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Johann Wolfgang
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Zwanzigstes BuchSo
fuhr ich denn am "Egmont " zu arbeiten fort, und wenn dadurch
in meinen leidenschaftlichen Zustand einige Beschwichtigung eintrat, so
half mir auch die Gegenwart eines wackern Künstlers über manche böse
Stunden hinweg, und ich verdankte hier, wie schon so oft, einem
unsichern Streben nach praktischer Ausbildung einen heimlichen Frieden
der Seele, in Tagen, wo er sonst nicht wäre zu hoffen gewesen. Georg
Melchior Kraus, in Frankfurt geboren, in Paris gebildet, kam eben von
einer kleinen Reise ins nördliche Deutschland zurück, er suchte mich
auf, und ich fühlte sogleich Trieb und Bedürfnis, mich ihm anzuschließen.
Er war ein heiterer Lebemann, dessen leichtes erfreuliches Talent in
Paris die rechte Schule gefunden hatte. Für
den Deutschen gab es zu jener Zeit daselbst ein angenehmes Unterkommen;
Philipp Hackert lebte dort in gutem Ansehen und Wohlstand; das treue
deutsche Verfahren, womit er Landschaften nach der Natur zeichnend in
Gouache- und Ölfarbe glücklich ausführte, war als Gegensatz einer
praktischen Manier, der sich die Franzosen hingegeben hatten, sehr
willkommen. Wille, hochgeehrt als Kupferstecher, gab dem deutschen
Verdienste Grund und Boden; Grimm, schon einflußreich, nützte seinen
Landsleuten nicht wenig. Angenehme Fußreisen, um unmittelbar nach der
Natur zu zeichnen, wurden unternommen und so manches Gute geleistet und
vorbereitet. Boucher
und Watteau, zwei wahrhaft geborene Künstler, deren Werke, wenn schon
verflatternd im Geist und Sinn der Zeit, doch immer noch höchst
respektabel gefunden werden, waren der neuen Erscheinung geneigt, und
selbst, obgleich nur zu Scherz und Versuch, tätig eingreifend. Greuze,
im Familienkreise still für sich hinlebend, dergleichen bürgerliche
Szenen gerne darstellend, von seinen eigenen Werken entzückt, erfreute
sich eines ehrenhaften leichten Pinsels. Alles
dergleichen konnte unser Kraus in sein Talent gar wohl aufnehmen; er
bildete sich an der Gesellschaft zur Gesellschaft und wußte gar
zierlich häusliche freundschaftliche Vereine porträtmäßig
darzustellen; nicht weniger glückten ihm landschaftliche Zeichnungen,
die sich durch reinliche Umrisse, massenhafte Tusche, angenehmes Kolorit
dem Auge freundlich empfahlen; dem innern Sinn genügte eine gewisse
naive Wahrheit, und besonders dem Kunstfreund sein Geschick: alles, was
er selbst nach der Natur zeichnete, sogleich zum Tableau einzuleiten und
einzurichten. Er
selbst war der angenehmste Gesellschafter: gleichmütige Heiterkeit
begleitete ihn durchaus; dienstfertig ohne Demut, gehalten ohne Stolz,
fand er sich überall zu Hause, überall beliebt, der tätigste und
zugleich der bequemste aller Sterblichen. Mit solchem Talent und
Charakter begabt, empfahl er sich gar bald in höhern Kreisen und war
besonders in dem freiherrlichen von Steinischen Schlosse zu Nassau an
der Lahn wohlaufgenommen, eine talentvolle, höchst liebenswürdige
Tochter in ihrem künstlerischen Bestreben unterstützend und zugleich
die Geselligkeit auf mancherlei Weise belebend. Nach
Verheiratung dieser vorzüglichen jungen Dame an den Grafen von Werthern
nahm das neue Ehepaar den Künstler mit auf ihre bedeutenden Güter in
Thüringen, und so gelangte er auch nach Weimar; hier ward er bekannt,
anerkannt und von dem dasigen hochgebildeten Kreise sein Bleiben gewünscht. Wie
er nun überall zutätig war, so förderte er bei seiner nunmehrigen Rückkehr
nach Frankfurt meine bisher nur sammelnde Kunstliebe zu praktischer Übung.
Dem Dilettanten ist die Nähe des Künstlers unerläßlich, denn er
sieht in diesem das Komplement seines eigenen Daseins, die Wünsche des
Liebhabers erfüllen sich im Artisten. Durch
eine gewisse Naturanlage und Übung gelang mir wohl ein Umriß; auch
gestaltete sich leicht zum Bilde, was ich in der Natur vor mir sah;
allein es fehlte mir die eigentliche plastische Kraft, das tüchtige
Bestreben, dem Umriß Körper zu verleihen, durch wohlabgestuftes Hell
und Dunkel. Meine Nachbildungen waren mehr ferne Ahnungen irgend einer
Gestalt, und meine Figuren glichen den leichten Luftwesen in Dantes
Purgatorio, die, keine Schatten werfend, vor dem Schatten wirklicher Körper
sich entsetzen. Durch
Lavaters physiognomische Hetzerei - denn so darf man die ungestüme
Anregung wohl nennen, womit er alle Menschen nicht allein zur
Kontemplation der Physiognomien, sondern auch zur künstlerischen oder
pfuscherhaften praktischen Nachbildung der Gesichtsformen zu nötigen
bemüht war - hatte ich mir eine Übung verschafft, die Porträte von
Freunden auf grau Papier mit schwarzer und weißer Kreide darzustellen.
Die Ähnlichkeit war nicht zu verkennen, aber es bedurfte die Hand
meines künstlerischen Freundes, um sie aus dem düstern Grunde
hervortreten zu machen. Beim
Durchblättern und Durchschauen der reichlichen Portefeuilles, welche
der gute Kraus von seinen Reisen mitgebracht hatte, war die liebste
Unterhaltung, wenn er landschaftliche oder persönliche Darstellungen
vorlegte, der weimarische Kreis und dessen Umgebung. Auch ich verweilte
sehr gerne dabei, weil es dem Jüngling schmeicheln mußte, so viele
Bilder nur als Text zu betrachten von einer umständlichen wiederholten
Ausführung: daß man mich dort zu sehen wünsche. Gar anmutig wußte er
seine Grüße, seine Einladungen durch nachgebildete Persönlichkeit zu
beleben. Ein wohlgelungenes Ölbild stellte den Kapellmeister Wolf am Flügel
und seine Frau hinter ihm zum Singen sich bereitend vor; der Künstler
selbst wußte zugleich gar dringend auszulegen, wie freundlich dieses
werte Paar mich empfangen würde. Unter seinen Zeichnungen fanden sich
mehrere, bezüglich auf die Wald- und Berggegend um Bürgel. Ein
wackerer Forstmann hatte daselbst, vielleicht mehr seinen anmutigen Töchtern
als sich selbst zu Liebe, rauhgestaltete Felspartien, Gebüsch und
Waldstrecken durch Brücken, Geländer und sanfte Pfade gesellig
wandelbar gemacht; man sah die Frauenzimmer in weißen Kleidern auf
anmutigen Wegen, nicht ohne Begleitung. An dem einen jungen Manne sollte
man Bertuch erkennen, dessen ernste Absichten auf die Älteste nicht
geleugnet wurden, und Kraus nahm nicht übel, wenn man einen zweiten
jungen Mann auf ihn und seine aufkeimende Neigung für die Schwester zu
beziehen wagte. Bertuch,
als Zögling Wielands, hatte sich in Kenntnissen und Tätigkeit
dergestalt hervorgetan, daß er, als Geheimsekretär des Herzogs schon
angestellt, das Allerbeste für die Zukunft erwarten ließ. Von Wielands
Rechtlichkeit, Heiterkeit, Gutmütigkeit war durchaus die Rede; auf
seine schönen literarischen und poetischen Vorsätze ward schon ausführlich
hingedeutet und die Wirkung des "Merkur " durch Deutschland
besprochen; gar manche Namen in literarischer, staatsgeschäftlicher und
geselliger Hinsicht hervorgehoben, und in solchem Sinne Musäus, Kirms,
Berendis und Ludecus genannt. Von Frauen war Wolfs Gattin und eine Witwe
Kotzebue, mit einer liebenswürdigen Tochter und einem heitern Knaben,
nebst manchen andern rühmlich und charakteristisch bezeichnet. Alles
deutete auf ein frisch tätiges literarisches und Künstlerleben. Und
so schilderte sich nach und nach das Element, worauf der junge Herzog
nach seiner Rückkehr wirken sollte; einen solchen Zustand hatte die
Frau Obervormünderin vorbereitet; was aber die Ausführung wichtiger
Geschäfte betraf, war, wie es unter solchen provisorischen Verwaltungen
Pflicht ist, der Überzeugung, der Tatkraft des künftigen Regenten überlassen.
Die durch den Schloßbrand gewirkten greulichen Ruinen betrachtete man
schon als Anlaß zu neuen Tätigkeiten. Das in Stocken geratene Bergwerk
zu Ilmenau, dem man durch kostspielige Unterhaltung des tiefen Stollens
eine mögliche Wiederaufnahme zu sichern gewußt, die Akademie Jena, die
hinter dem Zeitsinn einigermaßen zurückgeblieben und mit dem Verlust
gerade sehr tüchtiger Lehrer bedroht war, wie so vieles andere, regte
einen edlen Gemeinsinn auf. Man blickte nach Persönlichkeiten umher,
die in dem aufstrebenden Deutschland so mannigfaches Gute zu fördern
berufen sein könnten, und so zeigte sich durchaus eine frische
Aussicht, wie eine kräftige und lebhafte Jugend sie nur wünschen
konnte. Und schien es traurig zu sein, eine junge Fürstin ohne die Würde
eines schicklichen Gebäudes in eine sehr mäßige zu ganz andern
Zwecken erbaute Wohnung einzuladen, so gaben die schön gelegenen
wohleingerichteten Landhäuser, Ettersburg, Belvedere und andere
vorteilhafte Lustsitze, Genuß des Gegenwärtigen und Hoffnung, auch in
diesem damals zur Notwendigkeit gewordenen Naturleben sich produktiv und
angenehm tätig zu erweisen. Man
hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehn, wie
das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen
zu nähern gesucht, erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion
hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen,
ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte
versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben.
Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wider wanderte,
suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehören
mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehn, daß es besser sei, den
Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden. Er glaubte in der
Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas
zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb
unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte.
Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich,
denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig,
nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem
Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es
deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe
durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins
willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum
aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche
mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen
hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch,
nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt
hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem
ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete. Unter
die einzelnen Teile der Weltgeschichte, die ich sorgfältiger studierte,
gehörten auch die Ereignisse, welche die nachher vereinigten
Niederlande so berühmt gemacht. Ich hatte die Quellen fleißig
erforscht und mich möglichst unmittelbar zu unterrichten und mir alles
lebendig zu vergegenwärtigen gesucht. Höchst dramatisch waren mir die
Situationen erschienen und als Hauptfigur, um welche sich die übrigen
am glücklichsten versammeln ließen, war mir Graf Egmont aufgefallen,
dessen menschlich ritterliche Größe mir am meisten behagte. Allein zu
meinem Gebrauche mußte ich ihn in einen solchen Charakter umwandeln,
der solche Eigenschaften besaß, die einen Jüngling besser zieren als
einen Mann in Jahren, einen Unbeweibten besser als einen Hausvater,
einen Unabhängigen mehr als einen, der, noch so frei gesinnt, durch
mancherlei Verhältnisse begrenzt ist. Als ich ihn nun so in meinen
Gedanken verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden hatte, gab ich
ihm die ungemeßne Lebenslust, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst,
die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehn (attrattiva) und so die Gunst
des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines
Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen, ja selbst
den Sohn seines größten Widersachers für sich einzunehmen. Die
persönliche Tapferkeit, die den Helden auszeichnet, ist die Base, auf
der sein ganzes Wesen ruht, der Grund und Boden, aus dem es hervorsproßt.
Er kennt keine Gefahr, und verblendet sich über die größte, die sich
ihm nähert. Durch Feinde, die uns umzingeln, schlagen wir uns
allenfalls durch; die Netze der Staatsklugheit sind schwerer zu
durchbrechen. Das Dämonische, was von beiden Seiten im Spiel ist, in
welchem Konflikt das Liebenswürdige untergeht und das Gehaßte
triumphiert, sodann die Aussicht, daß hieraus ein Drittes hervorgehe,
das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde, dieses ist es wohl, was
dem Stücke, freilich nicht gleich bei seiner Erscheinung, aber doch später
und zur rechten Zeit, die Gunst verschafft hat, deren es noch jetzt
genießt. Und so will ich denn auch hier, um mancher geliebten Leser
willen, mir selbst vorgreifen und, weil ich nicht weiß, ob ich so bald
wieder zur Rede gelange, etwas aussprechen, wovon ich mich erst viel später
überzeugte. Obgleich
jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen
manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste
ausspricht; so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten
Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht
entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für
den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen. Für
die Phänomene, welche hiedurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige
Namen: denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und
poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache schließlich abzutun
gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe. Am
furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem
Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich
mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es
sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an
Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure
Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über
alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie
weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen
Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der
Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will,
die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich
Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden,
als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus
solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch
entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse. Von
diesen höheren Betrachtungen kehre ich wieder in mein kleines Leben zurück,
dem aber doch auch seltsame Ereignisse, wenigstens mit einem dämonischen
Schein bekleidet, bevorstanden. Ich war von dem Gipfel des Gotthard,
Italien den Rücken wendend, nach Hause gekehrt, weil ich Lili nicht
entbehren konnte. Eine Neigung, die auf die Hoffnung eines
wechselseitigen Besitzes, eines dauernden Zusammenlebens gegründet ist,
stirbt nicht auf einmal ab, ja sie nährt sich an der Betrachtung rechtmäßiger
Wünsche und redlicher Hoffnungen, die man hegt. Es liegt in der Natur
der Sache, daß sich in solchen Fällen das Mädchen eher bescheidet als
der Jüngling. Als Abkömmlingen Pandorens ist den schönen Kindern die
wünschenswerte Gabe verliehen, anzureizen, anzulocken und mehr durch
Natur mit Halbvorsatz, als durch Neigung, ja mit Frevel um sich zu
versammeln, wobei sie denn oft in Gefahr kommen, wie jener
Zauberlehrling, vor dem Schwall der Verehrer zu erschrecken. Und dann
soll zuletzt denn doch hier gewählt sein, einer soll ausschließlich
vorgezogen werden, einer die Braut nach Hause führen. Und
wie zufällig ist es, was hier der Wahl eine Richtung gibt, die Auswählende
bestimmt! Ich hatte auf Lili mit Überzeugung Verzicht getan, aber die
Liebe machte mir diese Überzeugung verdächtig. Lili hatte in gleichem
Sinne von mir Abschied genommen, und ich hatte die schöne zerstreuende
Reise angetreten; aber sie bewirkte gerade das Umgekehrte. Solange ich
abwesend war, glaubte ich an die Trennung, glaubte nicht an die
Scheidung. Alle Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche hatten ein freies
Spiel. Nun kam ich zurück, und wie das Wiedersehn der frei und freudig
Liebenden ein Himmel ist, so ist das Wiedersehn von zwei nur durch
Vernunftgründe getrennten Personen ein unleidliches Fegefeuer, ein
Vorhof der Hölle. Als ich in die Umgebung Lilis zurückkam, fühlte ich
alle jene Mißhelligkeiten doppelt, die unser Verhältnis gestört
hatten; als ich wieder vor sie selbst hintrat, fiel mirs hart aufs Herz,
daß sie für mich verloren sei. Ich entschloß mich daher abermals zur
Flucht, und es konnte mir deshalb nichts erwünschter sein, als daß das
junge herzoglich weimarische Paar von Karlsruhe nach Frankfurt kommen
und ich, früheren und späteren Einladungen gemäß, ihnen nach Weimar
folgen sollte. Von seiten jener Herrschaften hatte sich ein gnädiges,
ja zutrauliches Betragen immer gleich erhalten, das ich von meiner Seite
mit leidenschaftlichem Danke erwiderte. Meine Anhänglichkeit an den
Herzog von dem ersten Augenblicke an, meine Verehrung gegen die
Prinzessin, die ich schon so lange, obgleich nur von Ansehn, kannte,
mein Wunsch, Wielanden, der sich so liberal gegen mich betragen hatte,
persönlich etwas Freundliches zu erzeigen und an Ort und Stelle meine
halb mutwilligen, halb zufälligen Unarten wieder gut zu machen, waren
Beweggründe genug, die auch einen leidenschaftslosen Jüngling hätten
aufreizen, ja antreiben sollen. Nun kam aber noch hinzu, daß ich, auf
welchem Wege es wolle, vor Lili flüchten mußte, es sei nun nach Süden,
wo mir die täglichen Erzählungen meines Vaters den herrlichsten Kunst-
und Naturhimmel vorbildeten, oder nach Norden, wo mich ein so
bedeutender Kreis vorzüglicher Menschen einlud. Das
junge fürstliche Paar erreichte nunmehr auf seinem Rückwege Frankfurt.
Der herzoglich meiningische Hof war zu gleicher Zeit daselbst, und auch
von diesem und dem die jungen Prinzen geleitenden Geheimenrat von Dürckheim
ward ich aufs freundlichste aufgenommen. Damit aber ja, nach
jugendlicher Weise, es nicht an einem seltsamen Ereignis fehlen möchte,
so setzte mich ein Mißverständnis in eine unglaubliche, obgleich
ziemlich heitere Verlegenheit. Die weimarischen und meiningischen
Herrschaften wohnten in einem Gasthof. Ich ward zur Tafel gebeten. Der
weimarische Hof lag mir dergestalt im Sinne, daß mir nicht einfiel,
mich näher zu erkundigen, weil ich auch nicht einmal einbildisch genug
war zu glauben, man wolle von meiningischer Seite auch einige Notiz von
mir nehmen. Ich gehe wohlangezogen in den "Römischen Kaiser
", finde die Zimmer der weimarischen Herrschaften leer, und da es
heißt, sie wären bei den meiningischen, verfüge ich mich dorthin und
werde freundlich empfangen. Ich denke, dies sei ein Besuch vor Tafel
oder man speise vielleicht zusammen, und erwarte den Ausgang. Allein auf
einmal setzt sich die weimarische Suite in Bewegung, der ich denn auch
folge; allein sie geht nicht etwa in ihre Gemächer, sondern gerade die
Treppe hinunter in ihre Wägen, und ich finde mich eben allein auf der
Straße. Anstatt mich nun gewandt und klug nach der Sache umzutun und
irgend einen Aufschluß zu suchen, ging ich, nach meiner entschlossenen
Weise, sogleich meinen Weg nach Hause, wo ich meine Eltern beim
Nachtische fand. Mein Vater schüttelte den Kopf, indem meine Mutter
mich so gut als möglich zu entschädigen suchte. Sie vertraute mir
abends: als ich weggegangen, habe mein Vater sich geäußert, er wundre
sich höchlich, wie ich, doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, nicht
einsehen wollte, daß man nur von jener Seite mich zu necken und mich zu
beschämen gedächte. Aber dieses konnte mich nicht rühren: denn ich
war schon Herrn von Dürckheim begegnet, der mich, nach seiner milden
Art, mit anmutigen scherzhaften Vorwürfen zur Rede stellte. Nun war ich
aus meinem Traum erwacht und hatte Gelegenheit, für die mir gegen mein
Hoffen und Erwarten zugedachte Gnade recht artig zu danken und mir
Verzeihung zu erbitten. Nachdem
ich daher so freundlichen Anträgen aus guten Gründen nachgegeben
hatte, so ward folgendes verabredet. Ein in Karlsruhe zurückgebliebener
Kavalier, welcher einen in Straßburg verfertigten Landauer Wagen
erwarte, werde an einem bestimmten Tage in Frankfurt eintreffen, ich
solle mich bereit halten, mit ihm nach Weimar sogleich abzureisen. Der
heitere und gnädige Abschied, den ich von den jungen Herrschaften
erfuhr, das freundliche Betragen der Hofleute machten mir diese Reise höchst
wünschenswert, wozu sich der Weg so angenehm zu ebnen schien. Aber auch
hier sollte durch Zufälligkeiten eine so einfache Angelegenheit
verwickelt, durch Leidenschaftlichkeit verwirrt und nahezu völlig
vernichtet werden: denn nachdem ich überall Abschied genommen und den
Tag meiner Abreise verkündet, sodann aber eilig eingepackt und dabei
meiner ungedruckten Schriften nicht vergessen, erwartete ich die Stunde,
die den gedachten Freund im neuen Wagen herbeiführen und mich in eine
neue Gegend, in neue Verhältnisse bringen sollte. Die
Stunde verging, der Tag auch, und da ich, um nicht zweimal Abschied zu
nehmen, und überhaupt, um nicht durch Zulauf und Besuch überhäuft zu
sein, mich seit dem besagten Morgen als abwesend angegeben hatte; so mußte
ich mich im Hause, ja in meinem Zimmer still halten und befand mich
daher in einer sonderbaren Lage. Weil aber die Einsamkeit und Enge
jederzeit für mich etwas sehr Günstiges hatte, indem ich solche
Stunden zu nutzen gedrängt war, so schrieb ich an meinem "Egmont
" fort und brachte ihn beinahe zustande. Ich las ihn meinem Vater
vor, der eine ganz eigne Neigung zu diesem Stück gewann, und nichts
mehr wünschte, als es fertig und gedruckt zu sehn, weil er hoffte, daß
der gute Ruf seines Sohns dadurch sollte vermehrt werden. Eine solche
Beruhigung und neue Zufriedenheit war ihm aber auch nötig: denn er
machte über das Außenbleiben des Wagens die bedenklichsten Glossen. Er
hielt das Ganze abermals nur für eine Erfindung, glaubte an keinen
neuen Landauer, hielt den zurückgebliebenen Kavalier für ein
Luftgespenst; welches er mir zwar nur indirekt zu verstehen gab, dagegen
aber sich und meine Mutter desto ausführlicher quälte, indem er das
Ganze als einen lustigen Hofstreich ansah, den man in Gefolg meiner
Unarten habe ausgehn lassen, um mich zu kränken und zu beschämen, wenn
ich nunmehr statt jener gehofften Ehre schimpflich sitzen geblieben. Ich
selbst hielt zwar anfangs am Glauben fest, freute mich über die
eingezogenen Stunden, die mir weder von Freunden, noch Fremden, noch
sonst einer geselligen Zerstreuung verkümmert wurden, und schrieb, wenn
auch nicht ohne innere Agitation, am "Egmont " rüstig fort.
Und diese Gemütsstimmung mochte wohl dem Stück selbst zugute kommen,
das, von so viel Leidenschaften bewegt, nicht wohl von einem ganz
Leidenschaftslosen hätte geschrieben werden können. So vergingen acht
Tage, und ich weiß nicht, wie viel drüber, und diese völlige
Einkerkerung fing an mir beschwerlich zu werden. Seit mehreren Jahren
gewohnt unter freiem Himmel zu leben, gesellt zu Freunden, mit denen ich
in dem aufrichtigsten geschäftigsten Wechselverhältnisse stand, in der
Nähe einer Geliebten, von der ich zwar mich zu trennen den Vorsatz gefaßt,
die mich aber doch, solange noch die Möglichkeit war mich ihr zu nähern,
gewaltsam zu sich forderte, - alles dieses fing an, mich dergestalt zu
beunruhigen, daß die Anziehungskraft meiner Tragödie sich zu
vermindern und die poetische Produktionskraft durch Ungeduld aufgehoben
zu werden drohte. Schon einige Abende war es mir nicht möglich gewesen,
zu Haus zu bleiben. In einen großen Mantel gehüllt schlich ich in der
Stadt umher, an den Häusern meiner Freunde und Bekannten vorbei, und
versäumte nicht, auch an Lilis Fenster zu treten. Sie wohnte im
Erdgeschoß eines Eckhauses, die grünen Rouleaux waren niedergelassen,
ich konnte aber recht gut bemerken, daß die Lichter am gewöhnlichen
Platze standen. Bald hörte ich sie zum Klaviere singen, es war das
Lied: Ach wie ziehst du mich unwiderstehlich! das nicht ganz vor einem
Jahr an sie gedichtet ward. Es mußte mir scheinen, daß sie es
ausdrucksvoller sänge als jemals, ich konnte es deutlich Wort vor Wort
verstehn; ich hatte das Ohr so nahe angedrückt, wie nur das auswärts
gebogene Gitter erlaubte. Nachdem sie es zu Ende gesungen, sah ich an
dem Schatten, der auf die Rouleaux fiel, daß sie aufgestanden war; sie
ging hin und wider, aber vergebens suchte ich den Umriß ihres
lieblichen Wesens durch das dichte Gewebe zu erhaschen. Nur der feste
Vorsatz mich wegzubegeben, ihr nicht durch meine Gegenwart beschwerlich
zu sein, ihr wirklich zu entsagen, und die Vorstellung, was für ein
seltsames Aufsehen mein Wiedererscheinen machen müßte, konnte mich
entscheiden, die so liebe Nähe zu verlassen. Noch
einige Tage verstrichen, und die Hypothese meines Vaters gewann immer
mehr Wahrscheinlichkeit, da auch nicht einmal ein Brief von Karlsruhe
kam, welcher die Ursachen der Verzögerung des Wagens angegeben hätte.
Meine Dichtung geriet ins Stocken, und nun hatte mein Vater gutes Spiel
bei der Unruhe, von der ich innerlich zerarbeitet war. Er stellte mir
vor: die Sache sei nun einmal nicht zu ändern, mein Koffer sei gepackt,
er wolle mir Geld und Kredit geben, nach Italien zu gehn, ich müsse
mich aber gleich entschließen aufzubrechen. In einer so wichtigen Sache
zweifelnd und zaudernd, ging ich endlich darauf ein, daß, wenn zu einer
bestimmten Stunde weder Wagen noch Nachricht eingelaufen sei, ich
abreisen, und zwar zuerst nach Heidelberg, von dannen aber nicht wieder
durch die Schweiz sondern nunmehr durch Graubünden oder Tirol über die
Alpen gehen wolle. Wunderbare
Dinge müssen freilich entstehn, wenn eine planlose Jugend, die sich
selbst so leicht mißleitet, noch durch einen leidenschaftlichen Irrtum
des Alters auf einen falschen Weg getrieben wird. Doch darum ist es
Jugend und Leben überhaupt, daß wir die Strategie gewöhnlich erst
einsehn lernen, wenn der Feldzug vorbei ist. Im reinen Geschäftsgang wär
ein solches Zufälliges leicht aufzuklären gewesen, aber wir verschwören
uns gar zu gern mit dem Irrtum gegen das Natürlichwahre, so wie wir die
Karten mischen, eh wir sie herumgeben, damit ja dem Zufall sein Anteil
an der Tat nicht verkümmert werde; und so entsteht gerade das Element,
worin und worauf das Dämonische so gern wirkt und uns nur desto
schlimmer mitspielt, je mehr wir Ahndung von seiner Nähe haben. Der
letzte Tag war verstrichen, den andern Morgen sollte ich abreisen, und
nun drängte es mich unendlich, meinen Freund Passavant, der eben aus
der Schweiz zurückgekehrt war, noch einmal zu sehn, weil er wirklich
Ursache gehabt hätte zu zürnen, wenn ich unser inniges Vertrauen durch
völlige Geheimhaltung verletzt hätte. Ich beschied ihn daher durch
einen Unbekannten nachts an einen gewissen Platz, wo ich, in meinen
Mantel gewickelt, eher eintraf als er, der auch nicht ausblieb und, wenn
er schon verwundert über die Bestellung gewesen war, sich noch mehr über
den verwunderte, den er am Platze fand. Die Freude war dem Erstaunen
gleich, an Beredung und Beratung war nicht zu denken; er wünschte mir
Glück zur italienischen Reise, wir schieden, und den andern Tag sah ich
mich schon bei guter Zeit an der Bergstraße. Daß ich mich nach
Heidelberg begab, dazu hatte ich mehrere Ursachen: eine verständige;
denn ich hatte gehört, der Freund würde von Karlsruhe über Heidelberg
kommen, und sogleich gab ich, angelangt, auf der Post ein Billet ab, das
man einem auf bezeichnete Weise durchreisenden Kavalier einhändigen
sollte; die zweite Ursache war leidenschaftlich und bezog sich auf mein
früheres Verhältnis zu Lili. Demoiselle Delph nämlich, welche die
Vertraute unserer Neigung, ja die Vermittlerin einer ernstlichen
Verbindung bei den Eltern gewesen war, wohnte daselbst, und ich schätzte
mir es für das größte Glück, ehe ich Deutschland verließ, noch
einmal jene glücklichen Zeiten mit einer werten geduldigen und
nachsichtigen Freundin durchschwätzen zu können. Ich ward wohl
empfangen und in manche Familie eingeführt, wie ich mir denn in dem
Hause des Oberforstmeisters von Wrede sehr wohlgefiel. Die Eltern waren
anständig behagliche Personen, die eine Tochter ähnelte Friedriken. Es
war gerade die Zeit der Weinlese, das Wetter schön und alle die
elsassischen Gefühle lebten in dem schönen Rhein- und Neckartale in
mir wieder auf. Ich hatte diese Zeit an mir und andern Wunderliches
erlebt, aber es war noch alles im Werden, kein Resultat des Lebens hatte
sich in mir hervorgetan, und das Unendliche, was ich gewahrt hatte,
verwirrte mich vielmehr. Aber in Gesellschaft war ich noch wie sonst, ja
vielleicht gefälliger und unterhaltender. Hier, unter diesem freien
Himmel, unter den frohen Menschen, suchte ich die alten Spiele wieder
auf, die der Jugend immer neu und reizend bleiben. Eine frühere noch
nicht erloschene Liebe im Herzen, erregte ich Anteil ohne es zu wollen,
auch wenn ich sie verschwieg, und so ward ich auch in diesem Kreise bald
einheimisch, ja notwendig, und vergaß, daß ich nach ein paar verschwätzten
Abenden meine Reise fortzusetzen den Plan hatte. Demoiselle Delph war
eine von den Personen, die, ohne gerade intrigant zu sein, immer ein
Geschäft haben, andere beschäftigen und bald diese bald jene Zwecke
durchführen wollen. Sie hatte eine tüchtige Freundschaft zu mir gefaßt,
und konnte mich um so eher verleiten länger zu verweilen, da ich in
ihrem Hause wohnte, wo sie meinem Dableiben allerlei Vergnügliches
vorhalten, und meiner Abreise allerlei Hindernisse in den Weg legen
konnte. Wenn ich das Gespräch auf Lili lenken wollte, war sie nicht so
gefällig und teilnehmend, wie ich gehofft hatte. Sie lobte vielmehr
unsern beiderseitigen Vorsatz, uns unter den bewandten Umständen zu
trennen, und behauptete, man müsse sich in das Unvermeidliche ergeben,
das Unmögliche aus dem Sinne schlagen, und sich nach einem neuen
Lebensinteresse umsehn. Planvoll, wie sie war, hatte sie dies nicht dem
Zufall überlassen wollen, sondern sich schon zu meinem künftigen
Unterkommen einen Entwurf gebildet, aus dem ich nun wohl sah, daß ihre
letzte Einladung nach Heidelberg nicht so absichtlos gewesen, als es
schien. Kurfürst
Karl Theodor nämlich, der für die Künste und Wissenschaften so viel
getan, residierte noch zu Mannheim, und gerade weil der Hof katholisch,
das Land aber protestantisch war, so hatte die letztre Partei alle
Ursache, sich durch rüstige und hoffnungsvolle Männer zu verstärken.
Nun sollte ich in Gottes Namen nach Italien gehn und dort meine
Einsichten in dem Kunstfach ausbilden, indessen wolle man für mich
arbeiten, es werde sich bei meiner Rückkunft ausweisen, ob die
aufkeimende Neigung der Fräulein von Wrede gewachsen oder erloschen,
und ob es tätlich sei, durch die Verbindung mit einer angesehnen
Familie, mich und mein Glück in einem neuen Vaterlande zu begründen.
Dieses alles lehnte ich zwar nicht ab, allein mein planloses Wesen
konnte sich mit der Planmäßigkeit meiner Freundin nicht ganz
vereinigen; ich genoß das Wohlwollen des Augenblicks, Lilis Bild
schwebte mir wachend und träumend vor und mischte sich in alles andre,
was mir hätte gefallen oder mich zerstreuen können. Nun rief ich mir
aber den Ernst meines großen Reiseunternehmens vor die Seele und
beschloß, auf eine sanfte und artige Weise mich loszulösen und in
einigen Tagen meinen Weg weiter fortzusetzen. Bis
tief in die Nacht hinein hatte Demoiselle Delph mir ihre Plane und was
man für mich zu tun willens war, im einzelnen dargestellt, und ich
konnte nicht anders als dankbar solche Gesinnungen verehren, obgleich
die Absicht eines gewissen Kreises, sich durch mich und meine mögliche
Gunst bei Hofe zu verstärken, nicht ganz zu verkennen war. Wir trennten
uns erst gegen eins. Ich hatte nicht lange aber tief geschlafen, als das
Horn eines Postillons mich weckte, der reitend vor dem Hause hielt. Bald
darauf erschien Demoiselle Delph mit einem Licht und Brief in den Händen
und trat vor mein Lager. "Da haben wir's!" rief sie aus.
"Lesen Sie, sagen Sie mir, was es ist. Gewiß kommt es von den
Weimarischen. Ist es eine Einladung, so folgen Sie ihr nicht, und
erinnern sich an unsre Gespräche." Ich bat sie um das Licht und um
eine Viertelstunde Einsamkeit. Sie verließ mich ungern. Ohne den Brief
zu eröffnen, sah ich eine Weile vor mich hin. Die Stafette kam von
Frankfurt, ich kannte Siegel und Hand, der Freund war also dort
angekommen, er lud mich ein, und der Unglaube und Ungewißheit hatten
uns übereilt. Warum sollte man nicht in einem ruhigen bürgerlichen
Zustande auf einen sicher angekündigten Mann warten, dessen Reise durch
so manche Zufälle verspätet werden konnte? Es fiel mir wie Schuppen
von den Augen. Alle vorhergegangene Güte, Gnade, Zutrauen stellte sich
mir lebhaft wieder vor, ich schämte mich fast meines wunderlichen
Seitensprungs. Nun eröffnete ich den Brief, und alles war ganz natürlich
zugegangen. Mein ausgebliebener Geleitsmann hatte auf den neuen Wagen,
der von Straßburg kommen sollte, Tag für Tag, Stunde für Stunde, wie
wir auf ihn geharrt, war alsdann Geschäfts wegen über Mannheim nach
Frankfurt gegangen, und hatte dort zu seinem Schreck mich nicht
gefunden. Durch eine Stafette sendete er gleich das eilige Blatt ab,
worin er voraussetzte, daß ich sofort nach aufgeklärtem Irrtume zurückkehren
und ihm nicht die Beschämung bereiten wolle, ohne mich in Weimar
anzukommen. So
sehr sich auch mein Verstand und Gemüt gleich auf diese Seite neigte,
so fehlte es doch meiner neuen Richtung auch nicht an einem bedeutenden
Gegengewicht. Mein Vater hatte mir einen gar hübschen Reiseplan
aufgesetzt und mir eine kleine Bibliothek mitgegeben, durch die ich mich
vorbereiten und an Ort und Stelle leiten könnte. In müßigen Stunden
hatte ich bisher keine andere Unterhaltung gehabt, sogar auf meiner
letzten kleinen Reise im Wagen nichts anders gedacht. Jene herrlichen
Gegenstände, die ich von Jugend auf durch Erzählung und Nachbildung
aller Art kennen gelernt, sammelten sich vor meiner Seele, und ich
kannte nichts Erwünschteres, als mich ihnen zu nähern, indem ich mich
entschieden von Lili entfernte. Ich
hatte mich indes angezogen und ging in der Stube auf und ab. Meine
ernste Wirtin trat herein. "Was soll ich hoffen?" rief sie
aus. "Meine Beste", sagte ich, "reden Sie mir nichts ein,
ich bin entschlossen zurückzukehren; die Gründe habe ich selbst bei
mir abgewogen, sie zu wiederholen würde nichts fruchten. Der Entschluß
am Ende muß gefaßt werden, und wer soll ihn fassen als der, den er
zuletzt angeht?" Ich war bewegt, sie auch, und es gab eine heftige
Szene, die ich dadurch endigte, daß ich meinem Burschen befahl, Post zu
bestellen. Vergebens bat ich meine Wirtin, sich zu beruhigen und den
scherzhaften Abschied, den ich gestern abend bei der Gesellschaft
genommen hatte, in einen wahren zu verwandeln, zu bedenken, daß es nur
auf einen Besuch, auf eine Aufwartung für kurze Zeit angesehn sei, daß
meine italienische Reise nicht aufgehoben, meine Rückkehr hierher nicht
abgeschnitten sei. Sie wollte von nichts wissen und beunruhigte den
schon Bewegten noch immer mehr. Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt
war, der Postillon ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld
erschallen, ich riß mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen,
und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so,
daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts
ausrief: "Kind,
Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die
Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und
uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald
rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder
abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum,
woher er kam."
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Wolfgang
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