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Johann Wolfgang
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Neuntes Buch"Das
Herz wird ferner öfters zum Vorteil verschiedener, besonders geselliger
und feiner Tugenden gerührt und die zarteren Empfindungen werden in ihm
erregt und entwickelt werden. Besonders werden sich viele Züge eindrücken,
welche dem jungen Leser eine Einsicht in den verborgenern Winkel des
menschlichen Herzens und seiner Leidenschaften geben, eine Kenntnis, die
mehr als alles Latein und Griechisch wert ist, und von welcher Ovid ein
gar vortrefflicher Meister war. Aber dies ist es noch nicht, warum man
eigentlich der Jugend die alten Dichter, und also auch den Ovid, in die
Hände gibt. Wir haben von dem gütigen Schöpfer eine Menge Seelenkräfte,
welchen man ihre gehörige Kultur, und zwar in den ersten Jahren gleich,
zu geben nicht verabsäumen muß, und die man doch weder mit Logik noch
Metaphysik, Latein oder Griechisch kultivieren kann: wir haben eine
Einbildungskraft, der wir, wofern sie sich nicht der ersten besten
Vorstellungen selbst bemächtigen soll, die schicklichsten und schönsten
Bilder vorlegen und dadurch das Gemüt gewöhnen und üben müssen, das
Schöne überall und in der Natur selbst, unter seinen bestimmten,
wahren und auch in den feineren Zügen zu erkennen und zu lieben. Wir
haben eine Menge Begriffe und allgemeine Kenntnisse nötig, sowohl für
die Wissenschaften als für das tägliche Leben, die sich in keinem
Kompendio erlernen lassen. Unsere Empfindungen, Neigungen,
Leidenschaften sollen mit Vorteil entwickelt und gereinigt werden.
" Diese
bedeutende Stelle, welche sich in der "Allgemeinen deutschen
Bibliothek " vorfand, war nicht die einzige in ihrer Art. Von gar
vielen Seiten her offenbarten sich ähnliche Grundsätze und gleiche
Gesinnungen. Sie machten auf uns rege Jünglinge sehr großen Eindruck,
der um desto entschiedener wirkte, als er durch Wielands Beispiel noch
verstärkt wurde: denn die Werke seiner zweiten, glänzenden Epoche
bewiesen klärlich, daß er sich nach solchen Maximen gebildet hatte.
Und was konnten wir mehr verlangen? Die Philosophie mit ihren abstrusen
Forderungen war beseitigt, die alten Sprachen, deren Erlernung mit so
viel Mühseligkeit verknüpft ist, sah man in den Hintergrund gerückt,
die Kompendien, über deren Zulänglichkeit uns Hamlet schon ein
bedenkliches Wort ins Ohr geraunt hatte, wurden immer verdächtiger, man
wies uns auf die Betrachtung eines bewegten Lebens hin, das wir so gerne
führten, und auf die Kenntnis der Leidenschaften, die wir in unserem
Busen teils empfanden, teils ahndeten, und die, wenn man sie sonst
gescholten hatte, uns nunmehr als etwas Wichtiges und Würdiges
vorkommen mußten, weil sie der Hauptgegenstand unserer Studien sein
sollten, und die Kenntnis derselben als das vorzüglichste
Bildungsmittel unserer Geisteskräfte angerühmt ward. Überdies war
eine solche Denkweise meiner eignen Überzeugung, ja meinem poetischen
Tun und Treiben ganz angemessen. Ich fügte mich daher ohne
Widerstreben, nachdem ich so manchen guten Vorsatz vereitelt, so manche
redliche Hoffnung verschwinden sehn, in die Absicht meines Vaters, mich
nach Straßburg zu schicken, wo man mir ein heiteres lustiges Leben
versprach, indessen ich meine Studien weiter fortsetzen und am Ende
promovieren sollte. Im
Frühjahr fühlte ich meine Gesundheit, noch mehr aber meinen
jugendlichen Mut wieder hergestellt, und sehnte mich abermals aus meinem
väterlichen Hause, obgleich aus ganz andern Ursachen als das erstemal:
denn es waren mir diese hübschen Zimmer und Räume, wo ich so viel
gelitten hatte, unerfreulich geworden, und mit dem Vater selbst konnte
sich kein angenehmes Verhältnis anknüpfen; ich konnte ihm nicht ganz
verzeihen, daß er, bei den Rezidiven meiner Krankheit und bei dem
langsamen Genesen, mehr Ungeduld als billig sehen lassen, ja daß er,
anstatt durch Nachsicht mich zu trösten, sich oft auf eine grausame
Weise über das, was in keines Menschen Hand lag, geäußert, als wenn
es nur vom Willen abhinge. Aber auch er ward auf mancherlei Weise durch
mich verletzt und beleidigt. Denn
junge Leute bringen von Akademien allgemeine Begriffe zurück, welches
zwar ganz recht und gut ist; allein weil sie sich darin sehr weise dünken,
so legen sie solche als Maßstab an die vorkommenden Gegenstände,
welche denn meistens dabei verlieren müssen. So hatte ich von der
Baukunst, der Einrichtung und Verzierung der Häuser eine allgemeine
Vorstellung gewonnen, und wendete diese nun unvorsichtig im Gespräch
auf unser eigen Haus an. Mein Vater hatte die ganze Einrichtung ersonnen
und den Bau mit großer Standhaftigkeit durchgeführt, und es ließ sich
auch, insofern es eine Wohnung für ihn und seine Familie ausschließlich
sein sollte, nichts dagegen einwenden; auch waren in diesem Sinne sehr
viele Häuser von Frankfurt gebaut. Die Treppe ging frei hinauf und berührte
große Vorsäle, die selbst recht gut hätten Zimmer sein können; wie
wir denn auch die gute Jahreszeit immer daselbst zubrachten. Allein
dieses anmutige heitere Dasein einer einzelnen Familie, diese
Kommunikation von oben bis unten ward zur größten Unbequemlichkeit,
sobald mehrere Partien das Haus bewohnten, wie wir bei Gelegenheit der
französischen Einquartierung nur zu sehr erfahren hatten. Denn jene ängstliche
Szene mit dem Königslieutenant wäre nicht vorgefallen, ja mein Vater hätte
weniger von allen Unannehmlichkeiten empfunden, wenn unsere Treppe, nach
der Leipziger Art, an die Seite gedrängt, und jedem Stockwerk eine
abgeschlossene Türe zugeteilt gewesen wäre. Diese Bauart rühmte ich
einst höchlich und setzte ihre Vorteile heraus, zeigte dem Vater die Möglichkeit,
auch seine Treppe zu verlegen, worüber er in einen unglaublichen Zorn
geriet, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnörkelhafte
Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte.
Es gab eine Szene, welche, zwar wieder getuscht und ausgeglichen, doch
meine Reise nach dem schönen Elsaß beschleunigte, die ich denn auch,
auf der neu eingerichteten bequemen Diligence, ohne Aufenthalt und in
kurzer Zeit vollbrachte. Ich
war im Wirtshaus "Zum Geist " abgestiegen und eilte sogleich,
das sehnlichste Verlangen zu befriedigen und mich dem Münster zu nähern,
welcher durch Mitreisende mir schon lange gezeigt und eine ganze Strecke
her im Auge geblieben war. Als ich nun erst durch die schmale Gasse
diesen Koloß gewahrte, sodann aber auf dem freilich sehr engen Platz
allzu nah vor ihm stand, machte derselbe auf mich einen Eindruck ganz
eigner Art, den ich aber, auf der Stelle zu entwickeln unfähig, für
diesmal nur dunkel mit mir nahm, indem ich das Gebäude eilig bestieg,
um nicht den schönen Augenblick einer hohen und heitern Sonne zu versäumen,
welche mir das weite reiche Land auf einmal offenbaren sollte. Und so
sah ich denn von der Plattform die schöne Gegend vor mir, in welcher
ich eine Zeitlang wohnen und hausen durfte: die ansehnliche Stadt, die
weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und
durchflochtenen Auen, diesen auffallenden Reichtum der Vegetation, der,
dem Laufe des Rheins folgend, die Ufer, Inseln und Werder bezeichnet.
Nicht weniger mit mannigfaltigem Grün geschmückt ist der von Süden
herab sich ziehende flache Grund, welchen die Iller bewässert; selbst
westwärts, nach dem Gebirge zu, finden sich manche Niederungen, die
einen ebenso reizenden Anblick von Wald und Wiesenwuchs gewähren, so
wie der nördliche mehr hügelige Teil von unendlichen kleinen Bächen
durchschnitten ist, die überall ein schnelles Wachstum begünstigen.
Denkt man sich nun zwischen diesen üppig ausgestreckten Matten,
zwischen diesen fröhlich ausgesäeten Hainen alles zum Fruchtbau
schickliche Land trefflich bearbeitet, grünend und reifend, und die
besten und reichsten Stellen desselben durch Dörfer und Meierhöfe
bezeichnet, und eine solche große und unübersehliche, wie ein neues
Paradies für den Menschen recht vorbereitete Fläche näher und ferner
von teils angebauten, teils waldbewachsenen Bergen begrenzt; so wird man
das Entzücken begreifen, mit dem ich mein Schicksal segnete, das mir für
einige Zeit einen so schönen Wohnplatz bestimmt hatte. Ein solcher
frischer Anblick in ein neues Land, in welchem wir uns eine Zeitlang
aufhalten sollen, hat noch das Eigne, so Angenehme als Ahndungsvolle, daß
das Ganze wie eine unbeschriebene Tafel vor uns liegt. Noch sind keine
Leiden und Freuden, die sich auf uns beziehen, darauf verzeichnet; diese
heitre, bunte, belebte Fläche ist noch stumm für uns; das Auge haftet
nur an den Gegenständen, insofern sie an und für sich bedeutend sind,
und noch haben weder Neigung noch Leidenschaft diese oder jene Stelle
besonders herauszuheben; aber eine Ahndung dessen, was kommen wird,
beunruhigt schon das junge Herz, und ein unbefriedigtes Bedürfnis
fordert im stillen dasjenige, was kommen soll und mag, und welches auf
alle Fälle, es sei nun Wohl oder Weh, unmerklich den Charakter der
Gegend, in der wir uns befinden, annehmen wird. Herabgestiegen
von der Höhe, verweilte ich noch eine Zeitlang vor dem Angesicht des
ehrwürdigen Gebäudes; aber was ich mir weder das erstemal noch in der
nächsten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß ich dieses
Wunderwerk als ein Ungeheures gewahrte, das mich hätte erschrecken müssen,
wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein
Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre. Ich beschäftigte mich
doch keineswegs, diesem Widerspruch nachzudenken, sondern ließ ein so
erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken. Ich
bezog ein kleines, aber wohlgelegenes und anmutiges Quartier an der
Sommerseite des Fischmarkts, einer schönen langen Straße, wo immerwährende
Bewegung jedem unbeschäftigten Augenblick zu Hülfe kam. Dann gab ich
meine Empfehlungsschreiben ab, und fand unter meinen Gönnern einen
Handelsmann, der mit seiner Familie jenen frommen, mir genugsam
bekannten Gesinnungen ergeben war, ob er sich gleich, was den äußeren
Gottesdienst betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabei
ein verständiger Mann und keineswegs kopfhängerisch in seinem Tun und
Lassen. Die Tischgesellschaft, die man mir und der man mich empfahl, war
sehr angenehm und unterhaltend. Ein paar alte Jungfrauen hatten diese
Pension schon lange mit Ordnung und gutem Erfolg geführt; es konnten
ungefähr zehen Personen sein, ältere und jüngere. Von diesen letztern
ist mir am gegenwärtigsten einer, genannt Meyer, von Lindau gebürtig.
Man hätte ihn, seiner Gestalt und seinem Gesicht nach, für den schönsten
Menschen halten können, wenn er nicht zugleich etwas Schlottriges in
seinem ganzen Wesen gehabt hätte. Ebenso wurden seine herrlichen
Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtsinn, und sein köstliches
Gemüt durch eine unbändige Liederlichkeit verunstaltet. Er hatte ein
mehr rundes als ovales, offnes, frohes Gesicht; die Werkzeuge der Sinne,
Augen, Nase, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, sie zeugten von einer
entschiedenen Fülle, ohne übertrieben groß zu sein. Der Mund
besonders war allerliebst durch übergeschlagene Lippen, und seiner
ganzen Physiognomie gab es einen eigenen Ausdruck, daß er ein Rätzel
war, d.h. daß seine Augenbrauen über der Nase zusammenstießen,
welches bei einem schönen Gesichte immer einen angenehmen Ausdruck von
Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialität, Aufrichtigkeit und Gutmütigkeit
machte er sich bei allen Menschen beliebt; sein Gedächtnis war
unglaublich, die Aufmerksamkeit in den Kollegien kostete ihm nichts; er
behielt alles, was er hörte, und war geistreich genug, an allem einiges
Interesse zu finden, und um so leichter, da er Medizin studierte. Alle
Eindrücke blieben ihm lebhaft, und sein Mutwille in Wiederholung der
Kollegien und Nachäffen der Professoren ging manchmal so weit, daß,
wenn er drei verschiedene Stunden des Morgens gehört hatte, er mittags
bei Tische paragraphenweis, ja manchmal noch abgebrochener, die
Professoren mit einander abwechseln ließ: welche buntscheckige
Vorlesung uns oft unterhielt, oft aber auch beschwerlich fiel. Die übrigen
waren mehr oder weniger feine, gesetzte, ernsthafte Leute. Ein
pensionierter Ludwigsritter befand sich unter denselben; doch waren
Studierende die Überzahl, alle wirklich gut und wohlgesinnt, nur mußten
sie ihr gewöhnliches Weindeputat nicht überschreiten. Daß dieses
nicht leicht geschah, war die Sorge unseres Präsidenten, eines Doktor
Salzmann. Schon in den Sechzigen, unverheiratet, hatte er diesen
Mittagstisch seit vielen Jahren besucht und in Ordnung und Ansehen
erhalten. Er besaß ein schönes Vermögen; in seinem Äußeren hielt er
sich knapp und nett, ja er gehörte zu denen, die immer in Schuh und Strümpfen
und den Hut unter dem Arm gehen. Den Hut aufzusetzen, war bei ihm eine
außerordentliche Handlung. Einen Regenschirm führte er gewöhnlich mit
sich, wohl eingedenk, daß die schönsten Sommertage oft Gewitter und
Streifschauer über das Land bringen. Mit
diesem Manne beredete ich meinen Vorsatz, mich hier in Straßburg der
Rechtswissenschaft ferner zu befleißigen, um baldmöglichst promovieren
zu können. Da er von allem genau unterrichtet war, so befragte ich ihn
über die Kollegja, die ich zu hören hätte, und was er allenfalls von
der Sache denke? Darauf erwiderte er mir, daß es sich in Straßburg
nicht etwa wie auf deutschen Akademien verhalte, wo man wohl Juristen im
weiten und gelehrten Sinne zu bilden suche. Hier sei alles, dem Verhältnis
gegen Frankreich gemäß, eigentlich auf das Praktische gerichtet und
nach dem Sinne der Franzosen eingeleitet, welche gern bei dem Gegebnen
verharren. Gewisse allgemeine Grundsätze, gewisse Vorkenntnisse suche
man einem jeden beizubringen, man fasse sich so kurz wie möglich und überliefere
nur das Notwendigste. Er machte mich darauf mit einem Manne bekannt, zu
dem man, als Repetenten, ein großes Vertrauen hegte; welches dieser
sich auch bei mir sehr bald zu erwerben wußte. Ich fing an, mit ihm zur
Einleitung über Gegenstände der Rechtswissenschaft zu sprechen, und er
wunderte sich nicht wenig über mein Schwadronieren: denn mehr, als ich
in meiner bisherigen Darstellung aufzuführen Gelegenheit nahm, hatte
ich bei meinem Aufenthalte in Leipzig an Einsicht in die
Rechtserfordernisse gewonnen, obgleich mein ganzer Erwerb nur als ein
allgemeiner enzyklopädischer Überblick, und nicht als eigentliche
bestimmte Kenntnis gelten konnte. Das akademische Leben, wenn wir uns
auch bei demselben des eigentlichen Fleißes nicht zu rühmen haben, gewährt
doch in jeder Art von Ausbildung unendliche Vorteile, weil wir stets von
Menschen umgeben sind, welche die Wissenschaft besitzen oder suchen, so
daß wir aus einer solchen Atmosphäre, wenn auch unbewußt, immer
einige Nahrung ziehen. Mein
Repetent, nachdem er mit meinem Umhervagieren im Diskurse einige Zeit
Geduld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich, daß ich vor allen Dingen
meine nächste Absicht im Auge behalten müsse, die nämlich, mich
examinieren zu lassen, zu promovieren und alsdann allenfalls in die
Praxis überzugehen. "Um bei dem ersten stehen zu bleiben ",
sagte er, "so wird die Sache keineswegs im Weiten gesucht. Es wird
nicht nachgefragt, wie und wo ein Gesetz entsprungen, was die innere
oder äußere Veranlassung dazu gegeben; man untersucht nicht, wie es
sich durch Zeit und Gewohnheit abgeändert, so wenig als inwiefern es
sich durch falsche Auslegung oder verkehrten Gerichtsbrauch vielleicht
gar umgewendet. In solchen Forschungen bringen gelehrte Männer ganz
eigens ihr Leben zu; wir aber fragen nach dem, was gegenwärtig besteht,
dies prägen wir unserm Gedächtnis fest ein, daß es uns stets gegenwärtig
sei, wenn wir uns dessen zu Nutz und Schutz unsrer Klienten bedienen
wollen. So statten wir unsre jungen Leute fürs nächste Leben aus, und
das Weitere findet sich nach Verhältnis ihrer Talente und ihrer Tätigkeit.
" Er übergab mir hierauf seine Hefte, welche in Fragen und
Antworten geschrieben waren und woraus ich mich sogleich ziemlich konnte
examinieren lassen, weil Hoppes kleiner juristischer Katechismus mir
noch vollkommen im Gedächtnis stand; das übrige supplierte ich mit
einigem Fleiße und qualifizierte mich, wider meinen Willen, auf die
leichteste Art zum Kandidaten. Da mir aber auf diesem Wege jede eigne Tätigkeit
in dem Studium abgeschnitten ward: denn ich hatte für nichts Positives
einen Sinn, sondern wollte alles, wo nicht verständig, doch historisch
erklärt haben; so fand ich für meine Kräfte einen größern
Spielraum, den ich auf die wunderlichste Weise benutzte, indem ich einem
Interesse nachgab, das mir zufällig von außen gebracht wurde. Die
meisten meiner Tischgenossen waren Mediziner. Diese sind, wie bekannt,
die einzigen Studierenden, die sich von ihrer Wissenschaft, ihrem
Metier, auch außer den Lehrstunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es
liegt dieses in der Natur der Sache. Die Gegenstände ihrer Bemühungen
sind die sinnlichsten und zugleich die höchsten, die einfachsten und
die kompliziertesten. Die Medizin beschäftigt den ganzen Menschen, weil
sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt. Alles, was der Jüngling
lernt, deutet sogleich auf eine wichtige, zwar gefährliche, aber doch
in manchem Sinn belohnende Praxis. Er wirft sich daher mit Leidenschaft
auf das, was zu erkennen und zu tun ist, teils weil es ihn an sich
interessiert, teils weil es ihm die frohe Aussicht von Selbständigkeit
und Wohlhaben eröffnet. Bei
Tische also hörte ich nichts anderes als medizinische Gespräche, eben
wie vormals in der Pension des Hofrats Ludwig. Auf Spaziergängen und
bei Lustpartien kam auch nicht viel anderes zur Sprache: denn meine
Tischgesellen, als gute Kumpane, waren mir auch Gesellen für die übrige
Zeit geworden, und an sie schlossen sich jedesmal Gleichgesinnte und
Gleiches Studierende von allen Seiten an. Die medizinische Fakultät glänzte
überhaupt vor den übrigen, sowohl in Absicht auf die Berühmtheit der
Lehrer als die Frequenz der Lernenden, und so zog mich der Strom dahin,
um so leichter, als ich von allen diesen Dingen gerade so viel Kenntnis
hatte, daß meine Wissenslust bald vermehrt und angefeuert werden
konnte. Beim Eintritt des zweiten Semesters besuchte ich daher Chemie
bei Spielmann, Anatomie bei Lobstein, und nahm mir vor, recht fleißig
zu sein, weil ich bei unserer Sozietät, durch meine wunderlichen Vor-
oder vielmehr Überkenntnisse, schon einiges Ansehen und Zutrauen
erworben hatte. Doch
es war an dieser Zerstreuung und Zerstückelung meiner Studien nicht
genug, sie sollten abermals bedeutend gestört werden: denn eine merkwürdige
Staatsbegebenheit setzte alles in Bewegung und verschaffte uns eine
ziemliche Reihe Feiertage. Marie Antoinette, Erzherzogin von Österreich,
Königin von Frankreich, sollte auf ihrem Wege nach Paris über Straßburg
gehen. Die Feierlichkeiten, durch welche das Volk aufmerksam gemacht
wird, daß es Große in der Welt gibt, wurden emsig und häufig
vorbereitet, und mir besonders war dabei das Gebäude merkwürdig, das
zu ihrem Empfang und zur Übergabe in die Hände der Abgesandten ihres
Gemahls auf einer Rheininsel zwischen den beiden Brücken aufgerichtet
stand. Es war nur wenig über den Boden erhoben, hatte in der Mitte
einen großen Saal, an beiden Seiten kleinere, dann folgten andere
Zimmer, die sich noch etwas hinterwärts erstreckten; genug, es hätte,
dauerhafter gebaut, gar wohl für ein Lusthaus hoher Personen gelten können.
Was mich aber daran besonders interessierte, und weswegen ich manches Büsel
(ein kleines damals kurrentes Silberstück) nicht schonte, um mir von
dem Pförtner einen wiederholten Eintritt zu verschaffen, waren die
gewirkten Tapeten, mit denen man das Ganze inwendig ausgeschlagen hatte.
Hier sah ich zum erstenmal ein Exemplar jener nach Raffaels Kartonen
gewirkten Teppiche, und dieser Anblick war für mich von ganz
entschiedener Wirkung, indem ich das Rechte und Vollkommene, obgleich
nur nachgebildet, in Masse kennen lernte. Ich ging und kam und kam und
ging, und konnte mich nicht satt sehen; ja ein vergebliches Streben quälte
mich, weil ich das, was mich so außerordentlich ansprach, auch gern
begriffen hätte. Höchst erfreulich und erquicklich fand ich diese
Nebensäle, desto schrecklicher aber den Hauptsaal. Diesen hatte man mit
viel größern, glänzendere, reichem und von gedrängten Zieraten
umgebenen Hautelissen behängt, die nach Gemälden neuerer Franzosen
gewirkt waren. Nun
hätte ich mich wohl auch mit dieser Manier befreundet, weil meine
Empfindung wie mein Urteil nicht leicht etwas völlig ausschloß; aber
äußerst empörte mich der Gegenstand. Diese Bilder enthielten die
Geschichte von Iason, Medea und Kreusa, und also ein Beispiel der unglücklichsten
Heirat. Zur Linken des Throns sah man die mit dem grausamsten Tode
ringende Braut, umgeben von jammervollen Teilnehmenden; zur Rechten
entsetzte sich der Vater über die ermordeten Kinder zu seinen Füßen;
während die Furie auf dem Drachenwagen in die Luft zog. Und damit ja
dem Grausamen und Abscheulichen nicht auch ein Abgeschmacktes fehle, so
ringelte sich, hinter dem roten Samt des goldgestickten Thronrückens,
rechter Hand der weiße Schweif jenes Zauberstiers hervor, inzwischen
die feuerspeiende Bestie selbst und der sie bekämpfende Iason von jener
kostbaren Draperie gänzlich bedeckt waren. Hier
nun wurden alle Maximen, welche ich in Oesers Schule mir zu eigen
gemacht, in meinem Busen rege. Daß man Christum und die Apostel in die
Seitensäle eines Hochzeitgebäudes gebracht, war schon ohne Wahl und
Einsicht geschehen, und ohne Zweifel hatte das Maß der Zimmer den königlichen
Teppichverwahrer geleitet; allein das verzieh ich gern, weil es mir zu
so großem Vorteil gereichte: nun aber ein Mißgriff wie der im großen
Saale brachte mich ganz aus der Fassung, und ich forderte, lebhaft und
heftig, meine Gefährten zu Zeugen auf eines solchen Verbrechens gegen
Geschmack und Gefühl. - "Was! " rief ich aus, ohne mich um
die Umstehenden zu bekümmern; "ist es erlaubt, einer jungen Königin
das Beispiel der gräßlichsten Hochzeit, die vielleicht jemals
vollzogen worden, bei dem ersten Schritt in ihr Land so unbesonnen vors
Auge zu bringen! Gibt es denn unter den französischen Architekten,
Dekorateuren, Tapezierern gar keinen Menschen, der begreift, daß Bilder
etwas vorstellen, daß Bilder auf Sinn und Gefühl wirken, daß sie
Eindrücke machen, daß sie Ahndungen erregen! Ist es doch nicht anders,
als hätte man dieser schönen und, wie man hört, lebenslustigen Dame
das abscheulichste Gespenst bis an die Grenze entgegengeschickt. "
Ich weiß nicht, was ich noch alles weiter sagte, genug, meine Gefährten
suchten mich zu beschwichtigen und aus dem Hause zu schaffen, damit es
nicht Verdruß setzen möchte. Alsdann versicherten sie mir, es wäre
nicht jedermanns Sache, Bedeutung in den Bildern zu suchen; ihnen
wenigstens wäre nichts dabei eingefallen, und auf dergleichen Grillen würde
die ganze Population Straßburgs und der Gegend, wie sie auch herbeiströmen
sollte, so wenig als die Königin selbst mit ihrem Hofe jemals geraten. Der
schönen und vornehmen, so heitren als imposanten Miene dieser jungen
Dame erinnere ich mich noch recht wohl. Sie schien in ihrem Glaswagen,
uns allen vollkommen sichtbar, mit ihren Begleiterinnen in vertraulicher
Unterhaltung über die Menge, die ihrem Zug entgegenströmte, zu
scherzen. Abends zogen wir durch die Straßen, um die verschiedenen
illuminierten Gebäude, besonders aber den brennenden Gipfel des Münsters
zu sehen, an dem wir, sowohl in der Nähe als in der Ferne, unsere Augen
nicht genugsam weiden konnten. Die
Königin verfolgte ihren Weg; das Landvolk verlief sich, und die Stadt
war bald ruhig wie vorher. Vor Ankunft der Königin hatte man die ganz
vernünftige Anordnung gemacht, daß sich keine mißgestalteten
Personen, keine Krüppel und ekelhafte Kranke auf ihrem Wege zeigen
sollten. Man scherzte hierüber, und ich machte ein kleines französisches
Gedicht, worin ich die Ankunft Christi, welcher besonders der Kranken
und Lahmen wegen auf der Welt zu wandeln schien, und die Ankunft der Königin,
welche diese Unglücklichen verscheuchte, in Vergleichung brachte. Meine
Freunde ließen es passieren; ein Franzose hingegen, der mit uns lebte,
kritisierte sehr unbarmherzig Sprache und Versmaß, obgleich, wie es
schien, nur allzu gründlich, und ich erinnere mich nicht, nachher je
wieder ein französisches Gedicht gemacht zu haben. Kaum
erscholl aus der Hauptstadt die Nachricht von der glücklichen Ankunft
der Königin, als eine Schreckenspost ihr folgte: bei dem festlichen
Feuerwerke sei, durch ein Polizeiversehen, in einer von Baumaterialien
versperrten Straße eine Unzahl Menschen mit Pferden und Wagen zu Grunde
gegangen, und die Stadt bei diesen Hochzeitfeierlichkeiten in Trauer und
Leid versetzt worden. Die Größe des Unglücks suchte man sowohl dem
jungen königlichen Paare als der Welt zu verbergen, indem man die
umgekommenen Personen heimlich begrub, so daß viele Familien nur durch
das völlige Außenbleiben der Ihrigen überzeugt wurden, daß auch
diese von dem schrecklichen Ereignis mit hingerafft seien. Daß mir
lebhaft bei dieser Gelegenheit jene gräßlichen Bilder des Hauptsaales
wieder vor die Seele traten, brauche ich kaum zu erwähnen: denn jedem
ist bekannt, wie mächtig gewisse sittliche Eindrücke sind, wenn sie
sich an sinnlichen gleichsam verkörpern. Diese
Begebenheit sollte jedoch auch die Meinigen durch eine Posse, die ich
mir erlaubte, in Angst und Not versetzen. Unter uns jungen Leuten, die
wir in Leipzig zusammen waren, hatte sich auch nachher ein gewisser
Kitzel erhalten, einander etwas aufzubinden und wechselsweise zu
mystifzieren. In solchem frevelhaften Mutwillen schrieb ich an einen
Freund in Frankfurt (es war derselbe, der mein Gedicht an den Kuchenbäcker
Hendel amplifiziert auf "Medon " angewendet und dessen
allgemeine Verbreitung verursacht hatte) einen Brief von Versailles aus
datiert, worin ich ihm meine glückliche Ankunft daselbst, meine
Teilnahme an den Feierlichkeiten, und was dergleichen mehr war,
vermeldete, ihm zugleich aber das strengste Stillschweigen gebot. Dabei
muß ich noch bemerken, daß unsere kleine Leipziger Sozietät von jenem
Streich an, der uns so manchen Verdruß gemacht, sich angewöhnt hatte,
ihn von Zeit zu Zeit mit Mystifikationen zu verfolgen, und das um so
mehr, da er der drolligste Mensch von der Welt war, und niemals liebenswürdiger,
als wenn er den Irrtum entdeckte, in den man ihn vorsätzlich hineingeführt
hatte. Kurz darauf, als ich diesen Brief geschrieben, machte ich eine
kleine Reise und blieb wohl vierzehn Tage aus. Indessen war die
Nachricht jenes Unglücks nach Frankfurt gekommen; mein Freund glaubte
mich in Paris, und seine Neigung ließ ihn besorgen, ich sei in jenes
Unglück mit verwickelt. Er erkundigte sich bei meinen Eltern und andern
Personen, an die ich zu schreiben pflegte, ob keine Briefe angekommen,
und weil eben jene Reise mich verhinderte, dergleichen abzulassen, so
fehlten sie überall. Er ging in großer Angst umher und vertraute es
zuletzt unsern nächsten Freunden, die sich nun in gleicher Sorge
befanden. Glücklicherweise gelangte diese Vermutung nicht eher zu
meinen Eltern, als bis ein Brief angekommen war, der meine Rückkehr
nach Straßburg meldete. Meine jungen Freunde waren zufrieden, mich
lebendig zu wissen, blieben aber völlig überzeugt, daß ich in der
Zwischenzeit in Paris gewesen. Die herzlichen Nachrichten von den
Sorgen, die sie um meinetwillen gehabt, rührten mich dermaßen, daß
ich dergleichen Possen auf ewig verschwor, mir aber doch leider in der
Folge manchmal etwas Ähnliches habe zu Schulden kommen lassen. Das
wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es
manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß. Jener
gewaltige Hof- und Prachtstrom war nunmehr vorübergeronnen und hatte
mir keine andre Sehnsucht zurückgelassen, als nach jenen Raffaelschen
Teppichen, welche ich gern jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt, ja
angebetet hätte. Glücklicherweise gelang es meinen leidenschaftlichen
Bemühungen, mehrere Personen von Bedeutung dafür zu interessieren, so
daß sie erst so spät als möglich abgenommen und eingepackt wurden.
Wir überließen uns nunmehr wieder unserm stillen gemächlichen
Universitäts- und Gesellschaftsgang, und bei dem letzten blieb
Aktuarius Salzmann, unser Tischpräsident, der allgemeine Pädagog. Sein
Verstand, seine Nachgiebigkeit, so seine Würde, die er bei allem Scherz
und selbst manchmal bei kleinen Ausschweifungen, die er uns erlaubte,
immer zu erhalten wußte, machten ihn der ganzen Gesellschaft lieb und
wert, und ich wüßte nur wenige Fälle, wo er sein ernstliches Mißfallen
bezeigt, oder mit Autorität zwischen kleine Händel und Streitigkeiten
eingetreten wäre. Unter allen jedoch war ich derjenige, der sich am
meisten an ihn anschloß, und er nicht weniger geneigt, sich mit mir zu
unterhalten, weil er mich mannigfaltiger gebildet fand als die übrigen
und nicht so einseitig im Urteil. Auch richtete ich mich im Äußern
nach ihm, damit er mich für seinen Gesellen und Genossen öffentlich
ohne Verlegenheit erklären konnte: denn ob er gleich nur eine Stelle
bekleidete, die von geringem Einfluß zu sein scheint, so versah er sie
doch auf eine Weise, die ihm zur größten Ehre gereichte. Er war
Aktuarius beim Pupillenkollegium und hatte freilich daselbst, wie der
perpetuierliche Sekretär einer Akademie, eigentlich das Heft in Händen.
Indem er nun dieses Geschäft viele Jahre lang auf das genauste
besorgte, so gab es keine Familie von der ersten bis zu der letzten, die
ihm nicht Dank schuldig gewesen wäre; wie denn beinahe in der ganzen
Staatsverwaltung kaum jemand mehr Segen oder Fluch ernten kann als
einer, der für die Waisen sorgt, oder ihr Hab und Gut vergeudet, oder
vergeuden läßt. Die Straßburger sind leidenschaftliche Spaziergänger,
und sie haben wohl recht, es zu sein. Man mag seine Schritte hinwenden,
wohin man will, so findet man teils natürliche, teils in alten und
neuern Zeiten künstlich angelegte Lustörter, einen wie den andern
besucht und von einem heitern lustigen Völkchen genossen. Was aber hier
den Anblick einer großen Masse Spazierender noch erfreulicher machte
als an andern Orten, war die verschiedene Tracht des weiblichen
Geschlechts. Die Mittelklasse der Bürgermädchen behielt noch die
aufgewundenen, mit einer großen Nadel festgesteckten Zöpfe bei; nicht
weniger eine gewisse knappe Kleidungsart, woran jede Schleppe ein Mißstand
gewesen wäre; und was das Angenehme war, diese Tracht schnitt sich
nicht mit den Ständen scharf ab: denn es gab noch einige wohlhabende
vornehme Häuser, welche den Töchtern sich von diesem Kostüm zu
entfernen nicht erlauben wollten. Die übrigen gingen französisch, und
diese Partie machte jedes Jahr einige Proselyten. Salzmann hatte viel
Bekanntschaften und überall Zutritt; eine große Annehmlichkeit für
seinen Begleitenden, besonders im Sommer, weil man überall in Gärten
nah und fern gute Aufnahme, gute Gesellschaft und Erfrischung fand, auch
zugleich mehr als eine Einladung zu diesem oder jenem frohen Tage
erhielt. In einem solchen Falle traf ich Gelegenheit, mich einer
Familie, die ich erst zum zweiten Male besuchte, sehr schnell zu
empfehlen. Wir waren eingeladen und stellten uns zur bestimmten Zeit
ein. Die Gesellschaft war nicht groß, einige spielten und einige
spazierten wie gewöhnlich. Späterhin, als es zu Tische gehen sollte,
sah ich die Wirtin und ihre Schwester lebhaft und wie in einer besondern
Verlegenheit mit einander sprechen. Ich begegnete ihnen eben und sagte:
"Zwar habe ich kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre Geheimnisse
einzudringen; vielleicht bin ich aber imstande, einen guten Rat zu
geben, oder wohl gar zu dienen. " Sie eröffneten mir hierauf ihre
peinliche Lage: daß sie nämlich zwölf Personen zu Tische gebeten, und
in diesem Augenblick sei ein Verwandter von der Reise zurückgekommen,
der nun als der Dreizehnte, wo nicht sich selbst, doch gewiß einigen
der Gäste ein fatales Memento mori werden würde. - "Der Sache ist
sehr leicht abzuhelfen ", versetzte ich; "sie erlauben mir, daß
ich mich entferne und mir die Entschädigung vorbehalte. " Da es
Personen von Ansehen und guter Lebensart waren, so wollten sie es
keinesweges zugeben, sondern schickten in der Nachbarschaft umher, um
den Vierzehnten aufzufinden. Ich ließ es geschehen, doch da ich den
Bedienten unverrichteter Sache zur Gartentüre hereinkommen sah,
entwischte ich, und brachte meinen Abend vergnügt unter den alten
Linden der Wanzenau hin. Daß mir diese Entsagung reichlich vergolten
worden, war wohl eine natürliche Folge. Eine
gewisse allgemeine Geselligkeit läßt sich ohne das Kartenspiel nicht
mehr denken. Salzmann erneuerte die guten Lehren der Madame Böhme, und
ich war um so folgsamer, als ich wirklich eingesehen hatte, daß man
sich durch diese kleine Aufopferung, wenn es ja eine sein sollte,
manches Vergnügen, ja sogar eine größere Freiheit in der Sozietät
verschaffen könne, als man sonst genießen würde. Das alte
eingeschlafene Piquet wurde daher hervorgesucht; ich lernte Whist,
richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel ein,
welcher unter allen Umständen unantastbar sein sollte; und nun fand ich
Gelegenheit, mit meinem Freunde die meisten Abende in den besten Zirkeln
zuzubringen, wo man mir meistens wohlwollte, und manche kleine Unregelmäßigkeit
verzieh, auf die mich jedoch der Freund, wiewohl milde genug, aufmerksam
zu machen pflegte. Damit
ich aber dabei symbolisch erführe, wie sehr man sich auch im Äußern
in die Gesellschaft zu schicken und nach ihr zu richten hat, so ward ich
zu etwas genötigt, welches mir das Unangenehmste von der Welt schien.
Ich hatte zwar sehr schöne Haare, aber mein Straßburger Friseur
versicherte mir sogleich, daß sie viel zu tief nach hinten hin
verschnitten seien und daß es ihm unmöglich werde, daraus eine Frisur
zu bilden, in welcher ich mich produzieren dürfe, weil nur wenig kurze
und gekrauste Vorderhaare statuiert würden, alles übrige vom Scheitel
an in den Zopf oder Haarbeutel gebunden werden müsse. Hierbei bleibe
nun nichts übrig, als mir eine Haartour gefallen zu lassen, bis der natürliche
Wachstum sich wieder nach den Erfordernissen der Zeit hergestellt habe.
Er versprach mir, daß niemand diesen unschuldigen Betrug, gegen den ich
mich erst sehr ernstlich wehrte, jemals bemerken solle, wenn ich mich
sogleich dazu entschließen könnte. Er hielt Wort und ich galt immer für
den bestfrisierten und bestbehaarten jungen Mann. Da ich aber vom frühen
Morgen an so aufgestutzt und gepudert bleiben und mich zugleich in acht
nehmen mußte, nicht durch Erhitzung und heftige Bewegung den falschen
Schmuck zu verraten; so trug dieser Zwang wirklich viel bei, daß ich
mich eine Zeitlang ruhiger und gesitteter benahm, mir angewöhnte, mit
dem Hut unterm Arm und folglich auch in Schuh und Strümpfen zu gehen;
doch durfte ich nicht versäumen, feinlederne Unterstrümpfe zu tragen,
um mich gegen die Rheinschnacken zu sichern, welche sich an schönen
Sommerabenden über die Auen und Gärten zu verbreiten pflegen. War mir
nun unter diesen Umständen eine heftige körperliche Bewegung versagt,
so entfalteten sich unsere geselligen Gespräche immer lebhafter und
leidenschaftlicher, ja, sie waren die interessantesten, die ich bis
dahin jemals geführt hatte. Bei
meiner Art zu empfinden und zu denken kostete es mich gar nichts, einen
jeden gelten zu lassen für das, was er war, ja sogar für das, was er
gelten wollte, und so machte die Offenheit eines frischen jugendlichen
Mutes, der sich fast zum erstenmal in seiner vollen Blüte hervortat,
mir sehr viele Freunde und Anhänger. Unsere Tischgesellschaft vermehrte
sich wohl auf zwanzig Personen, und weil unser Salzmann bei seiner
hergebrachten Methode beharrte; so blieb alles im alten Gange, ja die
Unterhaltung ward beinahe schicklicher, indem sich ein jeder vor
mehreren in acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankömmlingen befand
sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hieß Jung, und
derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden.
Seine Gestalt, ungeachtet einer veralteten Kleidungsart, hatte, bei
einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Eine Haarbeutelperücke
entstellte nicht sein bedeutendes und gefälliges Gesicht. Seine Stimme
war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und
stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man
ihn näher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden
Menschenverstand, der auf dem Gemüt ruhte, und sich deswegen von
Neigungen und Leidenschaften bestimmen ließ, und aus eben diesem Gemüt
entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre, Rechte in möglichster
Reinheit. Denn der Lebensgang dieses Mannes war sehr einfach gewesen und
doch gedrängt an Begebenheiten und mannigfaltiger Tätigkeit. Das
Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an
eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer
ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller
Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige. Jung hatte dergleichen
Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, sie hatten sich selbst in
der neuern Zeit, in Straßburg, öfters wiederholt, so daß er mit der
größten Freudigkeit ein zwar mäßiges aber doch sorgloses Leben führte
und seinen Studien aufs ernstlichste oblag, wiewohl er auf kein sicheres
Auskommen von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In seiner
Jugend, auf dem Wege Kohlenbrenner zu werden, ergriff er das
Schneiderhandwerk, und nachdem er sich nebenher von höheren Dingen
selbst belehrt, so trieb ihn sein lehrlustiger Sinn zu einer
Schulmeisterstelle. Dieser Versuch mißlang, und er kehrte zum Handwerk
zurück, von dem er jedoch zu wiederholten Malen, weil jedermann für
ihn leicht Zutrauen und Neigung faßte, abgerufen ward, um abermals eine
Stelle als Hauslehrer zu übernehmen. Seine innerlichste und
eigentlichste Bildung aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu
danken, welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und, indem sie sich
durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter Bücher, durch
wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch
einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn
indem das Interesse, das sie stets begleitete und das sie in
Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten Grunde der Sittlichkeit,
des Wohlwollens und Wohltuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bei
Menschen von so beschränkten Zuständen vorkommen können, von geringer
Bedeutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewöhnlich
heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine wahrhaft natürliche
Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß sie allen
Altern und Ständen gemäß und ihrer Natur nach allgemein gesellig war;
deshalb auch diese Personen, in ihrem Kreise, wirklich beredt und fähig
waren, über alle Herzensangelegenheiten, die zartesten und tüchtigsten,
sich gehörig und gefällig auszudrücken. In demselben Falle nun war
der gute Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten,
doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklärten, fand
man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; besonders erzählte er
seine Lebensgeschichte auf das unmutigste, und wußte dem Zuhörer alle
Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn,
solche aufzuschreiben, und er versprach's. Weil er aber in seiner Art
sich zu äußern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf,
wenn er nicht von seiner Höhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man
nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll; so mußte er
sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich fühlen. Sein Glaube
duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er
in freundlicher Mitteilung unerschöpflich war; so stockte gleich alles
bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich
über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine
Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen
besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir
auch in ihrer Natürlichkeit und Nalivetät überhaupt wohl zusagte; so
konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines
Geistes war mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl
zustatten kam, ließ ich unangetastet. Auch Salzmann betrug sich
schonend gegen ihn; schonend, sage ich, weil Salzmann, seinem Charakter,
Wesen, Alter und Zuständen nach, auf der Seite der vernünftigen, oder
vielmehr verständigen Christen stehen und halten mußte, deren Religion
eigentlich auf der Rechtschaffenheit des Charakters und auf einer männlichen
Selbständigkeit beruhte, und die sich daher nicht gern mit
Empfindungen, die sie leicht ins Trübe, und Schwärmerei, die sie bald
ins Dunkle hätte führen können, abgaben und vermengten. Auch diese
Klasse war respektabel und zahlreich; alle ehrliche tüchtige Leute
verstanden sich und waren von gleicher Überzeugung sowie von gleichem
Lebensgang. Lerse,
ebenmäßig unser Tischgeselle, gehörte auch zu dieser Zahl; ein
vollkommen rechtlicher und bei beschränkten Glücksgütern mäßiger
und genauer junger Mann. Seine Lebens- und Haushaltungsweise war die
knappste, die ich unter Studierenden je kannte. Er trug sich am
saubersten von uns allen, und doch erschien er immer in denselben
Kleidern; aber er behandelte auch seine Garderobe mit der größten
Sorgfalt, er hielt seine Umgebung reinlich, und so verlangte er auch
nach seinem Beispiel alles im gemeinen Leben. Es begegnete ihm nicht, daß
er sich irgendwo angelehnt oder seinen Ellbogen auf den Tisch gestemmt hätte;
niemals vergaß er, seine Serviette zu zeichnen, und der Magd geriet es
immer zum Unheil, wenn die Stühle nicht höchst sauber gefunden wurden.
Bei allem diesen hatte er nichts Steifes in seinem Äußeren. Er sprach
treuherzig, bestimmt und trocken lebhaft, wobei ein leichter ironischer
Scherz ihn gar wohl kleidete. An Gestalt war er gut gebildet, schlank
und von ziemlicher Größe, sein Gesicht pockennarbig und unscheinbar,
seine kleinen blauen Augen heiter und durchdringend. Wenn er uns nun von
so mancher Seite zu hofmeistern Ursache hatte, so ließen wir ihn auch
noch außerdem für unsern Fechtmeister gelten: denn er führte ein sehr
gutes Rapier, und es schien ihm Spaß zu machen, bei dieser Gelegenheit
alle Pedanterie dieses Metiers an uns auszuüben. Auch profitierten wir
bei ihm wirklich und mußten ihm dankbar sein für manche gesellige
Stunde, die er uns in guter Bewegung und Übung verbringen hieß. Durch
alle diese Eigenschaften qualifizierte sich nun Lerse völlig zu der
Stelle eines Schieds- und Kampfrichters bei allen kleinen und größern
Händeln, die in unserm Kreise, wiewohl selten, vorfielen, und welche
Salzmann auf seine väterliche Art nicht beschwichtigen konnte. Ohne die
äußeren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten,
stellten wir eine durch Umstände und guten Willen geschlossene
Gesellschaft vor, die wohl mancher andere zufällig berühren, aber sich
nicht in dieselbe eindrängen konnte. Bei Beurteilung nun innerer
Verdrießlichkeiten zeigte Lerse stets die größte Unparteilichkeit,
und wußte, wenn der Handel nicht mehr mit Worten und Erklärungen
ausgemacht werden konnte, die zu erwartende Genugtuung auf ehrenvolle
Weise ins Unschädliche zu leiten. Hiezu war wirklich kein Mensch
geschickter als er; auch pflegte er oft zu sagen, da ihn der Himmel
weder zu einem Kriegs- noch Liebeshelden bestimmt habe, so wolle er
sich, im Romanen- und Fechtersinn, mit der Rolle des Sekundanten begnügen.
Da er sich nun durchaus gleich blieb und als ein rechtes Muster einer
guten und beständigen Sinnesart angesehen werden konnte, so prägte
sich der Begriff von ihm so tief als liebenswürdig bei mir ein, und als
ich den "Götz von Berlichingen " schrieb, fühlte ich mich
veranlaßt, unserer Freundschaft ein Denkmal zu setzen und der wackern
Figur, die sich auf so eine würdige Art zu subordinieren weiß, den
Namen Franz Lerse zu geben. Indes
er nun mit seiner fortgesetzten humoristischen Trockenheit uns immer zu
erinnern wußte, was man sich und andern schuldig sei, und wie man sich
einzurichten habe, um mit den Menschen so lange als möglich in Frieden
zu leben, und sich deshalb gegen sie in einige Positur zu setzen; so
hatte ich innerlich und äußerlich mit ganz andern Verhältnissen und
Gegnern zu kämpfen, indem ich mit mir selbst, mit den Gegenständen, ja
mit den Elementen im Streit lag. Ich befand mich in einem
Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und
sollte, hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit
übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ. Ein
starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir
Ekel und Abscheu. Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich
jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen
Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren
wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich
neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das
Herz im Busen hätten zersprengen mögen. Ich erstieg ganz allein den höchsten
Gipfel des Münsterturms, und saß in dem sogenannten Hals, unter dem
Knopf oder der Krone, wie man's nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis
ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf
einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich
sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich
sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zieraten die Kirche und
alles, worauf und worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als
wenn man sich auf einer Montgolfiere in die Luft erhoben sähe.
Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir
ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und
geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um
die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes
herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagetücke ausüben muß, um
bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen
Vorteil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt wert, weil
sie mich den widerwärtigsten Anblick ertragen lehrte, indem sie meine
Wißbegierde befriedigte. Und so besuchte ich auch das Klinikum des
altern Doktor Ehrmann, sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines
Sohns, in der doppelten Absicht, alle Zustände kennen zu lernen und
mich von aller Apprehension gegen widerwärtige Dinge zu befreien. Ich
habe es auch wirklich darin so weit gebracht, daß nichts dergleichen
mich jemals aus der Fassung setzen konnte. Aber nicht allein gegen diese
sinnlichen Eindrücke, sondern auch gegen die Anfechtungen der
Einbildungskraft suchte ich mich zu stählen. Die ahndungs- und
schauervollen Eindrücke der Finsternis, der Kirchhöfe, einsamer Örter,
nächtlicher Kirchen und Kapellen und was hiemit verwandt sein mag, wußte
ich mir ebenfalls gleichgültig zu machen; und auch darin brachte ich es
so weit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal völlig gleich war, ja
daß, als in später Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher
Umgebung die angenehmen Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese in mir
kaum durch die seltsamsten und fürchterlichsten Bilder, die ich
hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte. Dieser
Bemühung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernsten und Mächtigen
zu befreien, was in mir fortwaltete, und mir bald als Kraft bald als
Schwäche erschien, kam durchaus jene freie, gesellige, bewegliche
Lebensart zu Hülfe, welche mich immer mehr anzog, an die ich mich gewöhnte,
und zuletzt derselben mit voller Freiheit genießen lernte. Es ist in
der Welt nicht schwer zu bemerken, daß sich der Mensch am freisten und
am völligsten von seinen Gebrechen los und ledig fühlt, wenn er sich
die Mängel anderer vergegenwärtigt und sich darüber mit behaglichem
Tadel verbreitet. Es ist schon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns
durch Mißbilligung und Mißreden über unsersgleichen hinauszusetzen,
weswegen auch hierin die gute Gesellschaft, sie bestehe aus wenigen oder
mehrern, sich am liebsten ergeht. Nichts aber gleicht der behaglichen
Selbstgefälligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und
Vorgesetzten, der Fürsten und Staatsmänner erheben, öffentliche
Anstalten ungeschickt und zweckwidrig finden, nur die möglichen und
wirklichen Hindernisse beachten, und weder die Größe der Intention
noch die Mitwirkung anerkennen, die bei jedem Unternehmen von Zeit und
Umständen zu erwarten ist. Wer
sich der Lage des französischen Reichs erinnert und sie aus späteren
Schriften genau und umständlich kennt, wird sich leicht vergegenwärtigen,
wie man damals in dem elsässischen Halbfrankreich über König und
Minister, über Hof und Günstlinge sprach. Für meine Lust, mich zu
unterrichten, waren es neue, und für Naseweisheit und jugendlichen Dünkel
sehr willkommne Gegenstände; ich merkte mir alles genau, schrieb fleißig
auf, und sehe jetzt an dem wenigen Übriggebliebenen, daß solche
Nachrichten, wenngleich nur aus Fabeln und unzuverlässigen allgemeinen
Gerüchten im Augenblick aufgefaßt, doch immer in der Folge einen
gewissen Wert haben, weil sie dazu dienen, das endlich bekanntgewordene
Geheime mit dem damals schon Aufgedeckten und Öffentlichen, das von
Zeitgenossen richtig oder falsch Geurteilte mit den Überzeugungen der
Nachwelt zusammenzuhalten und zu vergleichen. Auffallend
und uns Pflastertretern täglich vor Augen war das Projekt zu Verschönerung
der Stadt, dessen Ausführung von den Rissen und Planen auf die
seltsamste Weise in die Wirklichkeit überzugehen anfing. Intendant
Gayot hatte sich vorgenommen, die winkligen und ungleichen Gassen Straßburgs
umzuschaffen und eine wohl nach der Schnur geregelte, ansehnliche, schöne
Stadt zu gründen. Blondel, ein Pariser Baumeister, zeichnete darauf
einen Vorschlag, durch welchen hundertundvierzig Hausbesitzer an Raum
gewannen, achtzig verloren und die übrigen in ihrem vorigen Zustande
blieben. Dieser genehmigte, aber nicht auf einmal in Ausführung zu
bringende Plan sollte nun durch die Zeit seiner Vollständigkeit
entgegen wachsen, indessen die Stadt, wunderlich genug, zwischen Form
und Unform schwankte. Sollte z.B. eine eingebogene Straßenseite gerad
werden, so rückte der erste Baulustige auf die bestimmte Linie vor;
vielleicht sein nächster Nachbar, vielleicht aber auch der dritte,
vierte Besitzer von da, durch welche Vorsprünge die ungeschicktesten
Vertiefungen als Vorhöfe der hinterliegenden Häuser zurückblieben.
Gewalt wollte man nicht brauchen, aber ohne Nötigung wäre man gar
nicht vorwärts gekommen, deswegen durfte niemand an seinem einmal
verurteilten Hause etwas bessern oder herstellen, was sich auf die Straße
bezog. Alle die seltsamen zufälligen Unschicklichkeiten gaben uns
wandelnden Müßiggängern willkommensten Anlaß, unsern Spott zu üben,
Vorschläge zu Beschleunigung der Vollendung nach Behrischens Art zu
tun, und die Möglichkeit derselben immer zu bezweifeln, ob uns gleich
manches neu entstehende schöne Gebäude hätte auf andere Gedanken
bringen sollen. Inwieweit jener Vorsatz durch die lange Zeit begünstigt
worden, wüßte ich nicht zu sagen. Ein
anderer Gegenstand, wovon sich die protestantischen Straßburger gern
unterhielten, war die Vertreibung der Jesuiten. Diese Väter hatten,
sobald als die Stadt den Franzosen zuteil geworden, sich gleichfalls
eingefunden und um ein Domizilium nachgesucht. Bald breiteten sie sich
aber aus und bauten ein herrliches Kollegium, das an den Münster
dergestalt anstößt, daß das Hinterteil der Kirche ein Dritteil seiner
Face bedeckt. Es sollte ein völliges Viereck werden und in der Mitte
einen Garten haben; drei Seiten davon waren fertig geworden. Es ist von
Steinen, solid, wie alle Gebäude dieser Väter. Daß die Protestanten
von ihnen gedrängt, wo nicht bedrängt wurden, lag in dem Plane der
Gesellschaft, welche die alte Religion in ihrem ganzen Umfange wieder
herzustellen sich zur Pflicht machte. Ihr Fall erregte daher die größte
Zufriedenheit des Gegenteils, und man sah nicht ohne Behagen, wie sie
ihre Weine verkauften, ihre Bücher wegschafften und das Gebäude einem
andern, vielleicht weniger tätigen Orden bestimmt ward. Wie froh sind
die Menschen, wenn sie einen Widersacher, ja nur einen Hüter los sind,
und die Herde bedenkt nicht, daß da, wo der Rüde fehlt, sie den Wölfen
ausgesetzt ist. Weil
denn nun auch jede Stadt ihre Tragödie haben muß, wovor sich Kinder
und Kindeskinder entsetzen, so ward in Straßburg oft des unglücklichen
Prätors Klinglin gedacht, der, nachdem er die höchste Stufe irdischer
Glückseligkeit erstiegen, Stadt und Land fast unumschränkt beherrscht
und alles genossen, was Vermögen, Rang und Einfluß nur gewähren können,
endlich die Hofgunst verloren habe, und wegen alles dessen, was man ihm
bisher nachgesehen, zur Verantwortung gezogen worden, ja sogar in den
Kerker gebracht, wo er, über siebenzig Jahre alt, eines zweideutigen
Todes verblichen. Diese
und andere Geschichten wußte jener Ludwigsritter, unser Tischgenosse,
mit Leidenschaft und Lebhaftigkeit zu erzählen, deswegen ich auch gern
auf Spaziergängen mich zu ihm gesellte, anders als die übrigen die
solchen Einladungen auswichen und mich mit ihm allein ließen. Da ich
mich bei neuen Bekanntschaften meistenteils eine Zeitlang gehen ließ,
ohne viel über sie, noch über die Wirkung zu denken, die sie auf mich
ausübten, so merkte ich erst nach und nach, daß seine Erzählungen und
Urteile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichteten und
aufklärten. Ich wußte niemals, woran ich mit ihm war, obgleich das Rätsel
sich leicht hätte entziffern lassen. Er gehörte zu den vielen, denen
das Leben keine Resultate gibt, und die sich daher im einzelnen, vor wie
nach, abmühen. Unglücklicherweise hatte er dabei eine entschiedne
Lust, ja Leidenschaft zum Nachdenken, ohne zum Denken geschickt zu sein,
und in solchen Menschen setzt sich leicht ein gewisser Begriff fest, den
man als eine Gemütskrankheit ansehen kann. Auf eine solche fixe Ansicht
kam auch er immer wieder zurück, und ward dadurch auf die Dauer höchst
lästig. Er pflegte sich nämlich bitter über die Abnahme seines Gedächtnisses
zu beklagen, besonders was die nächsten Ereignisse betraf, und
behauptete, nach einer eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von dem
guten Gedächtnis her, alle Laster hingegen aus der Vergessenheit. Die
Lehre wußte er mit vielem Scharfsinn durchzusetzen; wie sich denn alles
behaupten läßt, wenn man sich erlaubt, die Worte ganz unbestimmt, bald
in weiterem, bald engerm, in einem näher oder ferner verwandten Sinne
zu gebrauchen und anzuwenden. Die
ersten Male unterhielt es wohl ihn zu hören, ja seine Suade setzte in
Verwunderung. Man glaubte vor einem rednerischen Sophisten zu stehen,
der, zu Scherz und Übung, den seltsamsten Dingen einen Schein zu
verleihen weiß. Leider stumpfte sich dieser erste Eindruck nur allzu
bald ab: denn am Ende jedes Gesprächs kam der Mann wieder auf dasselbe
Thema, ich mochte mich auch anstellen, wie ich wollte. Er war bei älteren
Begebenheiten nicht festzuhalten, ob sie ihn gleich selbst
interessierten, ob er sie schon mit den kleinsten Umständen gegenwärtig
hatte. Vielmehr ward er öfters, durch einen geringen Umstand, mitten
aus einer weltgeschichtlichen Erzählung herausgerissen und auf seinen
feindseligen Lieblingsgedanken hingestoßen. Einer
unserer nachmittägigen Spaziergänge war hierin besonders unglücklich;
die Geschichte desselben stehe hier statt ähnlicher Fälle, welche den
Leser ermüden, wo nicht gar betrüben könnten. Auf
dem Wege durch die Stadt begegnete uns eine bejahrte Bettlerin, die ihn,
durch Bitten und Andringen, in seiner Erzählung störte. - "Pack
dich, alte Hexe " sagte er, und ging vorüber. Sie rief ihm den
bekannten Spruch hintendrein, nur etwas verändert, da sie wohl
bemerkte, daß der unfreundliche Mann selbst alt sei: "Wenn Ihr
nicht alt werden wolltet, so hättet Ihr Euch in der Jugend sollen hängen
lassen! " Er kehrte sich heftig herum, und ich fürchtete einen
Auftritt. - "Hängen lassen! " rief er, "mich hängen
lassen! Nein, das wäre nicht gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl;
aber mich hängen, mich selbst aufhängen, das ist wahr, das hätte ich
tun sollen; einen Schuß Pulver sollt' ich an mich wenden, um nicht zu
erleben, daß ich keinen mehr wert bin. " Die Frau stand wie
versteinert, er aber fuhr fort: "Du hast eine große Wahrheit
gesagt, Hexenmutter! und weil man dich noch nicht ersauft oder verbrannt
hat, so sollst du für dein Sprüchlein belohnt werden. " Er
reichte ihr ein Büsel, das man nicht leicht an einen Bettler zu wenden
pflegte. Wir
waren über die erste Rheinbrücke gekommen und gingen nach dem
Wirtshause, wo wir einzukehren gedachten, und ich suchte ihn auf das
vorige Gespräch zurückzuführen, als unerwartet auf dem angenehmen Fußpfad
ein sehr hübsches Mädchen uns entgegen kam, vor uns stehen blieb, sich
artig verneigte und ausrief: "Ei, ei, Herr Hauptmann, wohin? "
und was man sonst bei solcher Gelegenheit zu sagen pflegt. -
"Mademoiselle ", versetzte er, etwas verlegen, "ich weiß
nicht... " "Wie? " sagte sie, mit anmutiger Verwunderung,
"vergessen Sie Ihre Freunde so bald? " Das Wort Vergessen
machte ihn verdrießlich, er schüttelte den Kopf und erwiderte mürrisch
genug: "Wahrhaftig, Mademoiselle, ich wüßte nicht! " - Nun
versetzte sie mit einigem Humor, doch sehr gemäßigt: "Nehmen Sie
sich in acht, Herr Hauptmann, ich dürfte Sie ein andermal auch
verkennen! " Und so eilte sie an uns vorbei, stark zuschreitend,
ohne sich umzusehen. Auf einmal schlug sich mein Weggesell mit den
beiden Fäusten heftig vor den Kopf: "O ich Esel! " rief er
aus; "ich alter Esel! da seht Ihr's nun, ob ich recht habe oder
nicht. " Und nun erging er sich auf eine sehr heftige Weise in
seinem gewohnten Reden und Meinen, in welchem ihn dieser Fall nur noch
mehr bestärkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er für eine
philippische Rede wider sich selbst hielt. Zuletzt wendete er sich zu
mir und sagte: "Ich rufe Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch
jener Krämerin, an der Ecke, die weder jung noch hübsch ist? Jedesmal
grüße ich sie, wenn wir vorbeigehen, und rede manchmal ein paar
freundliche Worte mit ihr; und doch sind schon dreißig Jahre vorbei, daß
sie mir günstig war. Nun aber, nicht vier Wochen, schwör' ich, sind's,
da erzeigte sich dieses Mädchen gegen mich gefälliger als billig, und
nun will ich sie nicht kennen und beleidige sie für ihre Artigkeit!
Sage ich es nicht immer, Undank ist das größte Laster, und kein Mensch
wäre undankbar, wenn er nicht vergeßlich wäre! " Wir
traten ins Wirtshaus, und nur die zechende, schwärmende Menge in den
Vorsälen hemmte die Invektiven, die er gegen sich und seine
Altersgenossen ausstieß. Er war still, und ich hoffte ihn begütigt,
als wir in ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jungen Mann allein auf
und ab gehend fanden, den der Hauptmann mit Namen begrüßte. Es war mir
angenehm, ihn kennen zu lernen: denn der alte Gesell hatte mir viel
Gutes von ihm gesagt und mir erzählt, daß dieser, beim Kriegsbureau
angestellt, ihm schon manchmal, wenn die Pensionen gestockt, uneigennützig
sehr gute Dienste geleistet habe. Ich war froh, daß das Gespräch sich
ins Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Flasche Wein, indem wir es
fortsetzten. Hier entwickelte sich aber zum Unglück ein anderer Fehler,
den mein Ritter mit starrsinnigen Menschen gemein hatte. Denn wie er im
ganzen von jenem fixen Begriff nicht loskommen konnte, ebensosehr hielt
er an einem augenblicklichen unangenehmen Eindruck fest, und ließ seine
Empfindungen dabei ohne Mäßigung abschnurren. Der letzte Verdruß über
sich selbst war noch nicht verklungen, und nun trat abermals etwas Neues
hinzu, freilich von ganz anderer Art. Er hatte nämlich nicht lange die
Augen hin und her gewandt, so bemerkte er auf dem Tische eine doppelte
Portion Kaffee und zwei Tassen; daneben mochte er auch, er, der selbst
ein feiner Zeisig war, irgend sonst eine Andeutung aufgespürt haben, daß
dieser junge Mann sich nicht eben immer so allein befunden. Und kaum war
die Vermutung in ihm aufgestiegen und zur Wahrscheinlichkeit geworden,
das hübsche Mädchen habe einen Besuch hier abgestattet; so gesellte
sich zu jenem ersten Verdruß noch die wunderlichste Eifersucht, um ihn
vollends zu verwirren. Ehe
ich nun irgend etwas ahnden konnte, denn ich hatte mich bisher ganz
harmlos mit dem jungen Mann unterhalten, so fing der Hauptmann mit einem
unangenehmen Ton den ich an ihm wohl kannte, zu sticheln an, auf das
Tassenpaar und auf dieses und jenes. Der Jüngere, betroffen, suchte
heiter und verständig auszuweichen, wie es unter Menschen von Lebensart
die Gewohnheit ist; allein der Alte fuhr fort schonungslos unartig zu
sein, daß dem andern nichts übrig blieb, als Hut und Stock zu
ergreifen und beim Abschiede eine ziemlich unzweideutige Ausforderung
zurückzulassen. Nun brach die Furie des Hauptmanns und um desto
heftiger los, als er in der Zwischenzeit noch eine Flasche Wein beinahe
ganz allein ausgetrunken hatte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch
und rief mehr als einmal: "Den schlag' ich tot. " Es war aber
eigentlich so bös nicht gemeint, denn er gebrauchte diese Phrase
mehrmals, wenn ihm jemand widerstand oder sonst mißfiel. Ebenso
unerwartet verschlimmerte sich die Sache auf dem Rückweg: denn ich
hatte die Unvorsichtigkeit, ihm seinen Undank gegen den jungen Mann
vorzuhalten und ihn zu erinnern, wie sehr er mir die zuvorkommende
Dienstfertigkeit dieses Angestellten gerühmt habe. Nein! Solche Wut
eines Menschen gegen sich selbst ist mir nie wieder vorgekommen; es war
die leidenschaftlichste Schlußrede zu jenen Anfängen, wozu das hübsche
Mädchen Anlaß gegeben hatte. Hier sah ich Reue und Buße bis zur
Karikatur getrieben, und, wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt,
wirklich genialisch. Denn er nahm die sämtlichen Vorfallenheiten
unserer Nachmittagswanderung wieder auf, benutzte sie rednerisch zur
Selbstscheltung, ließ zuletzt die Hexe nochmals gegen sich auftreten,
und verwirrte sich dergestalt, daß ich fürchten mußte, er werde sich
in den Rhein stürzen. Wäre ich sicher gewesen, ihn, wie Mentor seinen
Telenach, schnell wieder aufzufischen, so mochte er springen, und ich hätte
ihn für diesmal abgekühlt nach Hause gebracht. Ich vertraute sogleich
die Sache Lersen, und wir gingen des andern Morgens zu dem jungen Manne,
den mein Freund, mit seiner Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir wurden
eins, ein ungefähres Zusammentreffen einzuleiten, wo eine Ausgleichung
vor sich gehen sollte. Das Lustigste dabei war, daß der Hauptmann auch
diesmal seine Unart verschlafen hatte, und zur Begütigung des jungen
Mannes, dem auch an keinen Händeln gelegen war, sich bereit finden ließ.
Alles war an einem Morgen abgetan, und da die Begebenheit nicht ganz
verschwiegen blieb, so entging ich nicht den Scherzen meiner Freunde,
die mir aus eigner Erfahrung hätten voraussagen können, wie lästig
mir gelegentlich die Freundschaft des Hauptmanns werden dürfte. Indem
ich nun aber darauf sinne, was wohl zunächst weiter mitzuteilen wäre,
so kommt mir, durch ein seltsames Spiel der Erinnerung, das ehrwürdige
Münstergebäude wieder in die Gedanken, dem ich gerade in jenen Tagen
eine besondere Aufmerksamkeit widmete und welches überhaupt in der
Stadt sowohl als auf dem Lande sich den Augen beständig darbietet. Je
mehr ich die Fassade desselben betrachtete, desto mehr bestärkte und
entwickelte sich jener erste Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem
Gefälligen in Bund getreten sei. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als
Masse entgegentritt, nicht erschrecken, soll es nicht verwirren, wenn
wir sein Einzelnes zu erforschen suchen: so muß es eine unnatürliche,
scheinbar unmögliche Verbindung eingehen, es muß sich das Angenehme
zugesellen. Da uns nun aber allein möglich wird, den Eindruck des Münsters
auszusprechen, wenn wir uns jene beiden unverträglichen Eigenschaften
vereinigt denken; so sehen wir schon hieraus, in welchem hohen Wert wir
dieses alte Denkmal zu halten haben, und beginnen mit Ernst eine
Darstellung, wie so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen
und verbinden konnten. Vor
allem widmen wir unsere Betrachtungen, ohne noch an die Türme zu
denken, allein der Fassade, die als ein aufrecht gestelltes längliches
Viereck unsern Augen mächtig entgegnet. Nähern wir uns derselben in
der Dämmerung, bei Mondschein, bei sternheller Nacht, wo die Teile mehr
oder weniger undeutlich werden und zuletzt verschwinden; so sehen wir
nur eine kolossale Wand, deren Höhe zur Breite ein wohltätiges Verhältnis
hat. Betrachten wir sie bei Tage und abstrahieren durch Kraft unseres
Geistes vom Einzelnen; so erkennen wir die Vorderseile eines Gebäudes,
welche dessen innere Räume nicht allein zuschließt, sondern auch
manches Danebenliegende verdeckt. Die Öffnungen dieser ungeheueren Fläche
deuten auf innere Bedürfnisse, und nach diesen können wir sie sogleich
in neun Felder abteilen. Die große Mitteltüre, die auf das Schiff der
Kirche gerichtet ist, fällt uns zuerst in die Augen. Zu beiden Seiten
derselben liegen zwei kleinere, den Kreuzgängen angehörig. Über der
Haupttüre trifft unser Blick auf das radförmige Fenster, das in die
Kirche und deren Gewölbe ein ahndungsvolles Licht verbreiten soll. An
den Seiten zeigen sich zwei große senkrechte, länglich-viereckte Öffnungen,
welche mit der mittelsten bedeutend kontrastieren und darauf hindeuten,
daß sie zu der Base emporstrebender Türme gehören. In dem dritten
Stockwerke reihen sich drei Öffnungen an einander, welche zu Glockenstühlen
und sonstigen kirchlichen Bedürfnissen bestimmt sind. Zu Oberst sieht
man das Ganze durch die Balustrade der Galerie, anstatt eines Gesimses,
horizontal abgeschlossen. Jene beschriebenen neun Räume werden durch
vier vom Boden aufstrebende Pfeiler gestützt, eingefaßt und in drei
große perpendikulare Abteilungen getrennt. Wie
man nun der ganzen Masse ein schönes Verhältnis der Höhe zur Breite
nicht absprechen kann, so erhält sie auch durch diese Pfeiler, durch
die schlanken Einteilungen dazwischen, im einzelnen etwas gleichmäßig
Leichtes. Verharren
wir aber bei unserer Abstraktion und denken uns diese ungeheuere Wand
ohne Zieraten mit festen Strebepfeilern, in derselben die nötigen Öffnungen,
aber auch nur insofern sie das Bedürfnis fordert; gestehn wir auch
diesen Hauptabteilungen gute Verhältnisse zu: so wird das Ganze zwar
ernst und würdig, aber doch immer noch lästig unerfreulich und als
zierdelos unkünstlich erscheinen. Denn ein Kunstwerk, dessen Ganzes in
großen, einfachen, harmonischen Teilen begriffen wird, macht wohl einen
edlen und würdigen Eindruck, aber der eigentliche Genuß, den das
Gefallen erzeugt, kann nur bei Übereinstimmung aller entwickelten
Einzelheiten stattfinden. Hierin
aber gerade befriedigt uns das Gebäude, das wir betrachten, im höchsten
Grade: denn wir sehen alle und jede Zieraten jedem Teil, den sie schmücken,
völlig angemessen, sie sind ihm untergeordnet, sie scheinen aus ihm
entsprungen. Eine solche Mannigfaltigkeit gibt immer ein großes
Behagen, indem sie sich aus dem Gehörigen herleitet und deshalb
zugleich das Gefühl der Einheit erregt, und nur in solchem Falle wird
die Ausführung als Gipfel der Kunst gepriesen. Durch
solche Mittel sollte nun eine feste Mauer, eine undurchdringliche Wand,
die sich noch dazu als Base zweier himmelhohen Türme anzukündigen
hatte, dem Auge zwar als auf sich selbst ruhend, in sich selbst
bestehend, aber auch dabei leicht und zierlich erscheinen, und, obgleich
tausendfach durchbrochen, den Begriff von unerschütterlicher Festigkeit
geben. Dieses
Rätsel ist auf das glücklichste gelöst. Die Öffnungen der Mauer, die
soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besonderen
Charakter, der aus der eignen Bestimmung hervortritt; dieser
kommuniziert sich stufenweis den Unterabteilungen, daher alles im gemäßen
Sinne verziert ist, das Große wie das Kleine sich an der rechten Stelle
befindet, leicht gefaßt werden kann, und so das Angenehme im
Ungeheueren sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in
die Mauerdicke sich einsenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern
und Spitzbogen verzierten Türen, an das Fenster und dessen aus der
runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer Stäbe, sowie
an die schlanken Rohrsäulen der perpendikularen Abteilungen. Man
vergegenwärtige sich die stufenweis zurücktretenden Pfeiler, von
schlanken, gleichfalls in die Höhe strebenden, zum Schutz der
Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäudchen
begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und
Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsinn umgeformtes
Naturgebilde erscheint. Man vergleiche das Gebäude, wo nicht selbst,
doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurteilung und
Belebung meiner Aussage. Sie könnte manchem übertrieben scheinen: denn
ich selbst, zwar im ersten Anblicke zur Neigung gegen dieses Werk
hingerissen, brauchte doch lange Zeit, mich mit seinem Wert innig
bekannt zu machen. Unter
Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen, nährte ich meine Abneigung
gegen die vielfach überladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre
Willkürlichkeit einen religios düsteren Charakter höchst widerwärtig
machten; ich bestärkte mich in diesem Unwillen, da mir nur geistlose
Werke dieser Art, an denen man weder gute Verhältnisse, noch eine reine
Konsequenz gewahr wird, vors Gesicht gekommen waren. Hier aber glaubte
ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem mir jenes Tadelnswerte
keineswegs erschien, sondern vielmehr das Gegenteil davon sich aufdrang. Wie
ich nun aber immer länger sah und überlegte, glaubte ich über das
Vorgesagte noch größere Verdienste zu entdecken. Herausgefunden war
das richtige Verhältnis der größeren Abteilungen, die so sinnige als
reiche Verzierung bis ins kleinste; nun aber erkannte ich noch die Verknüpfung
dieser mannigfaltigen Zieraten unter einander, die Hinleitung von einem
Hauptteile zum andern, die Verschränkung zwar gleichartiger, aber doch
an Gestalt höchst abwechselnder Einzelnheiten, vom Heiligen bis zum
Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Je mehr ich untersuchte, desto mehr
geriet ich in Erstaunen; je mehr ich mich mit Messen und Zeichnen
unterhielt und abmüdete, desto mehr wuchs meine Anhänglichkeit, so daß
ich viele Zeit darauf verwendete, teils das Vorhandene zu studieren,
teils das Fehlende, Unvollendete, besonders der Türme, in Gedanken und
auf dem Blatte wiederherzustellen. Da
ich nun an alter deutscher Stätte dieses Gebäude gegründet und in
echter deutscher Zeit so weit gediehen fand, auch der Name des Meisters
auf dem bescheidenen Grabstein gleichfalls vaterländischen Klanges und
Ursprungs war; so wagte ich, die bisher verrufene Benennung gotische
Bauart, aufgefordert durch den Wert dieses Kunstwerks, abzuändern und
sie als deutsche Baukunst unserer Nation zu vindizieren, sodann aber
verfehlte ich nicht, erst mündlich, und hernach in einem kleinen
Aufsatz, D. M. Ervini a Steinbach gewidmet, meine patriotischen
Gesinnungen an den Tag zu legen. Gelangt
meine biographische Erzählung zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen
im Druck erschien, den Herder sodann in sein Heft "Von deutscher
Art und Kunst " aufnahm, so wird noch manches über diesen
wichtigen Gegenstand zur Sprache kommen. Ehe ich mich aber diesmal von
demselben abwende, so will ich die Gelegenheit benutzen, um das dem
gegenwärtigen Bande vorgesetzte Motto bei denjenigen zu rechtfertigen,
welche einigen Zweifel daran hegen sollten. Ich weiß zwar recht gut, daß
gegen das brave und hoffnungsreiche altdeutsche Wort: "Was einer in
der Jugend wünscht, hat er im Alter genug! " manche umgekehrte
Erfahrung anzuführen, manches daran zu deuteln sein möchte; aber auch
viel Günstiges spricht dafür, und ich erkläre, was ich dabei denke. Unsere
Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten
desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und
möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der
Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im
stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen
das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine
solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt
unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen
Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von
dem wir immer wieder nach jenem einlenken. So sieht man Menschen durch
Beharrlichkeit zu irdischen Gütern gelangen, sie umgeben sich mit
Reichtum, Glanz und äußerer Ehre. Andere streben noch sicherer nach
geistigen Vorteilen, erwerben sich eine klare Übersicht der Dinge, eine
Beruhigung des Gemüts und eine Sicherheit für die Gegenwart und
Zukunft. Nun
gibt es aber eine dritte Richtung, die aus beiden gemischt ist und deren
Erfolg am sichersten gelingen muß. Wenn nämlich die Jugend des
Menschen in eine prägnante Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zerstören
überwiegt, und in ihm das Vorgefühl bei Zeiten erwacht, was eine
solche Epoche fordre und verspreche; so wird er, durch äußere Anlässe
zu tätiger Teilnahme gedrängt, bald da - bald dorthin greifen, und der
Wunsch, nach vielen Seiten wirksam zu sein, wird in ihm lebendig werden.
Nun gesellen sich aber zur menschlichen Beschränktheit noch so viele
zufällige Hindernisse, daß hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein
Ergriffenes aus der Hand fällt, und ein Wunsch nach dem andern sich
verzettelt. Waren aber diese Wünsche aus einem reinen Herzen
entsprungen, dem Bedürfnis der Zeit gemäß; so darf man ruhig rechts
und links liegen und fallen lassen, und kann versichert sein, daß nicht
allein dieses wieder aufgefunden und aufgehoben werden muß, sondern daß
auch noch gar manches Verwandte, das man nie berührt, ja woran man nie
gedacht hat, zum Vorschein kommen werde. Sehen wir nun während unseres
Lebensganges dasjenige von andern geleistet, wozu wir selbst früher
einen Beruf fühlten, ihn aber, mit manchen andern, aufgeben mußten;
dann tritt das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst
der wahre Mensch ist, und daß der Einzelne nur froh und glücklich sein
kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen. Diese
Betrachtung ist hier recht am Platze; denn wenn ich die Neigung bedenke,
die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne,
die ich allein dem Straßburger Münster gewidmet, die Aufmerksamkeit,
mit der ich späterhin den Dom zu Köln und den zu Freiburg betrachtet
und den Wert dieser Gebäude immer mehr empfunden; so könnte ich mich
tadeln, daß ich sie nachher ganz aus den Augen verloren, ja, durch eine
entwickeltere Kunst angezogen, völlig im Hintergrunde gelassen. Sehe
ich nun aber in der neusten Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf jene
Gegenstände hingelenkt, Neigung, ja Leidenschaft gegen sie hervortreten
und blühen, sehe ich tüchtige junge Leute, von ihr ergriffen, Kräfte,
Zeit, Sorgfalt, Vermögen diesen Denkmalen einer vergangenen Welt rücksichtslos
widmen; so werde ich mit Vergnügen erinnert, daß das, was ich sonst
wollte und wünschte, einen Wert hatte. Mit Zufriedenheit sehe ich, wie
man nicht allein das von unsern Vorvordern Geleistete zu schätzen weiß,
sondern wie man sogar aus vorhandenen unausgeführten Anfängen,
wenigstens im Bilde, die erste Absicht darzustellen sucht, um uns
dadurch mit dem Gedanken, welcher doch das Erste und Letzte alles
Vornehmens bleibt, bekannt zu machen, und eine verworren scheinende
Vergangenheit mit besonnenem Ernst aufzuklären und zu beleben strebt.
Vorzüglich belobe ich hier den wackern Sulpiz Boisserée, der unermüdet
beschäftigt ist, in einem prächtigen Kupferwerke, den Kölnischen Dom
aufzustellen als Musterbild jener ungeheuren Konzeptionen, deren Sinn
babylonisch in den Himmel strebte, und die zu den irdischen Mitteln
dergestalt außer Verhältnis waren, daß sie notwendig in der Ausführung
stocken mußten. Haben wir bisher gestaunt, daß solche Bauwerke nur so
weit gediehen, so werden wir mit der größten Bewunderung erfahren, was
eigentlich zu leisten die Absicht war. Möchten
doch literarisch-artistische Unternehmungen dieser Art durch alle,
welche Kraft, Vermögen und Einfluß haben, gebührend befördert
werden, damit uns die große und riesenmäßige Gesinnung unserer
Vorfahren zur Anschauung gelange und wir uns einen Begriff machen können
von dem, was sie wollen durften. Die hieraus entspringende Einsicht wird
nicht unfruchtbar bleiben und das Urteil sich endlich einmal mit
Gerechtigkeit an jenen Werken zu üben imstande sein. Ja, dieses wird
auf das gründlichste geschehen, wenn unser tätiger junger Freund, außer
der dem Kölnischen Dome gewidmeten Monographie, die Geschichte der
Baukunst unserer Mittelzeit bis ins einzelne verfolgt. Wird ferner an
den Tag gefördert, was irgend über werkmäßige Ausübung dieser Kunst
zu erfahren ist, wird sie durch Vergleichung mit der griechisch-römischen
und der orientalisch-ägyptischen in allen Grundzügen dargestellt; so
kann in diesem Fache wenig zu tun übrig bleiben. Ich aber werde, wenn
die Resultate solcher vaterländischen Bemühungen öffentlich
vorliegen, so wie jetzt bei freundlichen Privatmitteilungen, mit wahrer
Zufriedenheit jenes Wort im besten Sinne wiederholen können: "Was
man in der Jugend wünscht, hat man im Alter genug. " Kann
man aber bei solchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehören, sich
auf die Zeit verlassen und die Gelegenheit erharren; so gibt es dagegen
andere Dinge, die in der Jugend, frisch, wie reife Früchte, weggenossen
werden müssen. Es sei mir erlaubt, mit dieser raschen Wendung, des
Tanzes zu erwähnen, an den das Ohr, so wie das Auge an den Münster,
jeden Tag, jede Stunde in Straßburg, im Elsaß erinnert wird. Von früher
Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen
Unterricht gegeben, welches einen so ernsthaften Mann wunderlich genug hätte
kleiden sollen; allein er ließ sich auch dabei nicht aus der Fassung
bringen, unterwies uns auf das bestimmteste in den Positionen und
Schritten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuett zu
tanzen, so blies er auf einer Flûte -douce uns etwas Faßliches im
Dreivierteltakt vor, und wir bewegten uns darnach, so gut wir konnten.
Auf dem französischen Theater hatte ich gleichfalls von Jugend auf, wo
nicht Ballette, doch Solos und Pas-de-deux gesehn und mir davon
mancherlei wunderliche Bewegungen der Füße und allerlei Sprünge
gemerkt. Wenn wir nun der Menuett genug haben, so ersuchte ich den Vater
um andere Tanzmusiken, dergleichen die Notenbücher in ihren Giguen und
Murkis reichlich darboten, und ich erfand mir sogleich die Schritte und
übrigen Bewegungen dazu, indem der Takt meinen Gliedern ganz gemäß
und mit denselben geboren war. Dies belustigte meinen Vater bis auf
einen gewissen Grad, ja er machte sich und uns manchmal den Spaß, die
Affen auf diese Weise tanzen zu lassen. Nach meinem Unfall mit Gretchen
und während meines ganzen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht wieder
auf den Plan; vielmehr weiß ich noch, daß, als man mich auf einem
Balle zu einer Menuett nötigte, Takt und Bewegung aus meinen Gliedern
gewichen schien, und ich mich weder der Schritte noch der Figuren mehr
erinnerte; so daß ich mit Schimpf und Schanden bestanden wäre, wenn
nicht der größere Teil der Zuschauer behauptet hätte, mein
ungeschicktes Betragen sei bloßer Eigensinn, in der Absicht, den
Frauenzimmern alle Lust zu benehmen, mich wider Willen aufzufordern und
in ihre Reihen zu ziehen. Während
meines Aufenthalts in Frankfurt war ich von solchen Freuden ganz
abgeschnitten; aber in Straßburg regte sich bald, mit der übrigen
Lebenslust, die Taktfähigkeit meiner Glieder. An Sonn- und Werkeltagen
schlenderte man keinen Lustort vorbei, ohne daselbst einen fröhlichen
Haufen zum Tanze versammelt, und zwar meistens im Kreise drehend zu
finden. Ingleichen waren auf den Landhäusern Privatbälle, und man
sprach schon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier wäre
ich nun freilich nicht an meinem Platz und der Gesellschaft unnütz
gewesen; da riet mir ein Freund, der sehr gut walzte, mich erst in
minder guten Gesellschaften zu üben, damit ich hernach in der besten
etwas gelten könnte. Er brachte mich zu einem Tanzmeister, der für
geschickt bekannt war; dieser versprach mir, wenn ich nur einigermaßen
die ersten Anfangsgründe wiederholt und mir zu eigen gemacht hätte,
mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen, gewandten
französischen Naturen, und nahm mich freundlich auf. Ich zahlte ihm den
Monat voraus, und erhielt zwölf Billette, gegen die er mir gewisse
Stunden Unterricht zusagte. Der Mann war streng, genau, aber nicht
pedantisch; und da ich schon einige Vorübung hatte, so machte ich es
ihm bald zu Danke und erhielt seinen Beifall. Den
Unterricht dieses Lehrers erleichterte jedoch ein Umstand gar sehr: er
hatte nämlich zwei Töchter, beide hübsch und noch unter zwanzig
Jahren. Von Jugend auf in dieser Kunst unterrichtet, zeigten sie sich
darin sehr gewandt und hätten als Moitié auch dem ungeschicktesten
Scholaren bald zu einiger Bildung verhelfen können. Sie waren beide
sehr artig, sprachen nur französisch, und ich nahm mich von meiner
Seite zusammen, um vor ihnen nicht linkisch und lächerlich zu
erscheinen. Ich hatte das Glück, daß auch sie mich lobten, immer
willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Menuett zu tanzen,
ja sogar, was ihnen freilich beschwerlicher ward, mir nach und nach das
Walzen und Drehen einzulernen. Übrigens schien der Vater nicht viele
Kunden zu haben, und sie führten ein einsames Leben. Deshalb ersuchten
sie mich manchmal nach der Stunde, bei ihnen zu bleiben und die Zeit ein
wenig zu verschwätzen; das ich denn auch ganz gerne tat, um so mehr,
als die jüngere mir wohl gefiel und sie sich überhaupt sehr anständig
betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und sie taten das
gleiche. Die ältere, die so hübsch, vielleicht noch hübscher war als
die zweite, mir aber nicht so gut wie diese zusagte, betrug sich
durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefälliger. Sie war in
der Stunde immer bei der Hand und zog sie manchmal in die Länge; daher
ich mich einigemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwei Billette
anzubieten, die er jedoch nicht annahm. Die jüngere hingegen, ob sie
gleich nicht unfreundlich gegen mich tat, war doch eher still für sich,
und ließ sich durch den Vater herbeirufen, um die ältere abzulösen. Die
Ursache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der ältesten,
nach vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen wollte, hielt sie mich
zurück und sagte: "Bleiben wir noch ein wenig hier; denn ich will
es Ihnen nur gestehen, meine Schwester hat eine Kartenschlägerin bei
sich, die ihr offenbaren soll, wie es mit einem auswärtigen Freund
beschaffen ist, an dem ihr ganzes Herz hängt, auf den sie alle ihre
Hoffnung gesetzt hat. Das meinige ist frei ", fuhr sie fort,
"und ich werde mich gewöhnen müssen, es verschmäht zu sehen.
" Ich sagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich versetzte, daß
sie sich, wie es damit stehe, am ersten überzeugen könne, wenn sie die
weise Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch tun, denn ich hätte
schon längst so etwas zu erfahren gewünscht, woran mir bisher der
Glaube gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb und beteuerte, daß nichts
in der Welt sichrer sei, als die Aussprüche dieses Orakels, nur müsse
man es nicht aus Scherz und Frevel, sondern nur in wahren Anliegenheiten
befragen. Ich nötigte sie jedoch zuletzt, mit mir in jenes Zimmer zu
gehen, sobald sie sich versichert hatte, daß die Funktion vorbei sei.
Wir fanden die Schwester sehr aufgeräumt, und auch gegen mich war sie
zutulicher als sonst, scherzhaft und beinahe geistreich: denn da sie
eines abwesenden Freundes sicher geworden zu sein schien, so mochte sie
es für unverfänglich halten, mit einem gegenwärtigen Freund ihrer
Schwester, denn dafür hielt sie mich, ein wenig artig zu tun. Der
Alten wurde nun geschmeichelt und ihr gute Bezahlung zugesagt, wenn sie
der älteren Schwester und auch mir das Wahrhafte sagen wollte. Mit den
gewöhnlichen Vorbereitungen und Zeremonien legte sie nun ihren Kram
aus, und zwar, um der Schönen zuerst zu weissagen. Sie betrachtete die
Lage der Karten sorgfältig, schien aber zu stocken und wollte mit der
Sprache nicht heraus. - "Ich sehe schon ", sagte die jüngere,
die mit der Auslegung einer solchen magischen Tafel schon näher bekannt
war, "Ihr zaudert und wollt meiner Schwester nichts Unangenehmes eröffnen;
aber das ist eine verwünschte Karte! " Die ältere wurde blaß,
doch faßte sie sich und sagte: "so sprecht nur; es wird ja den
Kopf nicht kosten! " Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte
ihr nun an, daß sie liebe, daß sie nicht geliebt werde, daß eine
andere Person dazwischen stehe, und was dergleichen Dinge mehr waren.
Man sah dem guten Mädchen die Verlegenheit an. Die Alte glaubte die
Sache wieder etwas zu verbessern, indem sie auf Briefe und Geld Hoffnung
machte. - "Briefe ", sagte das schöne Kind, "erwarte ich
nicht, und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr ist, wie Ihr sagt, daß ich
liebe, so verdiene ich ein Herz, das mich wieder liebt. " -
"Wir wollen sehen, ob es nicht besser wird ", versetzte die
Alte, indem sie die Karten mischte und zum zweitenmal auflegte; allein
es war vor unser aller Augen nur noch schlimmer geworden. Die Schöne
stand nicht allein einsamer, sondern auch mit mancherlei Verdruß
umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwischenfiguren näher gerückt.
Die Alte wollte zum drittenmal auslegen, in Hoffnung einer bessern
Ansicht; allein das schöne Kind hielt sich nicht länger, sie brach in
unbändiges Weinen aus, ihr holder Busen bewegte sich auf eine
gewaltsame Weise, sie wandte sich um und rannte zum Zimmer hinaus. Ich
wußte nicht, was ich tun sollte. Die Neigung hielt mich bei der Gegenwärtigen,
das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. -
"Trösten Sie Lucinden ", sagte die jüngere, "gehen Sie
ihr nach. " Ich zauderte; wie durfte ich sie trösten, ohne sie
wenigstens einer Art von Neigung zu versichern, und konnte ich das wohl
in einem solchen Augenblick auf eine kalte mäßige Weise! -
"Lassen Sie uns zusammen gehn ", sagte ich zu Emilien. -
"Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl tun wird ",
versetzte diese. Doch gingen wir, fanden aber die Tür verriegelt.
Lucinde antwortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir
wollten. - "Wir müssen sie gewähren lassen ", sagte Emilie,
"sie will nun nicht anders! " Und wenn ich mir freilich ihr
Wesen von unserer ersten Bekanntschaft an erinnerte, so hatte sie immer
etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte sie am
meisten dadurch, daß sie ihre Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich
tun! Ich bezahlte die Alte reichlich für das Unheil, das sie gestiftet
hatte, und wollte gehen, als Emilie sagte: "Ich bedinge mir, daß
die Karte nun auch auf Sie geschlagen werde. " Die Alte war bereit.
- "Lassen Sie mich nicht dabei sein! " rief ich, und eilte die
Treppe hinunter. Den
andern Tag hatte ich nicht Mut hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie
durch einen Knaben, der mir schon manche Botschaft von den Schwestern
gebracht und Blumen und Früchte dagegen an sie getragen hatte, in aller
Frühe sagen, ich möchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewöhnlichen
Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten,
an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches
ausbesserte und übrigens mit mir zufrieden schien. Die jüngste kam
gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine sehr graziöse
Menuett, in der sie sich außerordentlich angenehm bewegte, und der
Vater versicherte, nicht leicht ein hübscheres und gewandteres Paar auf
seinem Plane gesehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewöhnlich
ins Wohnzimmer; der Vater ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. -
"sie liegt im Bette ", sagte Emilie, "und ich sehe es
gern: haben Sie deshalb keine Sorge. Ihre Seelenkrankheit lindert sich
am ersten, wenn sie sich körperlich für krank hält; sterben mag sie
nicht gern, und so tut sie alsdann, was wir wollen. Wir haben gewisse
Hausmittel, die sie zu sich nimmt und ausruht; und so legen sich nach
und nach die tobenden Wellen. Sie ist gar zu gut und liebenswürdig bei
so einer eingebildeten Krankheit, und da sie sich im Grunde recht wohl
befindet und nur von Leidenschaft angegriffen ist, so sinnt sie sich
allerhand romananhafte Todesarten aus, vor denen sie sich auf eine
angenehme Weise fürchtet, wie Kinder, denen man von Gespenstern erzählt.
So hat sie mir gestern abend noch mit großer Heftigkeit erklärt, daß
sie diesmal gewiß sterben würde, und man sollte den undankbaren
falschen Freund, der ihr erst so schön getan und sie nun so übel
behandle, nur dann wieder zu ihr führen, wenn sie wirklich ganz nahe am
Tode sei: sie wolle ihm recht bittre Vorwürfe machen und auch sogleich
den Geist aufgeben. " - "Ich weiß mich nicht schuldig! "
rief ich aus, "daß ich irgend eine Neigung zu ihr geäußert. Ich
kenne jemand, der mir dieses Zeugnis am besten erteilen kann. "
Emilie lächelte und versetzte: "Ich verstehe Sie, und wenn wir
nicht klug und entschlossen sind, so kommen wir alle zusammen in eine üble
Lage. Was werden Sie sagen, wenn ich Sie ersuche, Ihre Stunden nicht
weiter fortzusetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch
vier Billette, und mein Vater äußerte schon, daß er es
unverantwortlich finde, Ihnen noch länger Geld abzunehmen: es müßte
denn sein, daß Sie sich der Tanzkunst auf eine ernstlichere Weise
widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, besäßen Sie
nun. " - "Und diesen Rat, Ihr Haus zu meiden, geben Sie mir,
Emilie? " versetzte ich. - "Eben ich ", sagte sie,
"aber nicht aus mir selbst. Hören Sie nur. Als Sie vorgestern
wegeilten, ließ ich die Karte auf Sie schlagen, und derselbe Ausspruch
wiederholte sich dreimal und immer stärker. Sie waren umgeben von
allerlei Gutem und Vergnüglichem, von Freunden und großen Herren, an
Geld fehlte es auch nicht. Die Frauen hielten sich in einiger
Entfernung. Meine arme Schwester besonders stand immer am weitesten;
eine andere rückte Ihnen immer näher, kam aber nie an Ihre Seite: denn
es stellte sich ein Dritter dazwischen. Ich will Ihnen nur gestehen, daß
ich mich unter der zweiten Dame gedacht hatte, und nach diesem
Bekenntnisse werden Sie meinen wohlmeinenden Rat am besten begreifen.
Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugesagt, und
bis jetzt liebt' ich ihn über alles; doch es wäre möglich, daß Ihre
Gegenwart mir bedeutender würde als bisher, und was würden Sie für
einen Stand zwischen zwei Schwestern haben, davon Sie die eine durch
Neigung und die andere durch Kälte unglücklich gemacht hätten, und
alle diese Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht schon
wüßten, wer Sie sind und was Sie zu hoffen haben, so hätte mir es die
Karte aufs deutlichste vor Augen gestellt. Leben Sie wohl ", sagte
sie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. - "Nun ", sagte
sie, indem sie mich gegen die Türe führte, "damit es wirklich das
letztemal sei, daß wir uns sprechen, so nehmen Sie, was ich Ihnen sonst
versagen würde. " Sie fiel mir um den Hals und küßte mich aufs zärtlichste.
Ich umfaßte sie und drückte sie an mich. In
diesem Augenblicke flog die Seitentür auf, und die Schwester sprang in
einem leichten aber anständigen Nachtkleide hervor und rief: "Du
sollst nicht allein von ihm Abschied nehmen! " Emilie ließ mich
fahren, und Lucinde ergriff mich, schloß sich fest an mein Herz, drückte
ihre schwarzen Locken an meine Wangen und blieb eine Zeitlang in dieser
Lage. Und so fand ich mich denn in der Klemme zwischen beiden
Schwestern, wie mir's Emilie einen Augenblick vorher geweissagt hatte.
Lucinde ließ mich los und sah mir ernst ins Gesicht. Ich wollte ihre
Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wandte sich
weg, ging mit starken Schritten einigemal im Zimmer auf und ab und warf
sich dann in die Ecke des Sofas. Emilie trat zu ihr, ward aber sogleich
weggewiesen, und hier entstand eine Szene, die mir noch in der
Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich in der Wirklichkeit
nichts Theatralisches hatte, sondern einer lebhaften jungen Französin
ganz angemessen war, dennoch nur von einer guten empfindenden
Schauspielerin auf dem Theater würdig wiederholt werden könnte. Lucinde
überhäufte ihre Schwester mit tausend Vorwürfen. "Es ist nicht
das erste Herz ", rief sie aus, "das sich zu mir neigt, und
das du mir entwendest. War es doch mit dem Abwesenden ebenso, der sich
zuletzt unter meinen Augen mit dir verlobte. Ich mußte es ansehen, ich
ertrug's; ich weiß aber, wie viele tausend Tränen es mich gekostet
hat. Diesen hast du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu
lassen, und wie viele verstehst du nicht auf einmal zu halten. Ich bin
offen und gutmütig, und jedermann glaubt, mich bald zu kennen und mich
vernachlässigen zu dürfen; du bist versteckt und still, und die Leute
glauben wunder was hinter dir verborgen sei. Aber es ist nichts dahinter
als ein kaltes, selbstisches Herz, das sich alles aufzuopfern weiß; das
aber kennt niemand so leicht, weil es tief in deiner Brust verborgen
liegt, so wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie
mein Gesicht. " Emilie
schwieg und hatte sich neben ihre Schwester gesetzt, die sich im Reden
immer mehr erhitzte, und sich über gewisse besondere Dinge herausließ,
die mir zu wissen eigentlich nicht frommte. Emilie dagegen, die ihre
Schwester zu begütigen suchte, gab mir hinterwärts ein Zeichen, daß
ich mich entfernen sollte; aber wie Eifersucht und Argwohn mit tausend
Augen sehen, so schien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie sprang auf
und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und
schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie: "Ich weiß, daß ich
Sie verloren habe; ich mache keine weitern Ansprüche auf Sie. Aber du
sollst ihn auch nicht haben, Schwester! " Sie faßte mich mit
diesen Worten ganz eigentlich beim Kopf, indem sie mir mit beiden Händen
in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihre drückte und mich zu
wiederholten Malen auf den Mund küßte. "Nun ", rief sie aus,
"fürchte meine Verwünschung. Unglück über Unglück für immer
und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen küßt!
Wage es nun wieder mit ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel erhört
mich diesmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie, was Sie können!
" Ich
flog die Treppe hinunter mit dem festen Vorsatze, das Haus nie wieder zu
betreten.
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