, ritt ich
langsamer und fühlte nun erst, wie unendlich ungern ich mich entfernte.
Ich ergab mich aber in mein Schicksal, vergegenwärtigte mir den
Spaziergang von gestern abend mit der größten Ruhe und nährte die
stille Hoffnung, sie bald wieder zu sehn. Doch verwandelte sich dieses
stille Gefühl bald wieder in Ungeduld, und nun beschloß ich, schnell
in die Stadt zu reiten, mich umzuziehen, ein gutes frisches Pferd zu
nehmen; da ich denn wohl allenfalls, wie mir die Leidenschaft
vorspiegelte, noch vor Tische, oder, wie es wahrscheinlicher war, zum
Nachtische oder gegen Abend gewiß wieder eintreffen und meine Vergebung
erbitten konnte. Eben
wollte ich meinem Pferde die Sporen geben, um diesen Vorsatz auszuführen,
als mir ein anderer und, wie mich deuchte, sehr glücklicher Gedanke
durch den Geist fuhr. Schon gestern hatte ich im Gasthofe zu Drusenheim
einen sehr sauber gekleideten Wirtssohn bemerkt, der auch heute früh,
mit ländlichen Anordnungen beschäftigt, mich aus seinem Hofe begrüßte.
Er war von meiner Gestalt und hatte mich flüchtig an mich selbst
erinnert. Gedacht, getan! Mein Pferd war kaum umgewendet, so befand ich
mich in Drusenheim; ich brachte es in den Stall und machte dem Burschen
kurz und gut den Vorschlag: er solle mir seine Kleider borgen, weil ich
in Sesenheim etwas Lustiges vorhabe. Da brauchte ich nicht auszureden;
er nahm den Vorschlag mit Freuden an und lobte mich, daß ich den
Mamsells einen Spaß machen wolle; sie wären so brav und gut, besonders
Mamsell Rikchen, und auch die Eltern sähen gerne, daß es immer lustig
und vergnügt zuginge. Er betrachtete mich aufmerksam, und da er mich
nach meinem Aufzug für einen armen Schlucker halten mochte, so sagte
er: "Wenn Sie sich insinuieren wollen, So ist das der rechte
Weg." Wir waren indessen schon weit in unserer Umkleidung gekommen,
und eigentlich sollte er mir seine Festtagskleider gegen die meinigen
nicht anvertrauen; doch er war treuherzig und hatte ja mein Pferd im
Stalle. Ich stand bald und recht schmuck da, warf mich in die Brust, und
mein Freund schien sein Ebenbild mit Behaglichkeit zu betrachten. -
"Topp, Herr Bruder!" sagte er, indem er mir die Hand
hinreichte, in die ich wacker einschlug, "komme Er meinem Mädel
nicht zu nah, sie möchte sich vergreifen." Meine
Haare, die nunmehr wieder ihren völligen Wuchs hatten, konnte ich
ohngefähr wie die seinigen scheiteln, und da ich ihn wiederholt
betrachtete, so fand ich's lustig, seine dichteren Augenbrauen mit einem
gebrannten Korkstöpsel mäßig nachzuahmen und sie in der Mitte näher
zusammenzuziehen, um mich bei meinem rätselhaften Vornehmen auch äußerlich
zum Rätsel zu bilden. "Habt Ihr nun", sagte ich, als er mir
den bebänderten Hut reichte, "nicht irgend etwas in der Pfarre
auszurichten, daß ich mich auf eine natürliche Weise dort anmelden könnte?"
- "Gut!" versetzte er, "aber da müssen Sie noch zwei
Stunden warten. Bei uns ist eine Wöchnerin; ich will mich erbieten, den
Kuchen der Frau Pfarrin zu bringen, den mögen Sie dann hinübertragen.
Hoffart muß Not leiden, und der Spaß denn auch." - Ich entschloß
mich zu warten, aber diese zwei Stunden wurden mir unendlich lang, und
ich verging vor Ungeduld, als die dritte verfloß, ehe der Kuchen aus
dem Ofen kam. Ich empfing ihn endlich ganz warm, und eilte, bei dem schönsten
Sonnenschein, mit meinem Kreditiv davon, noch eine Strecke von meinem
Ebenbild begleitet, welches gegen Abend nachzukommen und mir meine
Kleider zu bringen versprach, die ich aber lebhaft ablehnte und mir
vorbehielt, ihm die seinigen wieder zuzustellen. Ich
war nicht weit mit meiner Gabe gesprungen, die ich in einer sauberen
zusammengeknüpften Serviette trug, als ich in der Ferne meinen Freund
mit den beiden Frauenzimmern mir entgegen kommen sah. Mein Herz war
beklommen, wie sich's eigentlich unter dieser Jacke nicht ziemte. Ich
blieb stehen, holte Atem und suchte zu überlegen, was ich beginnen
solle; und nun bemerkte ich erst, daß das Terrain mir sehr zustatten
kam: denn sie gingen auf der andern Seite des Baches, der, sowie die
Wiesenstreifen, durch die er hinlief, zwei Fußpfade ziemlich
auseinander hielt. Als sie gegen mir über waren, rief Friedrike, die
mich schon lange gewahrt hatte: "George, was bringst du?" Ich
war klug genug, das Gesicht mit dem Hute, den ich abnahm, zu bedecken,
indem ich die beladene Serviette hoch in die Höhe hielt. - "Ein
Kindtaufkuchen!" rief sie dagegen; "wie geht's der
Schwester?" - "Guet", sagte ich, indem ich, wo nicht
elsassisch, doch fremd zu reden suchte. - "Trag ihn nach
Hause!" sagte die Älteste, "und wenn du die Mutter nicht
findest, gib ihn der Magd; aber wart auf uns, wir kommen bald wieder, hörst
du!" - Ich eilte meinen Pfad hin, im Frohgefühl der besten
Hoffnung, daß alles gut ablaufen müsse, da der Anfang glücklich war,
und hatte bald die Pfarrwohnung erreicht. Ich fand niemand weder im Haus
noch in der Küche; den Herrn, den ich beschäftigt in der Studierstube
vermuten konnte, wollte ich nicht aufregen, ich setzte mich deshalb auf
die Bank vor der Türe, den Kuchen neben mich und drückte den Hut ins
Gesicht. Ich
erinnere mich nicht leicht einer angenehmern Empfindung. Hier an dieser
Schwelle wieder zu sitzen, über die ich vor kurzem in Verzweiflung
hinausgestolpert war; sie schon wieder gesehn, ihre liebe Stimme schon
wieder gehört zu haben, kurz nachdem mein Unmut mir eine lange Trennung
vorgespiegelt hatte; jeden Augenblick sie selbst und eine Entdeckung zu
erwarten, vor der mir das Herz klopfte, und doch, in diesem zweideutigen
Falle, eine Entdeckung ohne Beschämung; dann, gleich zum Eintritt einen
so lustigen Streich, als keiner derjenigen, die gestern belacht worden
waren! Liebe und Not sind doch die besten Meister, hier wirkten sie
zusammen, und der Lehrling war ihrer nicht unwert geblieben. Die
Magd kam aber aus der Scheune getreten. - "Nun! sind die Kuchen
geraten?" rief sie mich an; "wie geht's der Schwester?" -
"Alles guet", sagte ich und deutete auf den Kuchen, ohne
aufzusehen. Sie faßte die Serviette und murrte "Nun, was hast du
heute wieder? hat Bärbchen wieder einmal einen andern angesehn? Laß es
uns nicht entgelten! Das wird eine saubere Ehe werden, wenn's so
fortgeht." Da sie ziemlich laut sprach, kam der Pfarrer ans Fenster
und fragte, was es gebe? Sie bedeutete ihn; ich stand auf und kehrte
mich nach ihm zu, doch hielt ich den Hut wieder übers Gesicht. Als er
etwas Freundliches gesprochen und mich zu bleiben geheißen hatte, ging
ich nach dem Garten und wollte eben hineintreten, als die Pfarrin, die
zum Hoftore hereinkam, mich anrief. Da mir die Sonne gerade ins Gesicht
schien, so bediente ich mich abermals des Vorteils, den mir der Hut gewährte,
grüßte sie mit einem Scharrfuß, sie aber ging in das Haus, nachdem
sie mir zugesprochen hatte ich möchte nicht weggehen, ohne etwas
genossen zu haben. Ich ging nunmehr in dem Garten auf und ab; alles
hatte bisher den besten Erfolg gehabt, doch holte ich tief Atem, wenn
ich dachte, daß die jungen Leute nun bald herankommen würden. Aber
unvermutet trat die Mutter zu mir und wollte eben eine Frage an mich
tun, als sie mir ins Gesicht sah, das ich nicht mehr verbergen konnte,
und ihr das Wort im Munde stockte. - "Ich suchte Georgen",
sagte Sie nach einer Pause, "und wen finde ich! Sind Sie es, junger
Herr? wie viel Gestalten haben Sie denn?" - "Im Ernst nur
eine", versetzte ich, "zum Scherz, so viel Sie wollen." -
"Den will ich nicht verderben", lächelte Sie; "gehen Sie
hinten zum Garten hinaus und auf der Wiese hin, bis es Mittag schlägt,
dann kehren Sie zurück, und ich will den Spaß schon eingeleitet
haben." Ich tat's; allein da ich aus den Hecken der Dorfgärten
heraus war und die Wiesen hingehen wollte, kamen gerade einige Landleute
den Fußpfad her, die mich in Verlegenheit setzten. Ich lenkte deshalb
nach einem Wäldchen, das ganz nah eine Erderhöhung bekrönte, um mich
darin bis zur bestimmten Zeit zu verbergen. Doch wie wunderlich ward mir
zu Mute, als ich hineintrat: denn es zeigte sich mir ein reinlicher
Platz mit Bänken, von deren jeder man eine hübsche Aussicht in die
Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchturm, hier Drusenheim und
dahinter die waldigen Rheininseln, gegenüber die Vogesischen Gebirge
und zuletzt der Straßburger Münster. Diese verschiedenen himmelhellen
Gemälde waren durch buschige Rahmen eingefaßt, so daß man nichts
Erfreulicheres und Angenehmeres sehen konnte. Ich setzte mich auf eine
der Bänke und bemerkte an dem stärksten Baum ein kleines längliches
Brett mit der Inschrift: Friedrikens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, daß
ich gekommen sein könnte, diese Ruhe zu stören: denn eine aufkeimende
Leidenschaft hat das Schöne, daß, wie sie sich ihres Ursprungs unbewußt
ist, sie auch keinen Gedanken eines Endes haben und, wie sie sich froh
und heiter fühlt, nicht ahnden kann, daß sie wohl auch Unheil stiften
dürfte. Kaum
hatte ich Zeit gehabt mich umzusehn, und verlor mich eben in süße Träumereien,
als ich jemand kommen hörte; es war Friedrike selbst. - "George,
was machst du hier?" rief sie von weitem. "Nicht George!"
rief ich, in dem ich ihr entgegenlief; "aber einer, der tausendmal
um Verzeihung bittet." Sie betrachtete mich mit Erstaunen, nahm
sich aber gleich zusammen und sagte nach einem tieferen Atemholen:
"Garstiger Mensch, wie erschrecken Sie mich!" - "Die
erste Maske hat mich in die zweite getrieben", rief ich aus;
"jene wäre unverzeihlich gewesen, wenn ich nur einigermaßen gewußt
hätte, zu wem ich ging, diese vergeben Sie gewiß: denn es ist die
Gestalt von Menschen, denen Sie so freundlich begegnen." -- Ihre bläßlichen
Wangen hatten sich mit dem schönsten Rosenrote gefärbt. -
"Schlimmer sollen Sie's wenigstens nicht haben als George! Aber
lassen Sie uns sitzen! Ich gestehe es, der Schreck ist mir in die
Glieder gefahren." - Ich setzte mich zu ihr, äußerst bewegt. -
"Wir wissen alles bis heute früh durch Ihren Freund", sagte
sie, "nun erzählen Sie mir das Weitere." Ich ließ mir das
nicht zweimal sagen, sondern beschrieb ihr meinen Abscheu vor der
gestrigen Figur, mein Fortstürmen aus dem Hause so komisch, daß sie
herzlich und anmutig lachte; dann ließ ich das übrige folgen, mit
aller Bescheidenheit zwar, doch leidenschaftlich genug, daß es gar wohl
für eine Liebeserklärung in historischer Form hätte gelten können.
Das Vergnügen, Sie wieder zu finden, feierte ich zuletzt mit einem
Kusse auf ihre Hand, die sie in den meinigen ließ. Hatte sie bei dem
gestrigen Mondscheingang die Unkosten des Gesprächs übernommen, so
erstattete ich die Schuld nun reichlich von meiner Seite. Das Vergnügen,
sie wiederzusehen und ihr alles sagen zu können, was ich gestern zurückhielt,
war so groß, daß ich in meiner Redseligkeit nicht bemerkte, wie sie
selbst nachdenkend und schweigend war. Sie holte einigemal tief Atem,
und ich bat sie aber- und abermal um Verzeihung wegen des Schrecks, den
ich ihr verursacht hatte. Wie lange wir mögen gesessen haben, weiß ich
nicht; aber auf einmal hörten wir "Rikchen! Rikchen!" rufen.
Es war die Stimme der Schwester. - "Das wird eine schöne
Geschichte geben", sagte das liebe Mädchen, zu ihrer völligen
Heiterkeit wiederhergestellt. "sie kommt an meiner Seite her";
fügte sie hinzu, indem sie sich verbog, mich halb zu verbergen:
"Wenden Sie sich weg, damit man Sie nicht gleich erkennt." Die
Schwester trat in den Platz, aber nicht allein, Weyland ging mit ihr,
und beide, da sie uns erblickten, blieben wie versteinert. Wenn
wir auf einmal aus einem ruhigen Dache eine Flamme gewaltsam ausbrechen
sähen, oder einem Ungeheuer begegneten, dessen Mißgestalt zugleich empörend
und fürchterlich wäre, so würden wir von keinem so grimmigen
Entsetzen befallen werden als dasjenige ist, das uns ergreift, wenn wir
etwas unerwartet mit Augen sehen, das wir moralisch unmöglich glaubten.
- "Was heißt das?" rief jene mit der Hastigkeit eines
Erschrockenen; "was ist das? du mit Georgen! Hand in Hand! Wie
begreif' ich das?" - "Liebe Schwester", versetzte
Friedrike ganz bedenklich, "der arme Mensch, er bittet mir was ab,
er hat dir auch was abzubitten, du mußt ihm aber zum voraus
verzeihen." - "Ich verstehe nicht, ich begreife nicht",
sagte die Schwester, indem sie den Kopf schüttelte und Weylanden ansah,
der, nach seiner stillen Art, ganz ruhig dastand und die Szene ohne
irgend eine Äußerung betrachtete. Friedrike stand auf und zog mich
nach sich. "Nicht gezaudert!" rief sie, "Pardon gebeten
und gegeben!" "Nun ja!" sagte ich, indem ich der ältesten
ziemlich nahe trat; "Pardon habe ich vonnöten!" Sie fuhr zurück,
tat einen lauten Schrei und wurde rot über und über; dann warf Sie
Sich aufs Gras, lachte überlaut und wollte sich gar nicht zufrieden
geben. Weyland lächelte behaglich und rief: "Du bist ein
exzellenter Junge!" Dann schüttelte er meine Hand in der seinigen.
Gewöhnlich war er mit Liebkosungen nicht freigebig, aber Sein Händedruck
hatte etwas Herzliches und Belebendes; doch war er auch mit diesem
sparsam. Nach
einiger Erholung und Sammlung traten wir unsern Rückweg nach dem Dorfe
an. Unterwegs erfuhr ich, wie dieses wunderbare Zusammentreffen veranlaßt
worden. Friedrike hatte sich von dem Spaziergange zuletzt abgesondert,
um auf ihrem Plätzchen noch einen Augenblick vor Tische zu ruhen, und
als jene beiden nach Hause gekommen, hatte die Mutter sie abgeschickt,
Friedriken eiligst zu holen, weil das Mittagsessen bereit sei. Die
Schwester zeigte den ausgelassensten Humor, und als sie erfuhr, daß die
Mutter das Geheimnis schon entdeckt habe, rief sie aus: "Nun ist
noch übrig, daß Vater, Bruder, Knecht und Magd gleichfalls angeführt
werden." Als wir uns an dem Gartenzaun befanden, mußte Friedrike
mit dem Freund voraus nach dem Hause gehen. Die Magd war im Hausgarten
beschäftigt, und Olivie (so mag auch hier die ältere Schwester heißen)
rief ihr zu: "Warte, ich habe dir was zu sagen!" Mich ließ
sie an der Hecke stehen und ging zu dem Mädchen. Ich sah, daß sie sehr
ernsthaft sprachen. Olivie bildete ihr ein, George habe sich mit Bärben
überworfen und schiene Lust zu haben, sie zu heiraten. Das gefiel der
Dirne nicht übel; nun ward ich gerufen und sollte das Gesagte bekräftigen.
Das hübsche derbe Kind senkte die Augen nieder und blieb so, bis ich
ganz nahe vor ihr stand. Als sie aber auf einmal das fremde Gesicht
erblickte, tat auch sie einen lauten Schrei und lief davon. Olivie hieß
mich ihr nachlaufen und sie festhalten, daß sie nicht ins Haus geriet
und Lärm machte; sie aber wolle selbst hingehen und sehen, wie es mit
dem Vater stehe. Unterwegs traf Olivie auf den Knecht, welcher der Magd
gut war; ich hatte indessen das Mädchen ereilt und hielt sie fest. -
"Denk einmal! welch ein Glück", rief Olivie, "mit Bärben
ist's aus, und George heiratet Liesen." - "Das habe ich lange
gedacht", sagte der gute Kerl, und blieb verdrießlich stehen. Ich
hatte dem Mädchen begreiflich gemacht, daß es nur darauf ankomme, den
Papa anzuführen. Wir gingen auf den Burschen los, der sich umkehrte und
sich zu entfernen suchte; aber Liese holte ihn herbei, und auch er
machte, indem er enttäuscht ward, die wunderlichsten Gebärden. Wir
gingen zusammen nach dem Hause. Der Tisch war gedeckt und der Vater
schon im Zimmer. Olivie, die mich hinter sich hielt, trat an die
Schwelle und sagte: "Vater, es ist dir doch recht, daß George
heute mit uns ißt? Du mußt ihm aber erlauben, daß er den Hut aufbehält."
- "Meinetwegen!" sagte der Alte, "aber warum so was Ungewöhnliches?
Hat er sich beschädigt?" Sie zog mich vor, wie ich stand und den
Hut aufhatte. "Nein!" sagte sie, indem sie mich in die Stube führte,
"aber er hat eine Vogelhecke darunter, die möchten hervorfliegen
und einen verteufelten Spuk machen: denn es sind lauter lose Vögel."
Der Vater ließ sich den Scherz gefallen, ohne daß er recht wußte, was
es heißen sollte. In dem Augenblick nahm sie mir den Hut ab, machte
einen Scharrfuß und verlangte von mir das gleiche. Der Alte sah mich
an, erkannte mich, kam aber nicht aus seiner priesterlichen Fassung.
"Ei ei! Herr Kandidat!" rief er aus, indem er einen drohenden
Finger aufhob, "sie haben geschwind umgesattelt, und ich verliere
über Nacht einen Gehülfen, der mir erst gestern so treulich zusagte,
manchmal die Wochenkanzel für mich zu besteigen." Darauf lachte er
von Herzen, hieß mich willkommen, und wir setzten uns zu Tische. Moses
kam um vieles später; denn er hatte sich, als der verzogene Jüngste,
angewöhnt, die Mittagsglocke zu verhören. Außerdem gab er wenig acht
auf die Gesellschaft, auch kaum, wenn er widersprach. Man hatte mich, um
ihn sicherer zu machen, nicht zwischen die Schwestern, sondern an das
Ende des Tisches gesetzt, wo George manchmal zu sitzen pflegte. Als er,
mir im Rücken, zur Tür hereingekommen war, schlug er mir derb auf die
Achsel und sagte: "George, gesegnete Mahlzeit!" - "Schönen
Dank, Junker!" erwiderte ich. - Die fremde Stimme, das fremde
Gesicht erschreckten ihn. - "Was sagst du?" rief Olivie,
"sieht er seinem Bruder nicht recht ähnlich?" - "Jawohl,
von hinten", versetzte Moses, der sich gleich wieder zu fassen wußte,
"wie allen Leuten." Er sah mich gar nicht wieder an und beschäftigte
sich bloß, die Gerichte, die er nachzuholen hatte, eifrig
hinunterzuschlingen. Dann beliebte es ihm auch, gelegentlich aufzustehen
und sich in Hof und Garten etwas zu schaffen zu machen. Zum Nachtische
trat der wahrhafte George herein und belebte die ganze Szene noch mehr.
Man wollte ihn wegen seiner Eifersucht aufziehen und nicht billigen, daß
er sich an mir einen Rival geschaffen hätte; allein er war bescheiden
und gewandt genug und mischte auf eine halb dusselige Weise sich, seine
Braut, sein Ebenbild und die Mamsells dergestalt durcheinander, daß man
zuletzt nicht mehr wußte, von wem die Rede war, und daß man ihn das
Glas Wein und ein Stück von seinem eignen Kuchen in Ruhe gar zu gern
verzehren ließ. Nach
Tische war die Rede, daß man spazieren gehen wolle; welches doch in
meinen Bauerkleidern nicht wohl anging. Die Frauenzimmer aber hatten
schon heute früh, als sie erfuhren, wer so übereilt fortgelaufen war,
sich erinnert, daß eine schöne Pekesche eines Vettern im Schrank hänge,
mit der er, bei seinem Hiersein, auf die Jagd zu gehen pflege. Allein
ich lehnte es ab, äußerlich zwar mit allerlei Späßen, aber innerlich
mit dem eitlen Gefühl, daß ich den guten Eindruck, den ich als Bauer
gemacht, nicht wieder durch den Vetter zerstören wolle. Der Vater hatte
sich entfernt, sein Mittagsschläfchen zu halten, die Mutter war in der
Haushaltung beschäftigt wie immer. Der Freund aber tat den Vorschlag,
ich solle etwas erzählen, worein ich sogleich willigte. Wir begaben uns
in eine geräumige Laube, und ich trug ein Märchen vor, das ich hernach
unter dem Titel "Die neue Melusine" aufgeschrieben habe. Es
verhält sich zum "Neuen Paris" wie ungefähr der Jüngling
zum Knaben, und ich würde es hier einrücken, wenn ich nicht der ländlichen
Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefällig umgibt, durch
wunderliche Spiele der Phantasie zu schaden fürchtete. Genug, mir
gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Produktionen belohnt, die
Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung
undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen,
durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu
verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren
und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen
und heitern Scherz das Gemüt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff
zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu
hinterlassen. Sollte
jemand künftig dieses Märchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine
solche Wirkung habe hervorbringen können; so bedenke derselbe, daß der
Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben
ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges
Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den
Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die
Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es,
welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben
lassen. Mir war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte Redseligkeit
angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles, was die Einbildungskraft
hervorbringen, fassen kann, heiter und kräftig darzustellen, bekannte Märchen
aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu
erfinden. Durch jene väterliche Mitgift wurde ich der Gesellschaft
mehrenteils unbequem: denn wer mag gern die Meinungen und Gesinnungen
des andern hören, besonders eines Jünglings, dessen Urteil, bei lückenhafter
Erfahrung, immer unzulänglich erscheint. Meine Mutter hingegen hatte
mich zur gesellschaftlichen Unterhaltung eigentlich recht ausgestattet.
Das leerste Märchen hat für die Einbildungskraft schon einen hohen
Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen. Durch
solche Darstellungen, die mich gar nichts kosteten, machte ich mich bei
Kindern beliebt, erregte und ergetzte die Jugend und zog die
Aufmerksamkeit älterer Personen auf mich. Nur mußte ich in der Sozietät,
wie sie gewöhnlich ist, solche Übungen gar bald einstellen, und ich
habe nur zu sehr an Lebensgenuß und freier Geistesförderung dadurch
verloren; doch begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs
ganze Leben, mit einer dritten verbunden, mit dem Bedürfnis, mich figürlich
und gleichnisweise auszudrücken. In Rücksicht dieser Eigenschaften,
welche der so einsichtige als geistreiche Doktor Gall, nach seiner
Lehre, an mir anerkannte, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum
Volksredner geboren. Über diese Eröffnung erschrak ich nicht wenig:
denn hätte sie wirklich Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation
nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider
ein verfehlter Beruf gewesen.
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Wolfgang
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