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Johann Wolfgang
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Drittes BuchDer
Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persönlichen
Glückwünschungen für die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht
aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Gönnern und
Freunden einen Augenblick freundlich und höflich zu sein. Für uns
Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Großvaters an
diesem Tage ein höchst erwünschter Genuß. Mit dem frühsten Morgen
waren die Enkel schon daselbst versammelt, um die Trommeln, die Hoboen
und Klarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das Militär, die
Stadtmusici und wer sonst alles ertönen ließ, zu vernehmen. Die
versiegelten und überschriebenen Neujahrsgeschenke wurden von den
Kindern unter die geringern Gratulanten ausgeteilt, und wie der Tag
wuchs, so vermehrte sich die Anzahl der Honoratioren. Erst erschienen
die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren
vom Rate selbst verfehlten nicht ihren Schultheiß zu begrüßen, und
eine auserwählte Anzahl wurde abends in Zimmern bewirtet, welche das
ganze Jahr über kaum sich öffneten. Die Torten, Biskuitkuchen,
Marzipane, der süße Wein übte den größten Reiz auf die Kinder aus,
wozu noch kam, daß der Schultheiß sowie die beiden Burgemeister aus
einigen Stiftungen jährlich etwas Silberzeug erhielten, welches denn
den Enkeln und Paten nach einer gewissen Abstufung verehrt werd; genug,
es fehlte diesem Feste im kleinen an nichts, was die größten zu
verherrlichen pflegt. Der
Neujahrstag 1759 kam heran, für uns Kinder erwünscht und vergnüglich
wie die vorigen, aber den altern Personen bedenklich und ahnungsvoll.
Die Durchmärsche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten
sich öfters und häufig, aber doch am häufigsten in den letzten Tagen
des vergangenen Jahres. Nach alter reichsstädtischer Sitte posaunte der
Türmer des Hauptturms, so oft Truppen heranrückten, und an diesem
Neujahrstage wollte er gar nicht aufhören, welches ein Zeichen war, daß
größere Heereszüge von mehreren Seiten in Bewegung seien. Wirklich
zogen sie auch in größeren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man
lief, sie vorbeipassieren zu sehen, sonst war man gewohnt, daß sie nur
in kleinen Partien durchmarschierten; diese aber vergrößerten sich
nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Genug, am
2. Januar, nachdem eine Kolonne durch Sachsenhausen über die Brücke
durch die Fahrgasse bis an die Konstablerwache gelangt war, machte sie
Halt, überwältigte das kleine, sie durchführende Kommando, nahm
Besitz von gedachter Wache, zog die Zeile hinunter, und nach einem
geringen Widerstand mußte sich auch die Hauptwache ergeben. Augenblicks
waren die friedlichen Straßen in einen Kriegsschauplatz verwandelt.
Dort verharrten und biwakierten die Truppen, bis durch regelmäßige
Einquartierung für ihr Unterkommen gesorgt wäre. Diese
unerwartete, seit vielen Jahren unerhörte Last drückte die behaglichen
Bürger gewaltig, und niemanden konnte sie beschwerlicher sein als dem
Vater, der in sein kaum vollendetes Haus fremde militärische Bewohner
aufnehmen, ihnen seine wohlaufgeputzten und meist verschlossenen
Staatszimmer einräumen, und das, was er so genau zu ordnen und zu
regieren pflegte, fremder Willkür preisgeben sollte; er, ohnehin preußisch
gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in seinen Zimmern belagert sehen:
es war das Traurigste, was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte. Wäre
es ihm jedoch möglich gewesen, die Sache leichter zu nehmen, da er gut
französisch sprach und im Leben sich wohl mit Würde und Anmut betragen
konnte, so hätte er sich und uns manche trübe Stunde ersparen mögen;
denn man quartierte bei uns den Königslieutenant, der, obgleich Militärperson,
doch nur die Zivilvorfälle, die Streitigkeiten zwischen Soldaten und Bürgern,
Schuldensachen und Händel zu schlichten hatte. Es war Graf Thoranc, von
Grasse in der Provence ohnweit Antibes gebürtig, eine lange, hagre,
ernste Gestalt, das Gesicht durch die Blattern sehr entstellt, mit
schwarzen feurigen Augen, und von einem würdigen zusammengenommenen
Betragen. Gleich sein Eintritt war für den Hausbewohner günstig. Man
sprach von den verschiedenen Zimmern, welche teils abgegeben werden,
teils der Familie verbleiben sollten, und als der Graf ein Gemäldezimmer
erwähnen hörte, so erbat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit
Kerzen die Bilder wenigstens flüchtig zu besehen. Er hatte an diesen
Dingen eine übergroße Freude, bezeigte sich gegen den ihn begleitenden
Vater auf das verbindlichste, und als er vernahm, daß die meisten Künstler
noch lebten, sich in Frankfurt und in der Nachbarschaft aufhielten, so
versicherte er, daß er nichts mehr wünsche, als sie baldigst kennen zu
lernen und sie zu beschäftigen. Aber
auch diese Annäherung von seiten der Kunst vermochte nicht die
Gesinnung meines Vaters zu ändern, noch seinen Charakter zu beugen. Er
ließ geschehen, was er nicht verhindern konnte, hielt sich aber in
unwirksamer Entfernung, und das Außerordentliche, was nun um ihn
vorging, war ihm bis auf die geringste Kleinigkeit unerträglich. Graf
Thoranc indessen betrug sich musterhaft. Nicht einmal seine Landkarten
wollte er an die Wände genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu
verderben. Seine Leute waren gewandt, still und ordentlich; aber
freilich, da den ganzen Tag und einen Teil der Nacht nicht Ruhe bei ihm
werd, da ein Klagender dem andern folgte, Arrestanten gebracht und
fortgeführt, alle Offiziere und Adjutanten vorgelassen wurden, da der
Graf noch überdies täglich offne Tafel hielt: so gab es in dem mäßig
großen, nur für eine Familie eingerichteten Hause, das nur eine durch
alle Stockwerke unverschlossen durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung
und ein Gesumme wie in einem Bienenkorbe, obgleich alles sehr gemäßigt,
ernsthaft und streng zuging. Zum
Vermittler zwischen einem verdrießlichen, täglich mehr sich
hypochondrisch quälenden Hausherrn und einem zwar wohlwollenden, aber
sehr ernsten und genauen Militärgast fand sich glücklicherweise ein
behaglicher Dolmetscher, ein schöner, wohlbeleibter, heitrer Mann, der
Bürger von Frankfurt war und gut französisch sprach, sich in alles zu
schicken wußte und mit mancherlei kleinen Unannehmlichkeiten nur seinen
Spaß trieb. Durch diesen hatte meine Mutter dem Grafen ihre Lage bei
dem Gemütszustande ihres Gatten vorstellen lassen; er hatte die Sache
so klüglich ausgemalt, das neue, noch nicht einmal ganz eingerichtete
Haus, die natürliche Zurückgezogenheit des Besitzers, die Beschäftigung
mit der Erziehung seiner Familie und was sich alles sonst noch sagen ließ,
zu bedenken gegeben, so daß der Graf, der an seiner Stelle auf die höchste
Gerechtigkeit, Unbestechlichkeit und ehrenvollen Wandel den größten
Stolz setzte, auch hier sich als Einquartierter musterhaft zu betragen
vornahm, und es wirklich die einigen Jahre seines Dableibens unter
mancherlei Umständen unverbrüchlich gehalten hat. Meine
Mutter besaß einige Kenntnis des Italienischen, welche Sprache überhaupt
niemanden von der Familie fremd war; sie entschloß sich daher sogleich
Französisch zu lernen, zu welchem Zweck der Dolmetscher, dem sie unter
diesen stürmischen Ereignissen ein Kind aus der Taufe gehoben hatte,
und der nun auch als Gevatter zu dem Hause eine doppelte Neigung spürte,
seiner Gevatterin jeden abgemüßigten Augenblick schenkte (denn er
wohnte gerade gegenüber) und ihr vor allen Dingen diejenigen Phrasen
einlernte, welche sie persönlich dem Grafen vorzutragen habe; welches
denn zum besten geriet. Der Graf war geschmeichelt von der Mühe, welche
die Hausfrau sich in ihren Jahren gab, und weil er einen heitern
geistreichen Zug in seinem Charakter hatte, auch eine gewisse trockne
Galanterie gern ausübte, so entstand daraus das beste Verhältnis, und
die verbündeten Gevattern konnten erlangen, was sie wollten. Wäre
es, wie schon gesagt, möglich gewesen, den Vater zu erheitern, so hätte
dieser veränderte Zustand wenig Drückendes gehabt. Der Graf übte die
strengste Uneigennützigkeit; selbst Gaben, die seiner Stelle gebührten,
lehnte er ab; das Geringste, was einer Bestechung hätte ähnlich sehen
können, wurde mit Zorn, ja mit Strafe weggewiesen; seinen Leuten war
aufs strengste befohlen, dem Hausbesitzer nicht die mindesten Unkosten
zu machen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich vom Nachtische
mitgeteilt. Bei dieser Gelegenheit muß ich, um von der Unschuld jener
Zeiten einen Begriff zu geben, anführen, daß die Mutter uns eines
Tages höchlich betrübte, indem sie das Gefrorene, das man uns von der
Tafel sendete, weggoß, weil es ihr unmöglich vorkam, daß der Magen
ein wahrhaftes Eis, wenn es auch noch so durchzuckert sei, vertragen könne. Außer
diesen Leckereien, die wir denn doch allmählich ganz gut genießen und
vertragen lernten, deuchte es uns Kindern auch noch gar behaglich, von
genauen Lehrstunden und strenger Zucht einigermaßen entbunden zu sein.
Des Vaters üble Laune nahm zu, er konnte sich nicht in das
Unvermeidliche ergeben. Wie sehr quälte er sich, die Mutter und den
Gevatter, die Ratsherren, alle seine Freunde, nur um den Grafen los zu
werden! Vergebens stellte man ihm vor, daß die Gegenwart eines solchen
Mannes im Hause, unter den gegebenen Umständen, eine wahre Wohltat sei,
daß ein ewiger Wechsel, es sei nun von Offizieren oder Gemeinen, auf
die Umquartierung des Grafen folgen würde. Keins von diesen Argumenten
wollte bei ihm greifen. Das Gegenwärtige schien ihm so unerträglich,
daß ihn sein Unmut ein Schlimmeres, das folgen könnte, nicht gewahr
werden ließ. Auf
diese Weise ward seine Tätigkeit gelähmt, die er sonst hauptsächlich
auf uns zu wenden gewohnt war. Das, was er uns aufgab, forderte er nicht
mehr mit der sonstigen Genauigkeit, und wir suchten, wie es nur möglich
schien, unsere Neugierde an militärischen und andern öffentlichen
Dingen zu befriedigen, nicht allein im Hause, sondern auch auf den Straßen,
welches um so leichter anging, da die Tag und Nacht unverschlossene
Haustüre von Schildwachen besetzt war, die sich um das Hin-und
Widerlaufen unruhiger Kinder nicht bekümmerten. Die
mancherlei Angelegenheiten, die vor dem Richterstuhle des Königslieutenants
geschlichtet wurden, hatten dadurch noch einen ganz besondern Reiz, daß
er einen eigenen Wert darauf legte, seine Entscheidungen zugleich mit
einer witzigen, geistreichen, heitern Wendung zu begleiten. Was er
befahl, war streng gerecht; die Art, wie er es ausdrückte, war launig
und pikant. Er schien sich den Herzog von Osuna zum Vorbilde genommen zu
haben. Es verging kaum ein Tag, daß der Dolmetscher nicht eine oder die
andere solche Anekdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzählte. Es
hatte dieser muntere Mann eine kleine Sammlung solcher salomonischen
Entscheidungen gemacht; ich erinnere mich aber nur des Eindrucks im
allgemeinen, ohne im Gedächtnis ein Besonderes wieder zu finden. Den
wunderbaren Charakter des Grafen lernte man nach und nach immer mehr
kennen. Dieser Mann war sich selbst seiner Eigenheiten aufs deutlichste
bewußt, und weil er gewisse Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von
Unmut, Hypochondrie, oder wie man den bösen Dämon nennen soll, überfiel,
so zog er sich in solchen Stunden, die sich manchmal zu Tagen verlängerten,
in sein Zimmer zurück, sah niemanden als seinen Kammerdiener, und war
selbst in dringenden Fällen nicht zu bewegen, daß er Audienz gegeben hätte.
Sobald aber der böse Geist von ihm gewichen war, erschien er nach wie
vor mild, heiter und tätig. Aus den Reden seines Kammerdieners,
Saint-Jean, eines kleinen hagern Mannes von muntrer Gutmütigkeit,
konnte man schließen, daß er in frühern Jahren, von solcher Stimmung
überwältigt, großes Unglück angerichtet, und sich nun vor ähnlichen
Abwegen, bei einer so wichtigen, den Blicken aller Welt ausgesetzten
Stelle, zu hüten ernstlich vornehme. Gleich
in den ersten Tagen der Anwesenheit des Grafen wurden die sämtlichen
Frankfurter Maler, als Hirt, Schütz, Trautmann, Nothnagel, Juncker, zu
ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen Gemälde vor, und der Graf
eignete sich das Verkäufliche zu. Ihm wurde mein hübsches helles
Giebelzimmer in der Mansarde eingeräumt und sogleich in ein Kabinett
und Atelier umgewandelt: denn er war willens, die sämtlichen Künstler,
vor allen aber Seekatz in Darmstadt, dessen Pinsel ihm besonders bei natürlichen
und unschuldigen Vorstellungen höchlich gefiel, für eine ganze Zeit in
Arbeit zu setzen. Er ließ daher von Grasse, wo sein älterer Bruder ein
schönes Gebäude besitzen mochte, die sämtlichen Maße aller Zimmer
und Kabinette herbeikommen, überlegte sodann mit den Künstlern die
Wandabteilungen, und bestimmte die Größe der hiernach zu
verfertigenden ansehnlichen Ölbilder, welche nicht in Rahmen eingefaßt,
sondern als Tapetenteile auf die Wand befestigt werden sollten. Hier
ging nun die Arbeit eifrig an. Seekatz übernahm ländliche Szenen,
worin die Greise und Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt, ganz
herrlich glückten; die Jünglinge wollten ihm nicht ebenso geraten, sie
waren meist zu hager; und die Frauen mißfielen aus der
entgegengesetzten Ursache. Denn da er eine kleine dicke, gute aber
unangenehme Person zur Frau hatte, die ihm außer sich selbst nicht wohl
ein Modell zuließ, so wollte nichts Gefälliges zustande kommen. Zudem
war er genötigt gewesen, über das Maß seiner Figuren hinauszugehen.
Seine Bäume hatten Wahrheit, aber ein kleinliches Blätterwerk. Er war
ein Schüler von Brinckmann, dessen Pinsel in Staffeleigemälden nicht
zu schelten ist. Schütz,
der Landschaftmaler, fand sich vielleicht am besten in die Sache. Die
Rheingegenden hatte er ganz in seiner Gewalt, sowie den sonnigen Ton,
der sie in der schönen Jahreszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt,
in einem größern Maßstabe zu arbeiten, und auch da ließ er es an
Ausführung und Haltung nicht fehlen. Er lieferte sehr heitre Bilder. Trautmann
rembrandtisierte einige Auferweckungswunder des Neuen Testaments, und zündete
nebenher Dörfer und Mühlen an. Auch ihm war, wie ich aus den Aufrissen
der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Kabinett zugeteilt worden. Hirt
malte einige gute Eichen- und Buchenwälder. Seine Herden waren
lobenswert. Juncker, an die Nachahmung der ausführlichsten Niederländer
gewöhnt, konnte sich am wenigsten in diesen Tapetenstil finden; jedoch
bequemte er sich, für gute Zahlung, mit Blumen und Früchten manche
Abteilung zu verzieren. Da
ich alle diese Männer von meiner frühsten Jugend an gekannt, und sie
oft in ihren Werkstätten besucht hatte, auch der Graf mich gern um sich
leiden mochte, so war ich bei den Aufgaben, Beratschlagungen und
Bestellungen wie auch bei den Ablieferungen gegenwärtig, und nahm mir,
zumal wenn Skizzen und Entwürfe eingereicht wurden, meine Meinung zu eröffnen
gar wohl heraus. Ich hatte mir schon früher bei Gemäldeliebhabern,
besonders aber auf Auktionen, denen ich fleißig beiwohnte, den Ruhm
erworben, daß ich gleich zu sagen wisse, was irgend ein historisches
Bild vorstelle, es sei nun aus der biblischen oder der Profangeschichte
oder aus der Mythologie genommen; und wenn ich auch den Sinn der
allegorischen Bilder nicht immer traf, so war doch selten jemand gegenwärtig,
der es besser verstand als ich. So hatte ich auch öfters die Künstler
vermocht, diesen oder jenen Gegenstand vorzustellen, und solcher
Vorteile bediente ich mich gegenwärtig mit Lust und Liebe. Ich erinnere
mich noch, daß ich einen umständlichen Aufsatz verfertigte, worin ich
zwölf Bilder beschrieb, welche die Geschichte Josephs darstellen
sollten: einige davon wurden ausgeführt. Nach
diesen für einen Knaben allerdings löblichen Verrichtungen will ich
auch einer kleinen Beschämung, die mir innerhalb dieses Künstlerkreises
begegnete, Erwähnung tun. Ich war nämlich mit allen Bildern wohl
bekannt, welche man nach und nach in jenes Zimmer gebracht hatte. Meine
jugendliche Neugierde ließ nichts ungesehen und ununtersucht. Einst
fand ich hinter dem Ofen ein schwarzes Kästchen; ich ermangelte nicht,
zu forschen, was darin verborgen sei, und ohne mich lange zu besinnen,
zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene Gemälde war freilich von
der Art, die man den Augen nicht auszustellen pflegt, und ob ich es
gleich alsobald wieder zuzuschieben Anstalt machte, so konnte ich doch
nicht geschwind genug damit fertig werden. Der Graf trat herein und
ertappte mich. - "Wer hat Euch erlaubt, dieses Kästchen zu eröffnen?"
sagte er mit seiner Königslieutenantsmiene. Ich hatte nicht viel darauf
zu antworten, und er sprach sogleich die Strafe sehr ernsthaft aus:
"Ihr werdet in acht Tagen", sagte er, "dieses Zimmer
nicht betreten." - Ich machte eine Verbeugung und ging hinaus. Auch
gehorchte ich diesem Gebot aufs pünktlichste, so daß es dem guten
Seekatz, der eben in dem Zimmer arbeitete, sehr verdrießlich war: denn
er hatte mich gern um sich; und ich trieb aus einer kleinen Tücke den
Gehorsam so weit, daß ich Seekatzen seinen Kaffee, den ich ihm gewöhnlich
brachte, auf die Schwelle setzte; da er denn von seiner Arbeit aufstehen
und ihn holen mußte, welches er so übel empfand, daß er mir fast gram
geworden wäre. Nun
aber scheint es nötig, umständlicher anzuzeigen und begreiflich zu
machen, wie ich mir in solchen Fällen in der französischen Sprache,
die ich doch nicht gelernt, mit mehr oder weniger Bequemlichkeit
durchgeholfen. Auch hier kam mir die angeborne Gabe zustatten, daß ich
leicht den Schall und Klang einer Sprache, ihre Bewegung, ihren Akzent,
den Ton und was sonst von äußern Eigentümlichkeiten, fassen konnte.
Aus dem Lateinischen waren mir viele Worte bekannt; das Italienische
vermittelte noch mehr, und so horchte ich in kurzer Zeit von Bedienten
und Soldaten, Schildwachen und Besuchen so viel heraus, daß ich mich,
wo nicht ins Gespräch mischen, doch wenigstens einzelne Fragen und
Antworten bestehen konnte. Aber dieses war alles nur wenig gegen den
Vorteil, den mir das Theater brachte. Von meinem Großvater hatte ich
ein Freibillett erhalten, dessen ich mich, mit Widerwillen meines
Vaters, unter dem Beistand meiner Mutter, täglich bediente. Hier saß
ich nun im Parterre vor einer fremden Bühne, und paßte um so mehr auf
Bewegung, mimischen und RedeAusdruck, als ich wenig oder nichts von dem
verstand, was da oben gesprochen wurde, und also meine Unterhaltung nur
vom Gebärdenspiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Komödie
verstand ich am wenigsten, weil sie geschwind gesprochen wurde und sich
auf Dinge des gemeinen Lebens bezog, deren Ausdrücke mir gar nicht
bekannt waren. Die Tragödie kam seltner vor, und der gemessene Schritt,
das Taktartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten
sie mir in jedem Sinne faßlicher. Es dauerte nicht lange, so nahm ich
den Racine, den ich in meines Vaters Bibliothek antraf, zur Hand, und
deklamierte mir die Stücke nach theatralischer Art und Weise, wie sie
das Organ meines Ohrs und das ihm so genau verwandte Sprachorgan gefaßt
hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede im
Zusammenhang hätte verstehen können. Ja ich lernte ganze Stellen
auswendig und rezitierte sie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches
mir um so leichter ward, als ich früher die für ein Kind meist unverständlichen
biblischen Stellen auswendig gelernt und sie in dem Ton der
protestantischen Prediger zu rezitieren mich gewöhnt hatte. Das
versifizierte französische Lustspiel war damals sehr beliebt; die Stücke
von Destouches, Marivaux, La Chaussee kamen häufig vor, und ich
erinnere mich noch deutlich mancher charakteristischen Figuren. Von den
Molièrischen ist mir weniger im Sinn geblieben. Was am meisten Eindruck
auf mich machte, war die "Hypermnestra" von Lemierre, die als
ein neues Stück mit Sorgfalt aufgeführt und wiederholt gegeben wurde.
Höchst anmutig war der Eindruck, den der "Devin du Village",
"Rose et Colas", "Annette et Lubin" auf mich
machten. Ich kann mir die bebänderten Buben und Mädchen und ihre
Bewegungen noch jetzt zurückrufen. Es dauerte nicht lange, so regte
sich der Wunsch bei mir, mich auf dem Theater selbst umzusehen, wozu
sich mir so mancherlei Gelegenheit darbot. Denn da ich nicht immer die
ganzen Stücke auszuhören Geduld hatte, und manche Zeit in den
Korridors, auch wohl bei gelinderer Jahrszeit vor der Türe, mit andern
Kindern meines Alters allerlei Spiele trieb, so gesellte sich ein schöner
munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehörte, und den ich in manchen
kleinen Rollen, obwohl nur beiläufig, gesehen hatte. Mit mir konnte er
sich am besten verständigen, indem ich mein Französisch bei ihm
geltend zu machen wußte; und er knüpfte sich um so mehr an mich, als
kein Knabe seines Alters und seiner Nation beim Theater oder sonst in
der Nähe war. Wir gingen auch außer der Theaterzeit zusammen, und
selbst während der Vorstellungen ließ er mich selten in Ruhe. Er war
ein allerliebster kleiner Aufschneider, schwätzte charmant und unaufhörlich,
und wußte so viel von seinen Abenteuern, Händeln und andern
Sonderbarkeiten zu erzählen, daß er mich außerordentlich unterhielt,
und ich von ihm, was Sprache und Mitteilung durch dieselbe betrifft, in
vier Wochen mehr lernte, als man sich hätte vorstellen können; so daß
niemand wußte, wie ich auf einmal, gleichsam durch Inspiration, zu der
fremden Sprache gelangt war. Gleich
in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft zog er mich mit sich aufs
Theater, und führte mich besonders in die Foyers, wo die Schauspieler
und Schauspielerinnen in der Zwischenzeit sich aufhielten und sich an-
und auskleideten. Das Lokal war weder günstig noch bequem, indem man
das Theater in einen Konzertsaal hineingezwängt hatte, so daß für die
Schauspieler hinter der Bühne keine besonderen Abteilungen stattfanden.
In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartien
gedient hatte, waren nun beide Geschlechter meist beisammen und schienen
sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu scheuen, wenn
es beim Anlegen oder Verändern der Kleidungsstücke nicht immer zum
anständigsten herging. Mir war dergleichen niemals vorgekommen, und
doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bei wiederholtem Besuch, ganz
natürlich. Es
währte nicht lange, so entspann sich aber für mich ein eignes und
besondres Interesse. Der junge Derones, so will ich den Knaben nennen,
mit dem ich mein Verhältnis immer fortsetzte, war außer seinen
Aufschneidereien ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen.
Er machte mich mit seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre älter
als wir und ein gar angenehmes Mädchen war, gut gewachsen, von einer
regelmäßigen Bildung, brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr
ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf
alle Weise gefällig zu sein; allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit
nicht auf mich lenken. Junge Mädchen dünken sich gegen jüngere Knaben
sehr weit vorgeschritten, und nehmen, indem sie nach den Jünglingen
hinschauen, ein tantenhaftes Betragen gegen den Knaben an, der ihnen
seine erste Neigung zuwendet. Mit einem jüngern Bruder hatte ich kein
Verhältnis Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in
Gesellschaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu
spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schönen
eine Blume, eine Frucht oder sonst etwas zu überreichen, welches sie
zwar jederzeit mit sehr guter Art annahm und auf das höflichste dankte;
allein ich sah ihren traurigen Blick sich niemals erheitern, und fand
keine Spur, daß sie sonst auf mich geachtet hätte. Endlich glaubte ich
ihr Geheimnis zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner
Mutter, das mit eleganten seidnen Vorhängen aufgeputzt war, ein
Pastellbild, das Porträt eines schönen Mannes, und bemerkte zugleich
mit schlauer Miene: das sei eigentlich nicht der Papa, aber ebensogut
wie der Papa; und indem er diesen Mann rühmte, und nach seiner Art umständlich
und prahlerisch manches erzählte, so glaubte ich herauszufinden, daß
die Tochter wohl dem Vater, die beiden andern Kinder aber dem Hausfreund
angehören mochten. Ich erklärte mir nun ihr trauriges Ansehen und
hatte sie nur um desto lieber. Die
Neigung zu diesem Mädchen half mir die Schwindeleien des Bruders übertragen,
der nicht immer in seinen Grenzen blieb. Ich hatte oft die weitläuftigen
Erzählungen seiner Großtaten auszuhalten, wie er sich schon öfter
geschlagen, ohne jedoch dem andern schaden zu wollen: es sei alles bloß
der Ehre wegen geschehen, stets habe er gewußt, seinen Widersacher zu
entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verstehe sich aufs Ligieren
so gut, daß er einst selbst in große Verlegenheit geraten, als er den
Degen seines Gegners auf einen hohen Baum geschleudert, so daß man ihn
nicht leicht wieder habhaft werden können. Was
mir meine Besuche auf dem Theater sehr erleichterte, war, daß mir mein
Freibillett, als aus den Händen des Schultheißen, den Weg zu allen Plätzen
eröffnete, und also auch zu den Sitzen im Proszenium. Dieses war nach
französischer Art sehr tief und an beiden Seiten mit Sitzen eingefaßt,
die, durch eine niedrige Barriere beschränkt, sich in mehreren Reihen
hinter einander aufbauten, und zwar dergestalt, daß die ersten Sitze
nur wenig über die Bühne erhoben waren. Das Ganze galt für einen
besondern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten sich gewöhnlich
desselben, obgleich die Nähe der Schauspieler, ich will nicht sagen
jede Illusion, sondern gewissermaßen jedes Gefallen aufhob. Sogar jenen
Gebrauch oder Mißbrauch, über den sich Voltaire so sehr beschwert,
habe ich noch erlebt und mit Augen gesehen. Wenn bei sehr vollem Hause,
und etwa zur Zeit von Durchmärschen, angesehene Offiziere nach jenem
Ehrenplatz strebten, der aber gewöhnlich schon besetzt war, so stellte
man noch einige Reihen Bänke und Stühle ins Proszenium auf die Bühne
selbst, und es blieb den Helden und Heldinnen nichts übrig, als in
einem sehr mäßigen Raume zwischen den Uniformen und Orden ihre
Geheimnisse zu enthüllen. Ich habe die "Hypermnestra" selbst
unter solchen Umständen aufführen sehen. Der
Vorhang fiel nicht zwischen den Akten; und ich erwähne noch eines
seltsamen Gebrauchs, den ich sehr auffallend finden mußte, da mir als
einem guten deutschen Knaben das Kunstwidrige daran ganz unerträglich
war. Das Theater nämlich ward als das größte Heiligtum betrachtet,
und eine vorfallende Störung auf demselben hätte als das größte
Verbrechen gegen die Majestät des Publikums sogleich müssen gerügt
werden. Zwei Grenadiere, das Gewehr beim Fuß, standen daher in allen
Lustspielen ganz öffentlich zu beiden Seiten des hintersten Vorhangs,
und waren Zeugen von allem, was im Innersten der Familie vorging. Da,
wie gesagt, zwischen den Akten der Vorhang nicht niedergelassen wurde,
so lösten, bei einfallender Musik, zwei andere dergestalt ab, daß sie
aus den Kulissen ganz strack vor jene hintraten, welche sich dann ebenso
gemessentlich zurückzogen. Wenn nun eine solche Anstalt recht dazu
geeignet war, alles, was man beim Theater Illusion nennt, aufzuheben, so
fällt es um so mehr auf, da dieses zu einer Zeit geschah, wo nach
Diderots Grundsätzen und Beispielen die natürlichste Natürlichkeit
auf der Bühne gefordert, und eine vollkommene Täuschung als das
eigentliche Ziel der theatralischen Kunst angegeben wurde. Von einer
solchen militärischen Polizeianstalt war jedoch die Tragödie
entbunden, und die Helden des Altertums hatten das Recht, sich selbst zu
bewachen; die gedachten Grenadiere standen indes nahe genug hinter den
Kulissen. So
will ich denn auch noch anführen, daß ich Diderots
"Hausvater" und die "Philosophen" von Palissot
gesehen habe, und mich im letztem Stück der Figur des Philosophen, der
auf allen vieren geht und in ein rohes Salathaupt beißt, noch wohl
erinnre. Alle
diese theatralische Mannigfaltigkeit konnte jedoch uns Kinder nicht
immer im Schauspielhause festhalten. Wir spielten bei schönem Wetter
vor demselben und in der Nähe, und begingen allerlei Torheiten, welche
besonders an Sonn- und Festtagen keineswegs zu unsrem Äußeren paßten:
denn ich und meinesgleichen erschienen alsdann, angezogen wie man mich
in jenem Märchen gesehen, den Hut unterm Arm, mit einem kleinen Degen,
dessen Bügel mit einer großen seidenen Bandschleife geziert war.
Einst, als wir eine ganze Zeit unser Wesen getrieben und Derones sich
unter uns gemischt hatte, fiel es diesem ein, mir zu beteuern, ich hätte
ihn beleidigt und müsse ihm Satisfaktion geben. Ich begriff zwar nicht,
was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber seine Ausforderung gefallen
und wollte ziehen. Er versicherte mir aber, es sei in solchen Fällen
gebräuchlich, daß man an einsame Örter gehe, um die Sache desto
bequemer ausmachen zu können. Wir verfügten uns deshalb hinter einige
Scheunen, und stellten uns in gehörige Positur. Der Zweikampf erfolgte
auf eine etwas theatralische Weise, die Klingen klirrten, und die Stöße
gingen nebenaus; doch im Feuer der Aktion blieb er mit der Spitze seines
Degens an der Bandschleife meines Bügels hangen, sie ward durchbohrt,
und er versicherte mir, daß er nun die vollkommenste Satisfaktion habe,
umarmte mich sodann, gleichfalls recht theatralisch, und wir gingen in
das nächste Kaffeehaus, um uns mit einem Glase Mandelmilch von unserer
Gemütsbewegung zu erholen und den alten Freundschaftsbund nur desto
fester zu schließen. Ein
andres Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause, obgleich später,
begegnet, will ich bei dieser Gelegenheit erzählen. Ich saß nämlich
mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre, und wir sahen mit
Vergnügen einem Solotanze zu, den ein hübscher Knabe, ungefähr von
unserm Alter, der Sohn eines durchreisenden französischen Tanzmeisters,
mit vieler Gewandtheit und Anmut aufführte. Nach Art der Tänzer war er
mit einem knappen Wämschen von roter Seide bekleidet, welches, in einen
kurzen Reifrock ausgehend, gleich den Lauferschürzen, bis über die
Knie schwebte. Wir hatten diesem angehenden Künstler mit dem ganzen
Publikum unsern Beifall gezollt, als mir, ich weiß nicht wie, einfiel,
eine moralische Reflexion zu machen. Ich sagte zu meinem Begleiter:
"Wie schön war dieser Knabe geputzt und wie gut nahm er sich aus;
wer weiß, in was für einem zerrissenen Jäckchen er heute nacht
schlafen mag!" - Alles war schon aufgestanden, nur ließ uns die
Menge noch nicht vorwärts. Eine Frau, die neben mir gesessen hatte und
nun hart an mir stand, war zufälligerweise die Mutter dieses jungen Künstlers,
die sich durch meine Reflexion sehr beleidigt fühlte. Zu meinem Unglück
konnte sie Deutsch genug, um mich verstanden zu haben, und sprach es
gerade so viel, als nötig war, um schelten zu können. Sie machte mich
gewaltig herunter: Wer ich denn sei, meinte sie, daß ich Ursache hätte,
an der Familie und an der Wohlhabenheit dieses jungen Menschen zu
zweifeln. Auf alle Fälle dürfe sie ihn für so gut halten als mich,
und seine Talente könnten ihm wohl ein Glück bereiten, wovon ich mir
nicht würde träumen lassen. Diese Strafpredigt hielt sie mir im Gedränge
und machte die Umstehenden aufmerksam, welche wunder dachten, was ich für
eine Unart müßte begangen haben. Da ich mich weder entschuldigen, noch
von ihr entfernen konnte, so war ich wirklich verlegen, und als sie
einen Augenblick inne hielt, sagte ich, ohne etwas dabei zu denken:
"Nun, wozu der Lärm? heute rot, morgen tot!" - Auf diese
Worte schien die Frau zu verstummen, sie sah mich an und entfernte sich
von mir, sobald es nur einigermaßen möglich war. Ich dachte nicht
weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als
der Knabe, anstatt sich nochmals sehen zu lassen, krank ward, und zwar
sehr gefährlich. Ob er gestorben ist, weiß ich nicht zu sagen. Dergleichen
Vordeutungen durch ein unzeitig, ja unschicklich ausgesprochenes Wort
standen bei den Alten schon in Ansehen, und es bleibt höchst merkwürdig,
daß die Formen des Glaubens und Aberglaubens bei allen Völkern und zu
allen Zeiten immer dieselben geblieben sind. Nun
fehlte es von dem ersten Tage der Besitznehmung unserer Stadt, zumal
Kindern und jungen Leuten, nicht an immerwährender Zerstreuung. Theater
und Bälle, Paraden und Durchmärsche zogen unsere Aufmerksamkeit hin
und her. Die letztern besonders nahmen immer zu, und das Soldatenleben
schien uns ganz lustig und vergnüglich. Der
Aufenthalt des Königslieutenants in unserm Hause verschaffte uns den
Vorteil, alle bedeutenden Personen der französischen Armee nach und
nach zu sehen, und besonders die Ersten, deren Name schon durch den Ruf
zu uns gekommen war, in der Nähe zu betrachten. So sahen wir von
Treppen und Podesten, gleichsam wie von Galerien, sehr bequem die
Generalität bei uns vorübergehn. Vor allen erinnere ich mich des
Prinzen Soubise als eines schönen leutseligen Herrn; am deutlichsten
aber des Marschalls von Broglio als eines jüngern, nicht großen aber
wohlgebauten, lebhaften, geistreich um sich blickenden, behenden Mannes. Er
kam mehrmals zum Königslieutenant, und man merkte wohl, daß von
wichtigen Dingen die Rede war. Wir hatten uns im ersten Vierteljahr der
Einquartierung kaum in diesen neuen Zustand gefunden, als schon die
Nachricht sich dunkel verbreitete: die Alliierten seien im Anmarsch, und
Herzog Ferdinand von Braunschweig komme, die Franzosen vom Main zu
vertreiben. Man hatte von diesen, die sich keines besondern Kriegsglückes
rühmen konnten, nicht die größte Vorstellung, und seit der Schlacht
von Roßbach glaubte man sie verachten zu dürfen; auf den Herzog
Ferdinand setzte man das größte Vertrauen, und alle preußisch
Gesinnten erwarteten mit Sehnsucht ihre Befreiung von der bisherigen
Last. Mein Vater war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war
klug genug einzusehen, daß ein gegenwärtiges geringes Übel leicht mit
einem großen Ungemach vertauscht werden könne: denn es zeigte sich nur
allzu deutlich, daß man dem Herzog nicht entgegengehen, sondern einen
Angriff in der Nähe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der
Franzosen, eine Flucht, eine Verteidigung der Stadt, wäre es auch nur,
um den Rückzug zu decken und um die Brücke zu behalten, ein
Bombardement, eine Plünderung, alles stellte sich der erregten
Einbildungskraft dar, und machte beiden Parteien Sorge. Meine Mutter,
welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, ließ durch den
Dolmetscher ihre Furcht bei dem Grafen anbringen; worauf sie die in
solchen Fällen gebräuchliche Antwort erhielt: sie solle ganz ruhig
sein, es sei nichts zu befürchten, sich übrigens still halten und mit
niemand von der Sache sprechen. Mehrere
Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, daß sie bei Bergen Halt
machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte sich
immer, und unser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieser Zeit habe
ich den Marschall Broglio gesehen, immer heiter, ein wie das andere Mal
an Gebärden und Betragen völlig gleich, und es hat mich auch nachher
gefreut, den Mann, dessen Gestalt einen so guten und dauerhaften
Eindruck gemacht hatte, in der Geschichte rühmlich erwähnt zu finden. So
kam denn endlich, nach einer unruhigen Karwoche 1759 der Karfreitag
heran. Eine große Stille verkündigte den nahen Sturm. Uns Kindern war
verboten, aus dem Hause zu gehen; der Vater hatte keine Ruhe und ging
aus. Die Schlacht begann; ich stieg auf den obersten Boden, wo ich zwar
die Gegend zu sehen verhindert war, aber den Donner der Kanonen und das
Massenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut vernehmen konnte. Nach einigen
Stunden sahen wir die ersten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen,
auf welchen Verwundete in mancherlei traurigen Verstümmelungen und Gebärden
sachte bei uns vorbeigefahren wurden, um in das zum Lazarett
umgewandelte Liebfrauenkloster gebracht zu werden. Sogleich regte sich
die Barmherzigkeit der Bürger. Bier, Wein, Brot, Geld ward denjenigen
hingereicht, die noch etwas empfangen konnten. Als man aber einige Zeit
darauf blessierte und gefangne Deutsche unter diesem Zug gewahr wurde,
fand das Mitleid keine Grenze, und es schien, als wollte jeder sich von
allem entblößen, was er nur Bewegliches besaß, um seinen bedrängten
Landsleuten beizustehen. Die
Gefangenen waren jedoch Anzeichen einer für die Alliierten unglücklichen
Schlacht. Mein Vater, in seiner Parteilichkeit ganz sicher, daß diese
gewinnen würden, hatte die leidenschaftliche Verwegenheit, den
gehofften Siegern entgegen zu gehen, ohne zu bedenken, daß die
geschlagene Partei erst über ihn wegfliehen müßte. Erst begab er sich
in seinen Garten, vor dem Friedberger Tore, wo er alles einsam und ruhig
fand; dann wagte er sich auf die Bornheimer Heide, wo er aber bald
verschiedene zerstreute Nachzügler und Troßknechte ansichtig ward, die
sich den Spaß machten, nach den Grenzsteinen zu schießen, so daß dem
neugierigen Wandrer das abprallende Blei um den Kopf sauste. Er hielt es
deshalb doch für geratner, zurückzugehen, und erfuhr, bei einiger
Nachfrage, was ihm schon der Schall des Feuerns hätte klar machen
sollen, daß alles für die Franzosen gut stehe und an kein Weichen zu
denken sei. Nach Hause gekommen, voll Unmut, geriet er beim Erblicken
der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewöhnlichen
Fassung. Auch er ließ den Vorbeiziehenden mancherlei Spende reichen;
aber nur die Deutschen sollten sie erhalten, welches nicht immer möglich
war, weil das Schicksal Freunde und Feinde zusammen aufgepackt hatte. Die
Mutter und wir Kinder, die wir schon früher auf des Grafen Wort gebaut
und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren höchlich
erfreut, und die Mutter doppelt getröstet, da sie des Morgens, als sie
das Orakel ihres "Schatzkästleins" durch einen Nadelstich
befragt, eine für die Gegenwart sowohl als für die Zukunft sehr tröstliche
Antwort erhalten hatte. Wir wünschten unserm Vater gleichen Glauben und
gleiche Gesinnung, wir schmeichelten ihm, was wir konnten, wir baten
ihn, etwas Speise zu sich zu nehmen, die er den ganzen Tag entbehrt
hatte; er verweigerte unsre Liebkosungen und jeden Genuß, und begab
sich auf sein Zimmer. Unsre Freude ward indessen nicht gestört; die
Sache war entschieden; der Königslieutenant, der diesen Tag gegen seine
Gewohnheit zu Pferde gewesen, kehrte endlich zurück, seine Gegenwart zu
Hause war nötiger als je. Wir sprangen ihm entgegen, küßten seine Hände
und bezeigten ihm unsre Freude. Es schien ihm sehr zu gefallen.
"Wohl!" sagte er freundlicher als sonst, "ich bin auch um
euertwillen vergnügt, liebe Kinder!" Er befahl sogleich, uns
Zuckerwerk, süßen Wein, überhaupt das Beste zu reichen, und ging auf
sein Zimmer, schon von einer großen Masse Dringender und Bittender
umgeben. Wir
hielten nun eine köstliche Kollation, bedauerten den guten Vater, der
nicht teil daran nehmen mochte, und drangen in die Mutter, ihn
herbeizurufen; sie aber, klüger als wir, wußte wohl, wie unerfreulich
ihm solche Gaben sein würden. Indessen hatte sie etwas Abendbrot
zurecht gemacht und hätte ihm gern eine Portion auf das Zimmer
geschickt; aber eine solche Unordnung litt er nie, auch nicht in den äußersten
Fällen; und nachdem man die süßen Gaben bei Seite geschafft, suchte
man ihn zu bereden, herab in das gewöhnliche Speisezimmer zu kommen.
Endlich ließ er sich bewegen, ungern, und wir ahndeten nicht, welches
Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die Treppe lief frei durchs ganze
Haus an allen Vorsälen vorbei. Der Vater mußte, indem er herabstieg,
unmittelbar an des Grafen Zimmer vorübergehn. Sein Vorsaal stand so
voller Leute, daß der Graf sich entschloß, um mehrers auf einmal
abzutun, herauszutreten; und dies geschah leider in dem Augenblick, als
der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begrüßte ihn
und sagte: "Ihr werdet uns und Euch Glückwünschen, daß diese gefährliche
Sache so glücklich abgelaufen ist." - "Keineswegs!"
versetzte mein Vater, mit Ingrimm; "ich wollte, sie hätten Euch
zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren sollen." - Der
Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wut auf:
"Dieses sollt Ihr büßen!" rief er; "Ihr sollt nicht
umsonst der gerechten Sache und mir eine solche Beleidigung zugefügt
haben!" Der
Vater war indes gelassen heruntergestiegen, setzte sich zu uns, schien
heitrer als bisher, und fing an zu essen. Wir freuten uns darüber, und
wußten nicht, auf welche bedenkliche Weise er sich den Stein vom Herzen
gewälzt hatte. Kurz darauf wurde die Mutter herausgerufen, und wir
hatten große Lust, dem Vater auszuplaudern, was uns der Graf für Süßigkeiten
verehrt habe. Die Mutter kam nicht zurück. Endlich trat der Dolmetscher
herein. Auf seinen Wink schickte man uns zu Bette; es war schon spät,
und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durchschlafenen Nacht erfuhren
wir die gewaltsame Bewegung, die gestern abend das Haus erschüttert
hatte. Der Königslieutenant hatte sogleich befohlen, den Vater auf die
Wache zu führen. Die Subalternen wußten wohl, daß ihm niemals zu
widersprechen war; doch hatten sie sich manchmal Dank verdient, wenn sie
mit der Ausführung zauderten. Diese Gesinnung wußte der Gevatter
Dolmetsch, den die Geistesgegenwart niemals verließ, aufs lebhafteste
bei ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin so groß, daß eine Zögerung
sich von selbst versteckte und entschuldigte. Er hatte meine Mutter
herausgerufen, und ihr den Adjutanten gleichsam in die Hände gegeben,
daß sie durch Bitten und Vorstellungen nur einigen Aufschub erlangen möchte.
Er selbst eilte schnell hinauf zum Grafen, der sich bei der großen
Beherrschung seiner selbst sogleich ins innre Zimmer zurückgezogen
hatte, und das dringendste Geschäft lieber einen Augenblick stocken ließ,
als daß er den einmal in ihm erregten bösen Mut an einem Unschuldigen
gekühlt und eine seiner Würde nachteilige Entscheidung gegeben hätte. Die
Anrede des Dolmetschers an den Grafen, die Führung des ganzen Gesprächs
hat uns der dicke Gevatter, der sich auf den glücklichen Erfolg nicht
wenig zugute tat, oft genug wiederholt, so daß ich sie aus dem Gedächtnis
wohl noch aufzeichnen kann. Der
Dolmetsch hatte gewagt, das Kabinett zu eröffnen und hineinzutreten,
eine Handlung, die höchst verpönt war. "Was wollt Ihr?" rief
ihm der Graf zornig entgegen. "Hinaus mit Euch! Hier hat niemand
das Recht hereinzutreten als Saint-Jean." "So
haltet mich einen Augenblick für Saint-Jean", versetzte der
Dolmetsch. "Dazu
gehört eine gute Einbildungskraft, seiner zwei machen noch nicht einen
wie Ihr seid. Entfernt Euch!" "Herr
Graf, Ihr habt eine große Gabe vorn Himmel empfangen und an die
appelliere ich." "Ihr
denkt mir zu schmeicheln! Glaubt nicht, daß es Euch gelingen
werde." "Ihr
habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Augenblicken der Leidenschaft,
in Augenblicken des Zorns die Gesinnungen anderer anzuhören." "Wohl,
wohl! Von Gesinnungen ist eben die Rede, die ich zu lange angehört
habe. Ich weiß nur zu gut, daß man uns hier nicht liebt, daß uns
diese Bürger scheel ansehn." "Nicht
alle!" "Sehr
viele! Was! diese Städter, Reichsstädter wollen sie sein? Ihren Kaiser
haben sie wählen und krönen sehen, und wenn dieser, ungerecht
angegriffen, seine Länder zu verlieren und einem Usurpator zu
unterliegen Gefahr läuft, wenn er glücklicherweise getreue Alliierte
findet, die ihr Geld, ihr Blut zu seinem Vorteil verwenden, so wollen
sie die geringe Last nicht tragen, die zu ihrem Teil sie trifft, daß
der Reichsfeind gedemütigt werde." "Freilich
kennt Ihr diese Gesinnungen schon lange, und habt sie als ein weiser
Mann geduldet; auch ist es nur die geringere Zahl. Wenige, verblendet
durch die glänzenden Eigenschaften des Feindes, den Ihr ja selbst als
einen außerordentlichen Mann schätzt, wenige nur, Ihr wißt es!" "Jawohl!
zu lange habe ich es gewußt und geduldet, sonst hätte dieser sich
nicht unterstanden, mir in den bedeutendsten Augenblicken solche
Beleidigungen ins Gesicht zu sagen. Es mögen sein so viel ihrer wollen,
sie sollen in diesem ihrem kühnen Repräsentanten gestraft werden, und
sich merken, was sie zu erwarten haben." "Nur
Aufschub, Herr Graf!" "In
gewissen Dingen kann man nicht zu geschwind verfahren." "Nur
einen kurzen Aufschub!" "Nachbar!
Ihr denkt mich zu einem falschen Schritt zu verleiten; es soll Euch
nicht gelingen." "Weder
verleiten will ich Euch zu einem falschen Schritt, noch von einem
falschen zurückhalten; Euer Entschluß ist gerecht: er geziemt dem
Franzosen, dem Königslieutenant; aber bedenkt, daß Ihr auch Graf
Thoranc seid." "Der
hat hier nicht mitzusprechen." "Man
sollte den braven Mann doch auch hören." "Nun,
was würde er denn sagen?" "_Herr
Königslieutenant!_ würde er sagen, _Ihr habt so lange mit so viel
dunklen, unwilligen, ungeschickten Menschen Geduld gehabt, wenn sie es
Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieser hat's freilich sehr arg
gemacht; aber gewinnt es über Euch, Herr Königslieutenant! und
jedermann wird Euch deswegen loben und preisen._" "Ihr
wißt, daß ich Eure Possen manchmal leiden kann, aber mißbraucht nicht
mein Wohlwollen. Diese Menschen, sind sie denn ganz verblendet? Hätten
wir die Schlacht verloren, in diesem Augenblick, was würde ihr
Schicksal sein? Wir schlagen uns bis vor die Tore, wir sperren die
Stadt, wir halten, wir verteidigen uns, um unsere Retirade über die Brücke
zu decken. Glaubt Ihr, daß der Feind die Hände in den Schoß gelegt hätte?
Er wirft Granaten und was er bei der Hand hat, und sie zünden, wo sie können.
Dieser Hausbesitzer da, was will er? In diesen Zimmern hier platzte
jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hintendrein; in diesen
Zimmern, deren vermaledeite Pekingtapeten ich geschont, mich geniert
habe, meine Landkarten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag hätten sie auf
den Knien liegen sollen." "Wie
viele haben das getan!" "Sie
hätten sollen den Segen für uns erflehen; den Generalen und Offizieren
mit Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung
entgegengehen. Anstatt dessen verdirbt mir der Gift dieses Parteigeistes
die schönsten, glücklichsten, durch so viel Sorgen und Anstrengungen
erworbenen Augenblicke meines Lebens!" "Es
ist ein Parteigeist; aber Ihr werdet ihn durch die Bestrafung dieses
Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleichgesinnten werden Euch als einen
Tyrannen, als einen Barbaren ausschreien; sie werden ihn als einen Märtyrer
betrachten, der für die gute Sache gelitten hat; und selbst die anders
Gesinnten, die jetzt seine Gegner sind, werden in ihm nur den Mitbürger
sehen, werden ihn bedauern und, indem sie Euch recht geben, dennoch
finden, daß Ihr zu hart verfahren seid." "Ich
habe Euch schon zu lange angehört; macht, daß Ihr fortkommt!" "So
hört nur noch dieses! Bedenkt, daß es das Unerhörteste ist, was
diesem Manne, was dieser Familie begegnen könnte. Ihr hattet nicht
Ursache, von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu sein; aber die
Hausfrau ist allen Euren Wünschen zuvorgekommen, und die Kinder haben
Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit diesem einzigen Schlag werdet Ihr
den Frieden und das Glück dieser Wohnung auf ewig zerstören. Ja, ich
kann wohl sagen, eine Bombe, die ins Haus gefallen wäre, würde nicht
größere Verwüstungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch so oft über
Eure Fassung bewundert, Herr Graf; gebt mir diesmal Gelegenheit, Euch
anzubeten. Ein Krieger ist ehrwürdig, der sich selbst in Feindes Haus
als einen Gastfreund betrachtet; hier ist kein Feind, nur ein Verirrter.
Gewinnt es über Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!" "Das
müßte wunderlich zugehen", versetzte der Graf mit einem Lächeln. "Nur
ganz natürlich", erwiderte der Dolmetscher. "Ich habe die
Frau, die Kinder nicht zu Euren Füßen geschickt: denn ich weiß, daß
Euch solche Szenen verdrießlich sind aber ich will Euch die Frau, die
Kinder schildern, wie sie Euch danken; ich will sie Euch schildern, wie
sie sich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bei Bergen und von Eurer
Großmut an diesem Tage unterhalten, wie sie es Kindern und
Kindeskindern erzählen, und auch Fremden ihr Interesse für Euch
einzuflößen wissen: eine Handlung dieser Art kann nicht
untergehen!" "Ihr
trefft meine schwache Seite nicht, Dolmetscher. An den Nachruhm pfleg'
ich nicht zu denken, der ist für andere, nicht für mich; aber im
Augenblick recht zu tun, meine Pflicht nicht zu versäumen, meiner Ehre
nichts zu vergeben, das ist meine Sorge. Wir haben schon zu viel Worte
gemacht; jetzt geht hin - und laßt Euch von den Undankbaren danken, die
ich verschone!" Der
Dolmetsch, durch diesen unerwartet glücklichen Ausgang überrascht und
bewegt, konnte sich der Tränen nicht enthalten, und wollte dem Grafen
die Hände küssen; der Graf wies ihn ab und sagte streng und ernst:
"Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht leiden kann!" Und mit
diesen Worten trat er auf den Vorsaal, um die andringenden Geschäfte zu
besorgen, und das Begehren so vieler wartenden Menschen zu vernehmen. So
ward die Sache beigelegt, und wir feierten den andern Morgen, bei den Überbleibseln
der gestrigen Zuckergeschenke, das Vorübergehen eines Übels, dessen
Androhen wir glücklich verschlafen hatten. Ob
der Dolmetsch wirklich so weise gesprochen, oder ob er sich die Szene
nur so ausgemalt, wie man es wohl nach einer guten und glücklichen
Handlung zu tun pflegt, will ich nicht entscheiden; wenigstens hat er
bei Wiedererzählung derselben niemals variiert. Genug, dieser Tag dünkte
ihm, so wie der sorgenvollste, so auch der glorreichste seines Lebens. Wie
sehr übrigens der Graf alles falsche Zeremoniell abgelehnt, keinen
Titel, der ihm nicht gebührte, jemals angenommen, und wie er in seinen
heitern Stunden immer geistreich gewesen, davon soll eine kleine
Begebenheit ein Zeugnis ablegen. Ein
vornehmer Mann, der aber auch unter die abstrusen einsamen Frankfurter
gehörte, glaubte sich über seine Einquartierung beklagen zu müssen.
Er kam persönlich, und der Dolmetsch bot ihm seine Dienste an; jener
aber meinte derselben nicht zu bedürfen. Er trat vor den Grafen mit
einer anständigen Verbeugung und sagte: "Exzellenz!" Der Graf
gab ihm die Verbeugung zurück, so wie die Exzellenz. Betroffen von
dieser Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend, als der Titel sei zu
gering, bückte er sich tiefer, und sagte: "Monseigneur!" -
"Mein Herr", sagte der Graf ganz ernsthaft, "wir wollen
nicht weiter gehen, denn sonst könnten wir es leicht bis zur Majestät
bringen." - Der andere war äußerst verlegen und wußte kein Wort
zu sagen. Der Dolmetsch, in einiger Entfernung stehend und von der
ganzen Sache unterrichtet, war boshaft genug, sich nicht zu rühren; der
Graf aber, mit großer Heiterkeit, fuhr fort: "Zum Beispiel, mein
Herr, wie heißen sie?" - "Spangenberg", versetzte jener-
"Und ich", sagte der Graf, "heiße Thoranc. Spangenberg,
was wollt Ihr von Thoranc? und nun setzen wir uns, die Sache soll gleich
abgetan sein." Und
so wurde die Sache auch gleich zu großer Zufriedenheit desjenigen
abgetan, den ich hier Spangenberg genannt habe, und die Geschichte noch
an selbigem Abend von dem schadenfrohen Dolmetsch in unserm
Familienkreise nicht nur erzählt, sondern mit allen Umständen und Gebärden
aufgeführt. Nach
solchen Verwirrungen, Unruhen und Bedrängnissen fand sich gar bald die
vorige Sicherheit und der Leichtsinn wieder, mit welchem besonders die
Jugend von Tag zu Tag lebt, wenn es nur einigermaßen angehen will.
Meine Leidenschaft zu dem französischen Theater wuchs mit jeder
Vorstellung; ich versäumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn
ich nach dem Schauspiel mich zur speisenden Familie an den Tisch setzte
und mich gar oft nur mit einigen Resten begnügte, die steten Vorwürfe
des Vaters zu dulden hatte: das Theater sei zu gar nichts nütze, und könne
zu gar nichts führen. Ich rief in solchem Falle gewöhnlich alle und
jede Argumente hervor, welche den Verteidigern des Schauspiels zur Hand
sind, wenn sie in eine gleiche Not wie die meinige geraten. Das Laster
im Glück, die Tugend im Unglück wurden zuletzt durch die poetische
Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Die schönen Beispiele
von bestraften Vergehungen, "Miß Sara Sampson" und der
"Kaufmann von London", wurden sehr lebhaft von mir
hervorgehoben; aber ich zog dagegen öfters den kürzern, wenn die
"Schelmstreiche Scapins" und dergleichen auf dem Zettel
standen, und ich mir das Behagen mußte vorwerfen lassen, das man über
die Betrügereien ränkevoller Knechte und über den guten Erfolg der
Torheiten ausgelassener Jünglinge im Publikum empfinde. Beide Parteien
überzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater sehr bald mit der Bühne
ausgesöhnt, als er sah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der
französischen Sprache zunahm. Die
Menschen sind nun einmal so, daß jeder, was er tun sieht, lieber selbst
vornähme, er habe nun Geschick dazu oder nicht. Ich hatte nun bald den
ganzen Kursus der französischen Bühne durchgemacht; mehrere Stücke
kamen schon zum zweiten- und drittenmal; von der würdigsten Tragödie
bis zum leichtfertigsten Nachspiel war mir alles vor Augen und Geist
vorbeigegangen; und wie ich als Kind den Terenz nachzuahmen wagte, so
verfehlte ich nunmehr nicht als Knabe, bei einem viel lebhafter
dringenden Anlaß, auch die französischen Formen nach meinem Vermögen
und Unvermögen zu wiederholen. Es wurden damals einige halb
mythologische, halb allegorische Stücke im Geschmack des Piron gegeben;
sie hatten etwas von der Parodie und gefielen sehr. Diese Vorstellungen
zogen mich besonders an: die goldnen Flügelchen eines heitern Merkur,
der Donnerkeil des verkappten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine
von Göttern besuchte Schöne heißen mochte, wenn es nicht gar eine Schäferin
oder Jägerin war, zu der sie sich herunterließen. Und da mir
dergleichen Elemente aus Ovids "Verwandlungen" und Pomeys
"Pantheon mythicum" sehr häufig im Kopfe herumsummten, so
hatte ich bald ein solches Stückchen in meiner Phantasie
zusammengestellt, wovon ich nur so viel zu sagen weiß, daß die Szene ländlich
war, daß es aber doch darin weder an Königstöchtern, noch Prinzen,
noch Göttern fehlte. Der Merkur besonders war mir dabei so lebhaft im
Sinne, daß ich noch schwören wollte, ich hätte ihn mit Augen gesehen. Eine
von mir selbst sehr reinlich gefertigte Abschrift legte ich meinem
Freund Derones vor, welcher sie mit ganz besonderem Anstand und einer
wahrhaften Gönnermiene aufnahm, das Manuskript flüchtig durchsah, mir
einige Sprachfehler nachwies, einige Reden zu lang fand, und zuletzt
versprach, das Werk bei gehöriger Muße näher zu betrachten und zu
beurteilen. Auf meine bescheidene Frage, ob das Stück wohl aufgeführt
werden könne, versicherte er mir, daß es gar nicht unmöglich sei.
Sehr vieles komme beim Theater auf Gunst an, und er beschütze mich von
ganzem Herzen; nur müsse man die Sache geheim halten: denn er habe
selbst einmal mit einem von ihm verfertigten Stück die Direktion überrascht,
und es wäre gewiß aufgeführt worden, wenn man nicht zu früh entdeckt
hätte, daß er der Verfasser sei. Ich versprach ihm alles mögliche
Stillschweigen, und sah schon im Geist den Titel meiner Piece an den
Ecken der Straßen und Plätze mit großen Buchstaben angeschlagen. So
leichtsinnig übrigens der Freund war, so schien ihm doch die
Gelegenheit, den Meister zu spielen, allzu erwünscht. Er las das Stück
mit Aufmerksamkeit durch, und indem er sich mit mir hinsetzte, um einige
Kleinigkeiten zu ändern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze
Stück um und um, so daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er
strich aus, setzte zu, nahm eine Person weg, substituierte eine andere,
genug, er verfuhr mit der tollsten Willkür von der Welt, daß mir die
Haare zu Berge standen. Mein
Vorurteil, daß er es doch verstehen müsse, ließ ihn gewähren: denn
er hatte mir schon öfter von den drei Einheiten des Aristoteles, von
der Regelmäßigkeit der französischen Bühne, von der
Wahrscheinlichkeit, von der Harmonie der Verse und allem, was daran hängt,
so viel vorerzählt, daß ich ihn nicht nur für unterrichtet, sondern
auch für begründet halten mußte. Er schalt auf die Engländer und
verachtete die Deutschen; genug, er trug mir die ganze dramaturgische
Litanei vor, die ich in meinem Leben so oft mußte wiederholen hören. Ich
nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mit nach Hause,
und suchte sie wieder herzustellen, aber vergebens. Weil ich sie jedoch
nicht ganz aufgeben wollte, so ließ ich aus meinem ersten Manuskript,
nach wenigen Veränderungen, eine saubere Abschrift durch unsern
Schreibenden anfertigen, die ich denn meinem Vater überreichte und
dadurch so viel erlangte, daß er mich nach vollendetem Schauspiel meine
Abendkost eine Zeitlang ruhig verzehren ließ. Dieser
mißlungene Versuch hatte mich nachdenklich gemacht, und ich wollte
nunmehr diese Theorien, diese Gesetze, auf die sich jedermann berief,
und die mir besonders durch die Unart meines anmaßlichen Meisters verdächtig
geworden waren, unmittelbar an den Quellen kennen lernen, welches mir
zwar nicht schwer, doch mühsam wurde. Ich las zunächst Corneilles
"Abhandlung über die drei Einheiten" und ersah wohl daraus,
wie man es haben wollte; warum man es aber so verlangte, ward mir
keineswegs deutlich, und, was das Schlimmste war, ich geriet sogleich in
noch größere Verwirrung, indem ich mich mit den Händeln über den
"Cid" bekannt machte und die Vorreden las, in welchen
Corneille und Racine sich gegen Kritiker und Publikum zu verteidigen genötigt
sind. Hier sah ich wenigstens auf das deutlichste, daß kein Mensch wußte,
was er wollte; daß ein Stück wie "Cid", das die herrlichste
Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmächtigen Kardinals absolut
sollte für schlecht erklärt werden; daß Racine, der Abgott der zu
meiner Zeit lebenden Franzosen, der nun auch mein Abgott geworden war
(denn ich hatte ihn näher kennen lernen, als Schöff von Olenschlager
durch uns Kinder den "Britannicus" aufführen ließ, worin mir
die Rolle des Nero zuteil ward), daß Racine, sage ich, auch zu seiner
Zeit weder mit Liebhabern noch Kunstrichtern fertig werden können.
Durch alles dieses ward ich verworrener als jemals, und nachdem ich mich
lange mit diesem Hin- und Herreden, mit dieser theoretischen Salbaderei
des vorigen Jahrhunderts gequält hatte, schüttete ich das Kind mit dem
Bade aus, und warf den ganzen Plunder desto entschiedener von mir, je
mehr ich zu bemerken glaubte, daß die Autoren selbst, welche
vortreffliche Sachen hervorbrachten, wenn sie darüber zu reden
anfingen, wenn sie den Grund ihres Handelns angaben, wenn sie sich
verteidigen, entschuldigen, beschönigen wollten, doch auch nicht immer
den rechten Fleck zu treffen wußten. Ich eilte daher wieder zu dem
lebendig Vorhandenen, besuchte das Schauspiel weit eifriger, las
gewissenhafter und ununterbrochner, so daß ich in dieser Zeit Racine
und Mollière ganz, und von Corneille einen großen Teil durchzuarbeiten
die Anhaltsamkeit hatte. Der
Königslieutenant wohnte noch immer in unserm Hause. Er hatte sein
Betragen in nichts geändert, besonders gegen uns; allein es war
merklich, und der Gevatter Dolmetsch wußte es uns noch deutlicher zu
machen, daß er sein Amt nicht mehr mit der Heiterkeit, nicht mehr mit
dem Eifer verwaltete wie anfangs, obgleich immer mit derselben
Rechtschaffenheit und Treue. Sein Wesen und Betragen, das eher einen
Spanier als einen Franzosen ankündigte, seine Launen, die doch mitunter
Einfluß auf ein Geschäft hatten, seine Unbiegsamkeit gegen die Umstände,
seine Reizbarkeit gegen alles, was seine Person oder Charakter berührte,
dieses zusammen mochte ihn doch zuweilen mit seinen Vorgesetzten in
Konflikt bringen. Hiezu kam noch, daß er in einem Duell, welches sich
im Schauspiel entsponnen hatte, verwundet wurde, und man dem Königslieutenant
übel nahm, daß er selbst eine verpönte Handlung als oberster
Polizeimeister begangen. Alles dieses mochte, wie gesagt, dazu
beitragen, daß er in sich gezogner lebte und hier und da vielleicht
weniger energisch verfuhr. Indessen
war nun schon eine ansehnliche Partie der bestellten Gemälde
abgeliefert. Graf Thoranc brachte seine Freistunden mit der Betrachtung
derselben zu, indem er sie in gedachtem Giebelzimmer, Bahne für Bahne,
breiter und schmäler, neben einander und, weil es an Platz mangelte,
sogar über einander nageln, wieder abnehmen und aufrollen ließ. Immer
wurden die Arbeiten aufs neue untersucht, man erfreute sich wiederholt
an den Stellen, die man für die gelungensten hielt; aber es fehlte auch
nicht an Wünschen, dieses oder jenes anders geleistet zu sehen. Hieraus
entsprang eine neue und ganz wundersame Operation. Da nämlich der eine
Maler Figuren, der andere die Mittelgründe und Fernen, der dritte die Bäume,
der vierte die Blumen am besten arbeitete, so kam der Graf auf den
Gedanken, ob man nicht diese Talente in den Bildern vereinigen, und auf
diesem Wege vollkommene Werke hervorbringen könne. Der Anfang ward
sogleich damit gemacht, daß man z.B. in eine fertige Landschaft noch
schöne Herden hineinmalen ließ. Weil nun aber nicht immer der gehörige
Platz dazu da war, es auch dem Tiermaler auf ein paar Schafe mehr oder
weniger nicht ankam, so war endlich die weiteste Landschaft zu enge. Nun
hatte der Menschenmaler auch noch die Hirten und einige Wandrer
hineinzubringen; diese nahmen sich wiederum einander gleichsam die Luft,
und man war verwundert, wie sie nicht sämtlich in der freiesten Gegend
erstickten. Man konnte niemals voraussehen, was aus der Sache werden würde,
und wenn sie fertig war, befriedigte sie nicht. Die Maler wurden verdrießlich.
Bei den ersten Bestellungen hatten sie gewonnen, bei diesen Nacharbeiten
verloren sie, obgleich der Graf auch diese sehr großmütig bezahlte.
Und da die von mehrern auf einem Bilde durch einander gearbeiteten
Teile, bei aller Mühe, keinen guten Effekt hervorbrachten, so glaubte
zuletzt ein jeder, daß seine Arbeit durch die Arbeiten der andern
verdorben und vernichtet worden; daher wenig fehlte, die Künstler hätten
sich hierüber entzweit und wären in unversöhnliche Feindschaft
geraten. Dergleichen Veränderungen oder vielmehr Zutaten wurden in
gedachtem Atelier, wo ich mit den Künstlern ganz allein blieb,
ausgefertiget; und es unterhielt mich, aus den Studien, besonders der
Tiere, dieses und jenes Einzelne, diese oder jene Gruppe auszusuchen,
und sie für die Nähe oder die Ferne in Vorschlag zu bringen; worin man
mir denn manchmal aus Überzeugung oder Geneigtheit zu willfahren
pflegte. Die
Teilnehmenden an diesem Geschäft wurden also höchst mutlos, besonders
Seekatz, ein sehr hypochondrischer und in sich gezogner Mann, der zwar
unter Freunden durch eine unvergleichlich heitre Laune sich als den
besten Gesellschafter bewies, aber, wenn er arbeitete, allein, in sich
gekehrt und völlig frei wirken wollte. Dieser sollte nun, wenn er
schwere Aufgaben gelöst, sie mit dem größten Fleiß und der wärmsten
Liebe, deren er immer fähig war, vollendet hatte, zu wiederholten Malen
von Darmstadt nach Frankfurt reisen, um entweder an seinen eigenen
Bildern etwas zu verändern, oder fremde zu staffieren, oder gar unter
seinem Beistand durch einen Dritten seine Bilder ins Buntscheckige
arbeiten wo zu lassen. Sein Mißmut nahm zu, sein Widerstand entschied
sich, und es brauchte großer Bemühungen von unserer Seite, um diesen
Gevatter - denn auch er war's geworden - nach des Grafen Wünschen zu
lenken. Ich erinnere mich noch, daß, als schon die Kasten bereit
standen, um die sämtlichen Bilder in der Ordnung einzupacken, in
welcher sie an dem Ort ihrer Bestimmung der Tapezierer ohne weiteres
aufheften konnte, daß, sage ich, nur eine kleine doch unumgängliche
Nacharbeit erfordert wurde, Seekatz aber nicht zu bewegen war herüberzukommen.
Er hatte freilich noch zu guter Letzt das Beste getan, was er vermochte,
indem er die vier Elemente in Kindern und Knaben, nach dem Leben, in Türstücken
dargestellt, und nicht allein auf die Figuren, sondern auch auf die
Beiwerke den größten Fleiß gewendet hatte. Diese waren abgeliefert,
bezahlt, und er glaubte auf immer aus der Sache geschieden zu sein; nun
aber sollte er wieder herüber, um einige Bilder, deren Maße etwas zu
klein genommen worden, mit wenigen Pinselzügen zu erweitern. Ein
anderer, glaubte er, könne das auch tun; er hatte sich schon zu neuer
Arbeit eingerichtet; kurz, er wollte nicht kommen. Die Absendung war vor
der Türe, trocknen sollte es auch noch, jeder Verzug war mißlich; der
Graf, in Verzweiflung, wollte ihn militärisch abholen lassen. Wir alle
wünschten die Bilder endlich fort zu sehen, und fanden zuletzt keine
Auskunft, als daß der Gevatter Dolmetsch sich in einen Wagen setzte und
den Widerspenstigen mit Frau und Kind herüberholte, der dann von dem
Grafen freundlich empfangen, wohl gepflegt, und zuletzt reichlich
beschenkt entlassen wurde. Nach
den fortgeschafften Bildern zeigte sich ein großer Friede im Hause. Das
Giebelzimmer im Mansard wurde gereinigt und mir übergeben, und mein
Vater, wie er die Kasten fortschaffen sah, konnte sich des Wunsches
nicht erwehren, den Grafen hinterdrein zu schicken. Denn wie sehr die
Neigung des Grafen auch mit der seinigen übereinstimmte; wie sehr es
den Vater freuen mußte, seinen Grundsatz, für lebende Meister zu
sorgen, durch einen Reicheren so fruchtbar befolgt zu sehen; wie sehr es
ihn schmeicheln konnte, daß seine Sammlung Anlaß gegeben, einer Anzahl
braver Künstler in bedrängter Zeit einen so ansehnlichen Erwerb zu
verschaffen: so fühlte er doch eine solche Abneigung gegen den Fremden,
der in sein Haus eingedrungen, daß ihm an dessen Handlungen nichts
recht dünken konnte. Man solle Künstler beschäftigen, aber nicht zu
Tapetenmalern erniedrigen; man solle mit dem, was sie nach ihrer Überzeugung
und Fähigkeit geleistet, wenn es einem auch nicht durchgängig behage,
zufrieden sein und nicht immer daran markten und mäkeln: genug, es gab,
ungeachtet des Grafen eigner liberaler Bemühung, ein für allemal kein
Verhältnis. Mein Vater besuchte jenes Zimmer bloß, wenn sich der Graf
bei Tafel befand, und ich erinnere mich nur ein einziges Mal, als
Seekatz sich selbst übertroffen hatte und das Verlangen, diese Bilder
zu sehen, das ganze Haus herbeitrieb, daß mein Vater und der Graf
zusammentreffend an diesen Kunstwerken ein gemeinsames Gefallen
bezeigten, das sie an einander selbst nicht finden konnten. Kaum
hatten also die Kisten und Kasten das Haus geräumt, als der früher
eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder
angeknüpft wurde. Man suchte durch Vorstellungen die Gerechtigkeit, die
Billigkeit durch Bitten, durch Einfluß die Neigung zu gewinnen, und
brachte es endlich dahin, daß die Quartierherren den Beschluß faßten:
es solle der Graf umlogiert, und unser Haus, in Betracht der seit
einigen Jahren unausgesetzt Tag und Nacht getragnen Last, künftig mit
Einquartierung verschont werden. Damit sich aber hierzu ein scheinbarer
Vorwand finde, so solle man in eben den ersten Stock, den bisher der Königslieutenant
besetzt gehabt, Mietleute einnehmen und dadurch eine neue Bequartierung
gleichsam unmöglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von seinen
geliebten Gemälden kein besonderes Interesse mehr am Hause fand, auch
ohnehin bald abgerufen und versetzt zu werden hoffte, ließ es sich ohne
Widerrede gefallen, eine andere gute Wohnung zu beziehen, und schied von
uns in Frieden und gutem Willen. Auch verließ er bald darauf die Stadt
und erhielt stufenweise noch verschiedene Chargen, doch, wie man hörte,
nicht zu seiner Zufriedenheit. Er hatte indes das Vergnügen, jene so
emsig von ihm besorgten Gemälde in dem Schlosse seines Bruders glücklich
angebracht zu sehen; schrieb einige Male, sendete Maße und ließ von
den mehr genannten Künstlern verschiedenes nacharbeiten. Endlich
vernahmen wir nichts weiter von ihm, außer daß man uns nach mehreren
Jahren versichern wollte, er sei in Westindien, auf einer der französischen
Kolonien, als Gouverneur gestorben.
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Wolfgang
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