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Johann Wolfgang
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Viertes BuchSo
viel Unbequemlichkeit uns auch die französische Einquartierung mochte
verursacht haben, so waren wir sie doch zu gewohnt geworden, als daß
wir sie nicht hätten vermissen, daß uns Kindern das Haus nicht hätte
tot scheinen sollen. Auch war es uns nicht bestimmt, wieder zur völligen
Familieneinheit zu gelangen. Neue Mietleute waren schon besprochen, und
nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und
Anstreichen war das Haus völlig wieder hergestellt. Der Kanzleidirektor
Moritz mit den Seinigen, sehr werte Freunde meiner Eltern, zogen ein.
Dieser, kein geborner Frankfurter, aber ein tüchtiger Jurist und Geschäftsmann,
besorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fürsten, Grafen und
Herren. Ich habe ihn niemals anders als heiter und gefällig und über
seinen Akten emsig gesehen. Frau und Kinder, sanft, still und
wohlwollend, vermehrten zwar nicht die Geselligkeit in unserm Hause:
denn sie blieben für sich; aber es war eine Stille, ein Friede zurückgekehrt,
den wir lange Zeit nicht genossen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein
Mansardzimmer, in welchem die Gespenster der vielen Gemälde mir
zuweilen vorschwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu
verscheuchen suchte. Der Legationsrat Moritz, ein Bruder des
Kanzleidirektors, kam von jetzt an auch öfters in unser Haus. Er war
schon mehr Weltmann, von einer ansehnlichen Gestalt und dabei von bequem
gefälligem Betragen. Auch er besorgte die Angelegenheiten verschiedener
Standespersonen, und kam mit meinem Vater, bei Anlaß von Konkursen und
kaiserlichen Kommissionen, mehrmals in Berührung. Beide hielten viel
auf einander, und standen gemeiniglich auf der Seite der Kreditoren, mußten
aber zu ihrem Verdruß gewöhnlich erfahren, daß die Mehrheit der bei
solcher Gelegenheit Abgeordneten für die Seite der Debitoren gewonnen
zu werden pflegt. Der Legationsrat teilte seine Kenntnisse gern mit, war
ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwärtigen
Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnügen daraus,
mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den
Stand gesetzt, meine architektonischen Risse genauer als bisher
auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt
auch täglich eine Stunde beschäftigte, besser zu nutzen. Dieser
gute alte Mann war freilich nur ein Halbkünstler. Wir mußten Striche
machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und
Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Köpfe entstehen sollten; allein
es war dabei weder an natürliche noch künstliche Form gedacht. Wir
wurden eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt
gequält, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als
wir die sogenannten Affekten von Lebrun zur Nachzeichnung erhielten.
Aber auch diese Zerrbilder förderten uns nicht. Nun schwankten wir zu
den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewöhnlichen
Unterricht ohne Folge und ohne Methode geübt werden. Zuletzt fielen wir
auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns
weiter um den Wert des Originals oder dessen Geschmack zu bekümmern. In
diesem Bestreben ging uns der Vater auf eine musterhafte Weise vor. Er
hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine Kinder diese Kunst
trieben, nicht zurückbleiben, sondern ihnen, selbst in seinem Alter,
ein Beispiel geben, wie sie in ihrer Jugend verfahren sollten. Er
kopierte also einige Köpfe des Piazzetta, nach dessen bekannten Blättern
in klein Oktav, mit englischem Bleistift auf das feinste holländische
Papier. Er beobachtete dabei nicht allein die größte Reinlichkeit im
Umriß, sondern ahmte auch die Schraffierung des Kupferstichs aufs
genauste nach, mit einer leichten Hand, nur allzu leise, da er denn,
weil er die Härte vermeiden wollte, keine Haltung in seine Blätter
brachte. Doch waren sie durchaus zart und gleichförmig. Sein
anhaltender unermüdlicher Fleiß ging so weit, daß er die ganze
ansehnliche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indessen
wir Kinder von einem Kopf zum andern sprangen und uns nur die auswählten,
die uns gefielen. Um
diese Zeit ward auch der schon längst in Beratung gezogne Vorsatz, uns
in der Musik unterrichten zu lassen, ausgeführt; und zwar verdient der
letzte Anstoß dazu wohl einige Erwähnung. Daß wir das Klavier lernen
sollten, war ausgemacht; allein über die Wahl des Meisters war man
immer streitig gewesen. Endlich komme ich einmal zufälligerweise in das
Zimmer eines meiner Gesellen, der eben Klavierstunde nimmt, und finde
den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. Für jeden Finger der
rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs
lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht werden soll. Die schwarzen und
weißen Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Töne selbst
erscheinen unter figürlichen Namen. Eine solche bunte Gesellschaft
arbeitet nun ganz vergnüglich durcheinander. Applikatur und Takt
scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der Schüler
zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum schönsten
vonstatten. Kaum
war ich nach Hause gekommen, als ich den Eltern anlag, nunmehr Ernst zu
machen und uns diesen unvergleichlichen Mann zum Klaviermeister zu
geben. Man nahm noch einigen Anstand, man erkundigte sich; man hörte
zwar nichts Übles von dem Lehrer, aber auch nichts sonderlich Gutes.
Ich hatte indessen meiner Schwester alle die lustigen Benennungen erzählt,
wir konnten den Unterricht kaum erwarten, und setzten es durch, daß der
Mann angenommen wurde. Das
Notenlesen ging zuerst an, und als dabei kein Spaß vorkommen wollte, trösteten
wir uns mit der Hoffnung, daß, wenn es erst ans Klavier gehen würde,
wenn es an die Finger käme, das scherzhafte Wesen seinen Anfang nehmen
würde. Allein weder Tastatur noch Fingersetzung schien zu einigem
Gleichnis Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren
Strichen auf und zwischen den fünf Linien, blieben auch die schwarzen
und weißen Claves, und weder von einem Däumerling noch Deuterling noch
Goldfinger war mehr eine Silbe zu hören; und das Gesicht verzog der
Mann so wenig beim trocknen Unterricht, als er es vorher beim trocknen
Spaß verzogen hatte. Meine Schwester machte mir die bittersten Vorwürfe,
daß ich sie getäuscht habe, und glaubte wirklich, es sei nur Erfindung
von mir gewesen. Ich war aber selbst betäubt und lernte wenig, ob der
Mann gleich ordentlich genug zu Werke ging: denn ich wartete immer noch,
die frühern Späße sollten zum Vorschein kommen, und vertröstete
meine Schwester von einem Tage zum andern. Aber sie blieben aus, und ich
hätte mir dieses Rätsel niemals erklären können, wenn es mir nicht
gleichfalls ein Zufall aufgelöst hätte. Einer
meiner Gespielen trat herein, mitten in der Stunde, und auf einmal eröffneten
sich die sämtlichen Röhren des humoristischen Springbrunnens; die Däumerlinge
und Deuterlinge, die Krabler und Zabler, wie er die Finger zu bezeichnen
pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z.B. die Noten f und g, die
Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf einmal
wieder vorhanden und machten die wundersamsten Männerchen. Mein junger
Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute sich, daß man auf eine so
lustige Weise so viel lernen könne. Er schwur, daß er seinen Eltern
keine Ruhe lassen würde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann
zum Lehrer gegeben. Und
so war mir, nach den Grundsätzen einer neuern Erziehungslehre, der Weg
zu zwei Künsten früh genug eröffnet, bloß auf gut Glück, ohne Überzeugung,
daß ein angebornes Talent mich darin weiter fördern könne. Zeichnen müsse
jedermann lernen, behauptete mein Vater, und verehrte deshalb besonders
Kaiser Maximilian, welcher dieses ausdrücklich solle befohlen haben.
Auch hielt er mich ernstlicher dazu an als zur Musik, welche er dagegen
meiner Schwester vorzüglich empfahl, ja dieselbe außer ihren
Lehrstunden eine ziemliche Zeit des Tages am Klaviere festhielt. Je
mehr ich aber auf diese Weise zu treiben veranlaßt wurde, desto mehr
wollte ich treiben, und selbst die Freistunden wurden zu allerlei
wunderlichen Beschäftigungen verwendet. Schon seit meinen frühsten
Zeiten fühlte ich einen Untersuchungstrieb gegen natürliche Dinge. Man
legt es manchmal als eine Anlage zur Grausamkeit aus, daß Kinder solche
Gegenstände, mit denen sie eine Zeitlang gespielt, die sie bald so,
bald so gehandhabt, endlich zerstücken, zerreißen und zerfetzen. Doch
pflegt sich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie solche
Dinge zusammenhängen, wie sie inwendig aussehen, auf diese Weise an den
Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind Blumen zerpflückt,
um zu sehen, wie die Blätter in den Kelch, oder auch Vögel berupft, um
zu beobachten, wie die Federn in die Flügel eingefügt waren. Ist doch
Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher öfter
durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Verknüpfen, mehr
durch Töten als durch Beleben sich zu unterrichten glauben. Ein
bewaffneter Magnetstein, sehr zierlich in Scharlachtuch eingenäht, mußte
auch eines Tages die Wirkung einer solchen Forschungslust erfahren. Denn
diese geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepaßte
Eisenstäbchen ausübte, sondern die noch überdies von der Art war, daß
sie sich verstärken und täglich ein größres Gewicht tragen konnte,
diese geheimnisvolle Tugend hatte mich dergestalt zur Bewunderung
hingerissen, daß ich mir lange Zeit bloß im Anstaunen ihrer Wirkung
gefiel. Zuletzt aber glaubte ich doch einige nähere Aufschlüsse zu
erlangen, wenn ich die äußere Hülle wegtrennte. Dies geschah, ohne daß
ich dadurch klüger geworden wäre: denn die nackte Armatur belehrte
mich nicht weiter. Auch diese nahm ich herab und behielt nun den bloßen
Stein in Händen, mit dem ich durch Feilspäne und Nähnadeln mancherlei
Versuche zu machen nicht ermüdete, aus denen jedoch mein jugendlicher
Geist, außer einer mannigfaltigen Erfahrung, keinen weiteren Vorteil
zog. Ich wußte die ganze Vorrichtung nicht wieder zusammenzubringen,
die Teile zerstreuten sich, und ich verlor das eminente Phänomen
zugleich mit dem Apparat. Nicht
glücklicher ging es mir mit der Zusammensetzung einer
Elektrisiermaschine. Ein Hausfreund, dessen Jugend in die Zeit gefallen
war, in welcher die Elektrizität alle Geister beschäftigte, erzählte
uns öfter, wie er als Knabe eine solche Maschine zu besitzen gewünscht,
wie er sich die Hauptbedingungen abgesehen, und mit Hülfe eines alten
Spinnrades und einiger Arzneigläser ziemliche Wirkungen hervorgebracht.
Da er dieses gern und oft wiederholte, und uns dabei von der Elektrizität
überhaupt unterrichtete, so fanden wir Kinder die Sache sehr plausibel,
und quälten uns mit einem alten Spinnrade und einigen Arzneigläsern
lange Zeit herum, ohne auch nur die mindeste Wirkung hervorbringen zu können.
Wir hielten demungeachtet am Glauben fest, und waren sehr vergnügt, als
zur Meßzeit, unter andern Raritäten, Zauber- und Taschenspielerkünsten,
auch eine Elektrisiermaschine ihre Kunststücke machte, welche, so wie
die magnetischen, für jene Zeit schon sehr vervielfältigt waren. Das
Mißtrauen gegen den öffentlichen Unterricht vermehrte sich von Tage zu
Tage. Man sah sich nach Hauslehrern um, und weil einzelne Familien den
Aufwand nicht bestreiten konnten, so traten mehrere zusammen, um eine
solche Absicht zu erreichen. Allein die Kinder vertrugen sich selten;
der junge Mann hatte nicht Autorität genug, und nach oft wiederholtem
Verdruß gab es nur gehässige Trennungen. Kein Wunder daher, daß man
auf andere Anstalten dachte, welche sowohl beständiger als
vorteilhafter sein sollten. Auf
den Gedanken, Pensionen zu errichten, war man durch die Notwendigkeit
gekommen, welche jedermann empfand, daß die französische Sprache
lebendig gelehrt und überliefert werden müsse. Mein Vater hatte einen
jungen Menschen erzogen, der bei ihm Bedienter, Kammerdiener, Sekretär,
genug, nach und nach alles in allem gewesen war. Dieser, namens Pfeil,
sprach gut Französisch und verstand es gründlich. Nachdem er sich
verheiratet hatte und seine Gönner für ihn auf einen Zustand denken mußten,
so fielen sie auf den Gedanken, ihn eine Pension errichten zu lassen,
die sich nach und nach zu einer kleinen Schulanstalt erweiterte, in der
man alles Notwendige, ja zuletzt sogar Lateinisch und Griechisch lehrte.
Die weitverbreiteten Konnexionen von Frankfurt gaben Gelegenheit, daß
junge Franzosen und Engländer, um Deutsch zu lernen und sonst sich
auszubilden, dieser Anstalt anvertraut wurden. Pfeil, der ein Mann in
seinen besten Jahren, von der wundersamsten Energie und Tätigkeit war,
stand dem Ganzen sehr lobenswürdig vor, und weil er nie genug beschäftigt
sein konnte, so warf er sich bei Gelegenheit, da er seinen Schülern
Musikmeister halten mußte, selbst in die Musik, und betrieb das
Klavierspielen mit solchem Eifer, daß er, der niemals vorher eine Taste
angerührt hatte, sehr bald recht fertig und brav spielte. Er schien die
Maxime meines Vaters angenommen zu haben, daß junge Leute nichts mehr
aufmuntern und anregen könne, als wenn man selbst schon in gewissen
Jahren sich wieder zum Schüler erklärte, und in einem Alter, worin man
sehr schwer neue Fertigkeiten erlangt, dennoch durch Eifer und
Anhaltsamkeit Jüngern, von der Natur mehr Begünstigten, den Rang
abzulaufen suche. Durch
diese Neigung zum Klavierspielen ward Pfeil auf die Instrumente selbst
geführt, und indem er sich die besten zu verschaffen hoffte, kam er in
Verhältnisse mit Friederici in Gera, dessen Instrumente weit und breit
berühmt waren. Er nahm eine Anzahl davon in Kommission, und hatte nun
die Freude, nicht nur etwa einen Flügel, sondern mehrere in seiner
Wohnung aufgestellt zu sehen, sich darauf zu üben und hören zu lassen. Auch
in unser Haus brachte die Lebendigkeit dieses Mannes einen größern
Musikbetrieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf die strittigen Punkte,
in einem dauernden guten Verhältnisse. Auch für uns ward ein großer
Friedericischer Flügel angeschafft, den ich, bei meinem Klavier
verweilend, wenig berührte, der aber meiner Schwester zu desto größerer
Qual gedieh, weil sie, um das neue Instrument gehörig zu ehren, täglich
noch einige Zeit mehr auf ihre Übungen zu wenden hatte; wobei mein
Vater als Aufseher, Pfeil aber als Musterbild und antreibender
Hausfreund abwechselnd zur Seite standen. Eine
besondere Liebhaberei meines Vaters machte uns Kindern viel
Unbequemlichkeit. Es war nämlich die Seidenzucht, von deren Vorteil,
wenn sie allgemeiner verbreitet würde, er einen großen Begriff hatte.
Einige Bekanntschaften in Hanau, wo man die Zucht der Würmer sehr sorgfältig
betrieb, gaben ihm die nächste Veranlassung. Von dorther wurden ihm zu
rechter Zeit die Eier gesendet; und sobald die Maulbeerbäume genügsames
Laub zeigten, ließ man sie ausschlüpfen, und wartete der kaum
sichtbaren Geschöpfe mit großer Sorgfalt. In einem Mansardzimmer waren
Tische und Gestelle mit Brettern aufgeschlagen, um ihnen mehr Raum und
Unterhalt zu bereiten: denn sie wuchsen schnell, und waren nach der
letzten Häutung so heißhungrig, daß man kaum Blätter genug
herbeischaffen konnte, sie zu nähren; ja sie mußten Tag und Nacht gefüttert
werden, weil eben alles darauf ankommt, daß sie der Nahrung ja nicht zu
einer Zeit ermangeln, wo die große und wundersame Veränderung in ihnen
vorgehen soll. War die Witterung günstig, so konnte man freilich dieses
Geschäft als eine lustige Unterhaltung ansehen; trat aber Kälte ein,
daß die Maulbeerbäume litten, so machte es große Not. Noch
unangenehmer aber war es, wenn in der letzten Epoche Regen einfiel: denn
diese Geschöpfe können die Feuchtigkeit gar nicht vertragen; und so mußten
die benetzten Blätter sorgfältig abgewischt und getrocknet werden,
welches denn doch nicht immer so genau geschehen konnte, und aus dieser
oder vielleicht auch einer andern Ursache kamen mancherlei Krankheiten
unter die Herde, wodurch die armen Kreaturen zu Tausenden hingerafft
wurden. Die daraus entstehende Fäulnis erregte einen wirklich
pestartigen Geruch, und da man die toten und kranken wegschaffen und von
den gesunden absondern mußte, um nur einige zu retten, so war es in der
Tat ein äußerst beschwerliches und widerliches Geschäft, das uns
Kindern manche böse Stunde verursachte. Nachdem
wir nun eines Jahrs die schönsten Frühlings und Sommerwochen mit
Wartung der Seidenwürmer hingebracht, mußten wir dem Vater in einem
andern Geschäft beistehen, das, obgleich einfacher, uns dennoch nicht
weniger beschwerlich ward. Die römischen Prospekte nämlich, welche in
dem alten Hause, in schwarze Stäbe oben und so unten eingefaßt, an den
Wänden mehrere Jahre gehangen hatten, waren durch Licht, Staub und
Rauch sehr vergilbt, und durch die Fliegen nicht wenig unscheinbar
geworden. War nun eine solche Unreinlichkeit in dem neuen Hause nicht
zulässig, so hatten diese Bilder für meinen Vater auch durch seine längere
Entferntheit von den vorgestellten Gegenden an Wert gewonnen. Denn im
Anfange dienen uns dergleichen Abbildungen, die erst kurz vorher
empfangenen Eindrücke aufzufrischen und zu beleben. Sie scheinen uns
gering gegen diese und meistens nur ein trauriges Surrogat. Verlischt
hingegen das Andenken der Urgestalten immer mehr und mehr, so treten die
Nachbildungen unvermerkt an ihre Stelle, sie werden uns so teuer, als es
jene waren, und was wir anfangs mißgeachtet, erwirbt sich nunmehr unsre
Schätzung und Neigung. So geht es mit allen Abbildungen, besonders auch
mit Porträten. Nicht leicht ist jemand mit dem Konterfei eines Gegenwärtigen
zufrieden, und wie erwünscht ist uns jeder Schattenriß eines
Abwesenden oder gar Abgeschiedenen. Genug,
in diesem Gefühl seiner bisherigen Verschwendung wollte mein Vater jene
Kupferstiche so viel wie möglich wieder hergestellt wissen. Daß dieses
durch Bleichen möglich sei, war bekannt; und diese bei großen Blättern
immer bedenkliche Operation wurde unter ziemlich ungünstigen Lokalumständen
vorgenommen. Denn die großen Bretter, worauf die angerauchten Kupfer
befeuchtet und der Sonne ausgestellt wurden, standen vor Mansardfenstern
in den Dachrinnen an das Dach gelehnt, und waren daher manchen Unfällen
ausgesetzt. Dabei war die Hauptsache, daß das Papier niemals
austrocknen durfte, sondern immer feucht gehalten werden mußte. Diese
Obliegenheit hatte ich und meine Schwester, wobei uns denn wegen der
Langenweile und Ungeduld, wegen der Aufmerksamkeit, die uns keine
Zerstreuung zuließ, ein sonst so sehr erwünschter Müßiggang zur höchsten
Qual gereichte. Die Sache ward gleichwohl durchgesetzt, und der
Buchbinder, der jedes Blatt auf starkes Papier aufzog, tat sein Bestes,
die hier und da durch unsre Fahrlässigkeit zerrissenen Ränder
auszugleichen und herzustellen. Die sämtlichen Blätter wurden in einen
Band zusammengefaßt und waren für diesmal gerettet. Damit
es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerlei des Lebens und Lernens
fehlen möchte, so mußte sich gerade um diese Zeit ein englischer
Sprachmeister melden, welcher sich anheischig machte, innerhalb vier
Wochen einen jeden, der nicht ganz roh in Sprachen sei, die englische zu
lehren und ihn so weit zu bringen, daß er sich mit einigem Fleiß
weiter helfen könne. Er nahm ein mäßiges Honorar; die Anzahl der Schüler
in einer Stunde war ihm gleichgültig. Mein Vater entschloß sich auf
der Stelle, den Versuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwester
bei dem expediten Meister Lektion. Die Stunden wurden treulich gehalten,
am Repetieren fehlte es auch nicht; man ließ die vier Wochen über eher
einige andere Übungen liegen; der Lehrer schied von uns und wir von ihm
mit Zufriedenheit. Da er sich länger in der Stadt aufhielt und viele
Kunden fand, so kam er von Zeit zu Zeit nachzusehen und nachzuhelfen,
dankbar, daß wir unter die ersten gehörten, welche Zutrauen ihm
gehabt, und stolz, uns den übrigen als Muster anführen zu können. In
Gefolg von diesem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, daß auch das
Englische hübsch in der Reihe der übrigen Sprachbeschäftigungen
bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer lästiger wurde, bald aus
dieser bald aus jener Grammatik oder Beispielsammlung, bald aus diesem
oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und so meinen
Anteil an den Gegenständen zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich
kam daher auf den Gedanken, alles mit einmal abzutun, und erfand einen
Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die, von einander entfernt und
in der Welt zerstreut, sich wechselseitig Nachricht von ihren Zuständen
und Empfindungen mitteilen. Der älteste Bruder gibt in gutem Deutsch
Bericht von allerlei Gegenständen und Ereignissen seiner Reise. Die
Schwester, in einem frauenzimmerlichen Stil, mit lauter Punkten und in
kurzen Sätzen, ungefähr wie nachher "Siegwart" geschrieben
wurde, erwidert bald ihm, bald den andern Geschwistern, was sie teils
von häuslichen Verhältnissen, teils von Herzensangelegenheiten zu erzählen
hat. Ein Bruder studiert Theologie und schreibt ein sehr förmliches
Latein, dem er manchmal ein griechisches Postskript hinzufügt. Einem
folgenden, in Hamburg als Handlungsdiener angestellt, ward natürlich
die englische Korrespondenz zuteil, so wie einem jüngern, der sich in
Marseille aufhielt, die französische. Zum Italienischen fand sich ein
Musikus auf seinem ersten Ausflug in die Welt, und der jüngste, eine
Art von naseweisem Nestquackelchen, hatte, da ihm die übrigen Sprachen
abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte durch
seine schrecklichen Chiffern die übrigen in Verzweiflung und die Eltern
über den guten Einfall zum Lachen. Für
diese wunderliche Form suchte ich mir einigen Gehalt, indem ich die
Geographie der Gegenden, wo meine Geschöpfe sich aufhielten, studierte,
und zu jenen trockenen Lokalitäten allerlei Menschlichkeiten hinzu
erfand, die mit dem Charakter der Personen und ihrer Beschäftigung
einige Verwandtschaft hatten. Auf diese Weise wurden meine Exerzitienbücher
viel voluminöser; der Vater war zufriedener, und ich ward eher gewahr,
was mir an eigenem Vorrat und an Fertigkeiten abging. Wie
nun dergleichen Dinge, wenn sie einmal im Gange sind, kein Ende und
keine Grenzen haben, so ging es auch hier: denn indem ich mir das
barocke Judendeutsch zuzueignen und es ebenso gut zu schreiben suchte,
als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntnis des Hebräischen
fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten
und mit einiger Sicherheit behandeln ließ. Ich eröffnete daher meinem
Vater die Notwendigkeit, Hebräisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft
seine Einwilligung: denn ich hatte noch einen höhern Zweck. Überall hörte
ich sagen, daß zum Verständnis des Alten Testaments so wie des Neuen
die Grundsprachen nötig wären. Das letzte las ich ganz bequem, weil
die sogenannten Evangelien und Episteln, damit es ja auch Sonntags nicht
an Übung fehle, nach der Kirche rezitiert, übersetzt und einigermaßen
erklärt werden mußten. Ebenso dachte ich es nun auch mit dem Alten
Testamente zu halten, das mir wegen seiner Eigentümlichkeit ganz
besonders von jeher zugesagt hatte. Mein
Vater, der nicht gern etwas halb tat, beschloß, den Rektor unseres
Gymnasiums, Doktor Albrecht, um Privatstunden zu ersuchen, die er mir wöchentlich
so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Nötigste
gefaßt hätte; denn er hoffte, sie werde, wo nicht so schnell, doch
wenigstens in doppelter Zeit als die englische sich abtun lassen. Der
Rektor Albrecht war eine der originalsten Figuren von der Welt, klein,
nicht dick aber breit, unförmlich ohne verwachsen zu sein, kurz ein Äsop
mit Chorrock und Perücke. Sein über-siebzigjähriges Gesicht war
durchaus zu einem sarkastischen Lächeln verzogen, wobei seine Augen
immer groß blieben und, obgleich rot, doch immer leuchtend und
geistreich waren. Er wohnte in dem alten Kloster zu den Barfüßern, dem
Sitz des Gymnasiums. Ich hatte schon als Kind, meine Eltern begleitend,
ihn manchmal besucht, und die langen dunklen Gänge, die in
Visitenzimmer verwandelten Kapellen, das unterbrochne treppen- und
winkelhafte Lokal mit schaurigem Behagen durchstrichen. Ohne mir
unbequem zu sein, examinierte er mich, so oft er mich sah, und lobte und
ermunterte mich. Eines Tages, bei der Translokation nach öffentlichem
Examen, sah er mich als einen auswärtigen Zuschauer, während er die
silbernen praemia virtutis et diligentize austeilte, nicht weit von
seinem Katheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen
blicken, aus welchem er die Schaumünzen hervorzog; er winkte mir, trat
eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine
Freude war groß, obgleich andre wo diese einem Nicht Schulknaben gewährte
Gabe außer aller Ordnung fanden. Allein daran war dem guten Alten wenig
gelegen, der überhaupt den Sonderling und zwar in einer auffallenden
Weise spielte. Er hatte als Schulmann einen sehr guten Ruf und verstand
sein Handwerk, ob ihm gleich das Alter solches auszuüben nicht mehr
ganz gestattete. Aber beinahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit
fühlte er sich durch äußere Umstände gehindert, und wie ich schon früher
wußte, war er weder mit dem Konsistorium, noch den Scholarchen, noch
den Geistlichen, noch auch den Lehrern zufrieden. Seinem Naturell, das
sich zum Aufpassen auf Fehler und Mängel und zur Satire hinneigte, ließ
er sowohl in Programmen als in öffentlichen Reden freien Lauf, und wie
Lucian fast der einzige Schriftsteller war, den er las und schätzte, so
würzte er alles, was er sagte und schrieb, mit beizenden Ingredienzien. Glücklicherweise
für diejenigen, mit welchen er unzufrieden war, ging er niemals direkt
zu Werke, sondern schraubte nur mit Bezügen, Anspielungen, klassischen
Stellen und biblischen Sprüchen auf die Mängel hin, die er zu rügen
gedachte. Dabei war sein mündlicher Vortrag (er las seine Reden
jederzeit ab) unangenehm, unverständlich, und über alles dieses
manchmal durch einen Husten, öfters aber durch ein hohles bauchschütterndes
Lachen unterbrochen, womit er die beißenden Stellen anzukündigen und
zu begleiten pflegte. Diesen seltsamen Mann fand ich mild und willig,
als ich anfing, meine Stunden bei ihm zu nehmen. Ich ging nun täglich
abends um 6 Uhr zu ihm, und fühlte immer ein heimliches Behagen wenn
sich die Klingeltüre hinter mir schloß, und ich nun den langen düsteren
Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek an
einem mit Wachstuch beschlagenen Tische; ein sehr durchlesener Lucian
kam nie von seiner Seite. Ohngeachtet alles Wohlwollens gelangte ich
doch nicht ohne Einstand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewisse spöttische
Anmerkungen, und was es denn mit dem Hebräischen eigentlich solle,
nicht unterdrücken. Ich verschwieg ihm die Absicht auf das
Judendeutsch, und sprach von besserem Verständnis des Grundtextes.
Darauf lächelte er und meinte, ich solle schon zufrieden sein, wenn ich
nur lesen lernte. Dies verdroß mich im stillen, und ich nahm alle meine
Aufmerksamkeit zusammen, als es an die Buchstaben kam. Ich fand ein
Alphabet, das ungefähr dem griechischen zur Seite ging, dessen
Gestalten faßlich, dessen Benennungen mir zum größten Teil nicht
fremd waren. Ich hatte dies alles sehr bald begriffen und behalten, und
dachte, es sollte nun ans Lesen gehen. Daß dieses von der rechten zur
linken Seite geschehe, war mir wohl bewußt. Nun aber trat auf einmal
ein neues Heer von kleinen Buchstäbchen und Zeichen hervor, von Punkten
und Strichelchen aller Art welche eigentlich die Vokale vorstellen
sollten, worüber ich mich um so mehr verwunderte, als sich in dem größern
Alphabete offenbar Vokale befanden, und die übrigen nur unter fremden
Benennungen verborgen zu sein schienen. Auch ward gelehrt, daß die jüdische
Nation, solange sie geblüht, wirklich sich mit jenen ersten Zeichen
begnügt und keine andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt habe.
Ich wäre nun gar zu gern auf diesem altertümlichen, wie mir schien
bequemeren Wege gegangen; allein mein Alter erklärte etwas streng: man
müsse nach der Grammatik verfahren, wie sie einmal beliebt und verfaßt
worden. Das Lesen ohne diese Punkte und Striche sei eine sehr schwere
Aufgabe, und könne nur von Gelehrten und den Geübtesten geleistet
werden. Ich mußte mich also bequemen, auch diese kleinen Merkzeichen
kennen zu lernen; aber die Sache ward mir immer verworrner. Nun sollten
einige der ersten größern Urzeichen an ihrer Stelle gar nichts gelten,
damit ihre kleinen Nachgebornen doch ja nicht umsonst dastehen möchten.
Dann sollten sie einmal wieder einen leisen Hauch, dann einen mehr oder
weniger harten Kehllaut andeuten, bald gar nur als Stütze und Widerlage
dienen. Zuletzt aber, wenn man sich alles wohl gemerkt zu haben glaubte,
wurden einige der großen sowohl als der kleinen Personnagen in den
Ruhestand versetzt, so daß das Auge immer sehr viel und die Lippe sehr
wenig zu tun hatte. Indem
ich nun dasjenige, was mir dem Inhalt nach schon bekannt war, in einem
fremden kauderwelschen Idiom herstottern sollte, wobei mir denn ein
gewisses Näseln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig
empfohlen wurde, so kam ich gewissermaßen von der Sache ganz ab, und amüsierte
mich auf eine kindische Weise an den seltsamen Namen dieser gehäuften
Zeichen. Da waren Kaiser, Könige und Herzoge, die, als Akzente hie und
da dominierend, mich nicht wenig unterhielten. Aber auch diese schalen
Späße verloren bald ihren Reiz. Doch wurde ich dadurch schadlos
gehalten, daß mir beim Lesen, Übersetzen, Wiederholen, Auswendiglernen
der Inhalt des Buchs um so lebhafter entgegentrat, und dieser war es
eigentlich, über welchen ich von meinem alten Herrn Aufklärung
verlangte. Denn schon vorher waren mir die Widersprüche der Überlieferung
mit dem Wirklichen und Möglichen sehr auffallend gewesen, und ich hatte
meine Hauslehrer durch die Sonne, es die zu Gibeon, und den Mond, der im
Tal Ajalon still stand, in manche Not versetzt; gewisser anderer
Unwahrscheinlichkeiten und Inkongruenzen nicht zu gedenken. Alles
dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem Hebräischen
Meister zu werden, mit dem Alten Testament ausschließlich beschäftigte,
und solches nicht mehr in Luthers Übersetzung, sondern in der wörtlichen
beigedruckten Version des Sebastian Schmid, den mir mein Vater sogleich
angeschafft hatte, durchstudierte. Hier fingen unsere Stunden leider an,
was die Sprachübungen betrifft, lückenhaft zu werden. Lesen,
Exponieren, Grammatik, Aufschreiben und Hersagen von Wörtern dauerte
selten eine völlige halbe Stunde: denn ich fing sogleich an, auf den
Sinn der Sache loszugehen, und, ob wir gleich noch in dem ersten Buche
Mosis befangen waren, mancherlei Dinge zur Sprache zu bringen, welche
mir aus den spätern Büchern im Sinne lagen. Anfangs suchte der gute
Alte mich von solchen Abschweifungen zurückzuführen, zuletzt aber
schien es ihn selbst zu unterhalten. Er kam nach seiner Art nicht aus
dem Husten und Lachen, und wiewohl er sich sehr hütete, mir eine
Auskunft zu geben, die ihn hätte kompromittieren können, so ließ
meine Zudringlichkeit doch nicht nach; ja da mir mehr daran gelegen war,
meine Zweifel vorzubringen als die Auflösung derselben zu erfahren, so
wurde ich immer lebhafter und kühner, wozu er mich durch sein Betragen
zu berechtigen schien. Übrigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als
daß er ein über das andre Mal mit seinem bauchschütternden Lachen
ausrief: "Er närrischer Kerl! Er närrischer Junge!" Indessen
mochte ihm meine die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindische
Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und einiger Nachhülfe wert
geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große
engIische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereitstand, und in
welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen auf eine verständige
und kluge Weise unternommen war. Die Übersetzung hatte durch die großen
Bemühungen deutscher Gottesgelehrten Vorzüge vor dem Original
erhalten. Die verschiedenen Meinungen waren angeführt, und zuletzt eine
Art von Vermittelung versucht, wobei die Würde des Buchs, der Grund der
Religion und der Menschenverstand einigermaßen neben einander bestehen
konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen
und Zweifeln auftrat, so oft deutete er auf das Repositorium; ich holte
mir den Band, er ließ mich lesen, blätterte in seinem Lucian, und wenn
ich über das Buch meine Anmerkungen machte, war sein gewöhnliches
Lachen alles, wodurch er meinen Scharfsinn erwiderte. In den langen
Sommertagen ließ er mich sitzen, solange ich lesen konnte, manchmal
allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte, einen Band nach
dem andern mit nach Hause zu nehmen. Der
Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch
sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur
einmal vorgezeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwärtigen Falle.
Die Bemühungen um die Sprache, um den Inhalt der Heiligen Schriften
selbst endigten zuletzt damit, daß von jenem schönen und viel
gepriesenen Lande, seiner Umgebung und Nachbarschaft, sowie von den Völkern
und Ereignissen, welche jenen Fleck der Erde durch Jahrtausende hindurch
verherrlichten, eine lebhaftere Vorstellung in meiner Einbildungskraft
hervorging. Dieser kleine Raum sollte den Ursprung und das Wachstum des
Menschengeschlechts sehen; von dorther sollten die ersten und einzigsten
Nachrichten der Urgeschichte zu uns gelangen, und ein solches Lokal
sollte zugleich so einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den
wundersamsten Wanderungen und Ansiedelungen geeignet vor unserer
Einbildungskraft liegen. Hier zwischen vier benannten Flüssen war aus
der ganzen zu bewohnenden Erde ein kleiner, höchst anmutiger Raum dem
jugendlichen Menschen ausgesondert. Hier sollte er seine ersten Fähigkeiten
entwickeln, und hier sollte ihn zugleich das Los treffen, das seiner
ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, indem
er nach Erkenntnis strebte. Das Paradies war verscherzt; die Menschen
mehrten und verschlimmerten sich; die an die Unarten dieses Geschlechte
noch nicht gewohnten Elohim wurden ungeduldig und vernichteten es von
Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Überschwemmung
gerettet; und kaum hatte sich diese greuliche Flut verlaufen, als der
bekannte vaterländische Boden schon wieder vor den Blicken der
dankbaren Geretteten lag. Zwei Flüsse von vieren, Euphrat und Tigris,
flossen noch in ihren Betten. Der Name des ersten blieb; den andern
schien sein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieses wären
nach einer so großen Umwälzung nicht zu fordern gewesen. Das erneute
Menschengeschlecht ging von hier zum zweitenmal aus; es fand
Gelegenheit, sich auf alle Arten zu nähren und zu beschäftigen, am
meisten aber große Herden zahmer Geschöpfe um sich zu versammeln und
mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen. Diese
Lebensweise sowie die Vermehrung der Stämme nötigte die Völker bald,
sich von einander zu entfernen. Sie konnten sich sogleich nicht
entschließen, ihre Verwandten und Freunde für immer fahren zu lassen;
sie kamen auf den Gedanken, einen hohen Turm zu bauen, der ihnen aus
weiter Ferne den Weg wieder zurück weisen sollte. Aber dieser Versuch
mißlang wie jenes erste Bestreben. Sie sollten nicht zugleich glücklich
und klug, zahlreich und einig sein. Die Elohim verwirrten sie, der Bau
unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevölkert, aber
entzweit. Unser
Blick, unser Anteil bleibt aber noch immer an diese Gegenden geheftet.
Endlich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so glücklich
ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Charakter aufzuprägen, und
sie dadurch für ewige Zeiten zu einer großen, und bei allem Glücks-
und Ortswechsel zusammenhaltenden Nation zu vereinigen. Vom
Euphrat aus, nicht ohne göttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen
Westen. Die Wüste setzt seinem Zug kein entschiedenes Hindernis
entgegen; er gelangt an den Jordan, zieht über den Fluß und verbreitet
sich in den schönen mittägigen Gegenden von Palästina. Dieses Land
war schon früher in Besitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht
allzu hoch aber steinig und unfruchtbar, waren von vielen bewässerten,
dem Anbau günstigen Tälern durchschnitten. Städte, Flecken, einzelne
Ansiedelungen lagen zerstreut auf der Fläche, auf Abhängen des großen
Tals, dessen Wasser sich im Jordan sammeln, so bewohnt, so bebaut war
das Land, aber die Welt noch groß genug, und die Menschen nicht auf den
Grad sorgfältig, bedürfnisvoll und tätig, um sich gleich aller ihrer
Umgebungen zu bemächtigen. Zwischen jenen Besitzungen erstreckten sich
große Räume, in welchen weidende Züge sich bequem hin und her bewegen
konnten. In solchen Räumen hält sich Abraham auf, sein Bruder Lot ist
bei ihm; aber sie können nicht lange an solchen Orten verbleiben. Eben
jene Verfassung des Landes, dessen Bevölkerung bald zubald abnimmt, und
dessen Erzeugnisse sich niemals mit dem Bedürfnis im Gleichgewicht
erhalten, bringt unversehens eine Hungersnot hervor, und der
Eingewanderte leidet mit dem Einheimischen, dem er durch seine zufällige
Gegenwart die eigne Nahrung verkümmert hat. Die beiden chaldäischen Brüder
ziehen nach Ägypten, und so ist uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf
dem einige tausend Jahre die bedeutendsten Begebenheiten der Welt
vorgehen sollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil sehen wir
die Erde bevölkert, und in diesem Raume einen bekannten, den Göttern
geliebten, uns schon wert gewordnen Mann mit Herden und Gütern hin und
wider ziehen und sie in kurzer Zeit aufs reichlichste vermehren. Die Brüder
kommen zurück; allein gewitzigt durch die ausgestandene Not, fassen sie
den Entschluß, sich von einander zu trennen. Beide verweilen zwar im
mittägigen Kanaan; aber indem Abraham zu Hebron gegen den Hain Mamre
bleibt, zieht sich Lot nach dem Tale Siddim, das, wenn unsere
Einbildungskraft kühn genug ist, dem Jordan einen unterirdischen Ausfluß
zu geben, um an der Stelle des gegenwärtigen Asphaltsees einen trocknen
Boden zu gewinnen, uns als ein zweites Paradies erscheinen kann und muß;
um so mehr, weil die Bewohner und Umwohner desselben, als Weichlinge und
Frevler berüchtigt, uns dadurch auf ein bequemes und üppiges Leben
schließen lassen. Lot wohnt unter ihnen, jedoch abgesondert. Aber
Hebron und der Hain Mamre erscheinen uns als die wichtige Stätte, wo
der Herr mit Abraham spricht und ihm alles Land verheißt, so weit sein
Blick nur in vier Weltgegenden reichen mag. Aus diesen stillen Bezirken,
von diesen Hirtenvölkern, die mit den Himmlischen umgehen dürfen, sie
als Gäste bewirten und manche Zwiesprache mit ihnen halten, werden wir
genötigt den Blick abermals gegen Osten zu wenden, und an die
Verfassung der Nebenwelt zu denken, die im ganzen wohl der einzelnen
Verfassung von Kanaan gleichen mochte. Familien
halten zusammen; sie vereinigen sich, und die Lebensart der Stämme wird
durch das Lokal bestimmt, das sie sich zugeeignet haben oder zueignen.
Auf den Gebirgen, die ihr Wasser nach dem Tigris hinuntersenden, finden
wir kriegerische Völker, die schon sehr frühe auf jene Welteroberer
und Weltbeherrscher hindeuten, und in einem für jene Zeiten ungeheuren
Feldzug uns ein Vorspiel künftiger Großtaten geben. Kedor Laomor, König
von Elam, wirkt schon mächtig auf Verbündete. Er herrscht lange Zeit:
denn schon zwölf Jahre vor Abrahams Ankunft in Kanaan hatte er bis an
den Jordan die Völker zinsbar gemacht. Sie waren endlich abgefallen,
und die Verbündeten rüsten sich zum Kriege. Wir finden sie unvermutet
auf einem Wege, auf dem wahrscheinlich auch Abraham nach Kanaan
gelangte. Die Völker an der linken und untern Seite des Jordan werden
bezwungen. Kedor Laomor richtet seinen Zug südwärts nach den Völkern
der Wüste, sodann sich nordwärts wendend schlägt er die Amalekiter,
und als er auch die Amoriter überwunden, gelangt er nach Kanaan, überfällt
die Könige des Tals Siddim, schlägt und zerstreut sie, und zieht mit
großer Beute den Jordan aufwärts, um seinen Siegerzug bis gegen den
Libanon auszudehnen. Unter
den Gefangenen, Beraubten, mit ihrer Habe Fortgeschleppten befindet sich
auch Lot, der das Schicksal des Landes teilt, worin er als Gast sich
befindet. Abraham vernimmt es, und hier sehen wir sogleich den Erzvater
als Krieger und Helden. Er rafft seine Knechte zusammen, teilt sie in
Haufen, fällt auf den beschwerlichen Beutetroß, verwirrt die
Sieghaften, die im Rücken keinen Feind mehr vermuten konnten, und
bringt seinen Bruder und dessen Habe nebst manchem von der Habe der überwundenen
Könige zurück. Durch diesen kurzen Kriegszug nimmt Abraham gleichsam
von dem Lande Besitz. Den Einwohnern erscheint er als Beschützer, als
Retter, und durch Uneigennützigkeit als König. Dankbar empfangen ihn
die Könige des Tals, segnend Melchisedek der König und Priester. Nun
werden die Weissagungen einer unendlichen Nachkommenschaft erneut, ja
sie gehen immer mehr ins Weite. Vom Wasser des Euphrat bis zum Fluß Ägyptens
werden ihm die sämtlichen Landstrecken versprochen; aber noch sieht es
mit seinen unmittelbaren Leibeserben mißlich aus. Er ist achtzig Jahr
alt und hat keinen Sohn. Sara, weniger den Göttern vertrauend als er,
wird ungeduldig: sie will nach orientalischer Sitte durch ihre Magd
einen Nachkommen haben. Aber kaum ist Hagar dem Hausherrn vertraut, kaum
ist Hoffnung zu einem Sohne, so zeigt sich der Zwiespalt im Hause. Die
Frau begegnet ihrer eignen Beschützten übel genug, und Hagar flieht,
um bei andern Horden einen bessern Zustand zu finden. Nicht ohne höheren
Wink kehrt sie zurück, und Ismael wird geboren. Abraham
ist nun neunundneunzig Jahr alt, und die Verheißungen einer zahlreichen
Nachkommenschaft werden noch immer wiederholt, so daß am Ende beide
Gatten sie lächerlich finden. Und doch wird Sara zuletzt guter Hoffnung
und bringt einen Sohn, dem der Name Isaak zuteil wird. Auf
gesetzmäßiger Fortpflanzung des Menschengeschlechts ruht größtenteils
die Geschichte. Die bedeutendsten Weltbegebenheiten ist man bis in die
Geheimnisse der Familien zu verfolgen genötigt; und so geben uns auch
die Ehen der Erzväter zu eignen Betrachtungen Anlaß. Es ist, als ob
die Gottheiten, welche das Schicksal der Menschen zu leiten beliebten,
die ehelichen Ereignisse jeder Art hier gleichsam im Vorbilde hätten
darstellen wollen. Abraham, so lange Jahre mit einer schönen, von
vielen umworbenen Frau in kinderloser Ehe, findet sich in seinem
hundertsten als Gatte zweier Frauen, als Vater zweier Söhne, und in
diesem Augenblick ist sein Hausfriede gestört. Zwei Frauen neben
einander sowie zwei Söhne von zwei Müttern gegen einander über
vertragen sich unmöglich. Derjenige Teil, der durch Gesetze, Herkommen
und Meinung weniger begünstigt ist, muß weichen. Abraham muß die
Neigung zu Hagar, zu Ismael aufopfern; beide werden entlassen und Hagar
genötigt, den Weg, den sie auf einer freiwilligen Flucht eingeschlagen,
nunmehr wider Willen anzutreten, anfangs, wie es scheint, zu des Kindes
und ihrem Untergang; aber der Engel des Herrn, der sie früher zurückgewiesen,
rettet sie auch diesmal, damit Ismael auch zu einem großen Volk werde,
und die unwahrscheinlichste aller Verheißungen selbst über ihre
Grenzen hinaus in Erfüllung gehe. Zwei
Eltern in Jahren und ein einziger spätgeborner Sohn: hier sollte man
doch endlich eine häusliche Ruhe, ein irdisches Glück erwarten!
Keineswegs. Die Himmlischen bereiten dem Erzvater noch die schwerste Prüfung.
Doch von dieser können wir nicht reden, ohne vorher noch mancherlei
Betrachtungen anzustellen. Sollte
eine natürliche allgemeine Religion entspringen, und sich eine
besondere geoffenbarte daraus entwickeln, so waren die Länder, in denen
bisher unsere Einbildungskraft verweilt, die Lebensweise, die
Menschenart wohl am geschicktesten dazu; wenigstens finden wir nicht, daß
in der ganzen Welt sich etwas ähnlich Günstiges und Heitres
hervorgetan hätte. Schon zur natürlichen Religion, wenn wir annehmen,
daß sie früher in dem menschlichen Gemüte entsprungen, gehört viel
Zartheit der Gesinnung: denn sie ruht auf der Überzeugung einer
allgemeinen Vorsehung, welche die Weltordnung im ganzen leite. Eine
besondre Religion, eine von den Göttern diesem oder jenem Volk
geoffenbarte, führt den Glauben an eine besondre Vorsehung mit sich,
die das göttliche Wesen gewissen begünstigten Menschen, Familien, Stämmen
und Völkern zusagt. Diese scheint sich schwer aus dem Innern des
Menschen zu entwickeln, sie verlangt Überlieferung, Herkommen, Bürgschaft
aus uralter Zeit. Schön
ist es daher, daß die israelitische Überlieferung gleich die ersten Männer,
welche dieser besondern Vorsehung vertrauen, als Glaubenshelden
darstellt, welche von jenem hohen Wesen, dem sie sich abhängig
erkennen, alle und jede Gebote ebenso blindlings befolgen, als sie, ohne
zu zweifeln, die späten Erfüllungen seiner Verheißungen abzuwarten
nicht ermüden. So
wie eine besondere geoffenbarte Religion den Begriff zum Grunde legt, daß
einer mehr von den Göttern begünstigt sein könne als der andre, so
entspringt sie auch vorzüglich aus der Absonderung der Zustände. Nahe
verwandt schienen sich die ersten Menschen, aber ihre Beschäftigungen
trennten sie bald. Der Jäger war der freieste von allen; aus ihm
entwickelte sich der Krieger und der Herrscher. Der Teil, der den Acker
baute, sich der Erde verschrieb, Wohnungen und Scheuern aufführte, um
das Erworbene zu erhalten, konnte sich schon etwas dünken, weil sein
Zustand Dauer und Sicherheit versprach. Dem Hirten an seiner Stelle
schien der ungemessenste Zustand sowie ein grenzenloser Besitz zuteil
geworden. Die Vermehrung der Herden ging ins Unendliche, und der Raum,
der sie ernähren sollte, erweiterte sich nach allen Seiten. Diese drei
Stände scheinen sich gleich anfangs mit Verdruß und Verachtung
angesehn zu haben und wie der Hirte dem Städter ein Greuel war, so
sonderte er auch sich wieder von diesem ab. Die Jäger verlieren sich
aus unsern Augen in die Gebirge, und kommen nur als Eroberer wieder zum
Vorschein. Zum
Hirtenstande gehörten die Erzväter. Ihre Lebensweise auf dem Meere der
Wüsten und Weiden gab ihren Gesinnungen Breite und Freiheit, das Gewölbe
des Himmels, unter dem sie wohnten, mit allen seinen nächtlichen
Sternen ihren Gefühlen Erhabenheit, und sie bedurften mehr als der tätige
gewandte Jäger, mehr als der sichte sorgfältige hausbewohnende
Ackersmann des unerschütterlichen Glaubens, daß ein Gott ihnen zur
Seite ziehe, daß er sie besuche, an ihnen Anteil nehme, sie führe und
rette. Zu
noch einer andern Betrachtung werden wir genötigt, indem wir zur
Geschichtsfolge übergehen. So menschlich, schön und heiter auch die
Religion der Erzväter erscheint, so gehen doch Züge von Wildheit und
Grausamkeit hindurch, aus welcher der Mensch herankommen, oder worein er
wieder versinken kann. Daß
der Haß sich durch das Blut, durch den Tod des überwundenen Feindes
versöhne, ist natürlich; daß man auf dem Schlachtfelde zwischen den
Reihen der Getöteten einen Frieden schloß, läßt sich wohl denken, daß
man ebenso durch geschlachtete Tiere ein Bündnis zu befestigen glaubte,
fließt aus dem Vorhergehenden; auch daß man die Götter, die man doch
immer als Partei, als Widersacher oder als Beistand, ansah, durch Getötetes
herbeiziehen, sie versöhnen, sie gewinnen könne, über diese
Vorstellung hat man sich gleichfalls nicht zu verwundern. Bleiben wir
aber bei den Opfern stehen, und betrachten die Art, wie sie in jener
Urzeit dargebracht wurden, so finden wir einen seltsamen, für uns ganz
widerlichen Gebrauch, der wahrscheinlich auch aus dem Kriege
hergenommen, diesen nämlich: die geopferten Tiere jeder Art, und wenn
ihrer noch so viel gewidmet wurden, mußten in zwei Hälften zerhauen,
an zwei Seiten gelegt werden, und in der Straße dazwischen befanden
sich diejenigen, die mit der Gottheit einen Bund schließen wollten. Wunderbar
und ahndungsvoll geht durch jene schöne Welt noch ein anderer
schrecklicher Zug, daß alles, was geweiht, was verlobt war, sterben mußte:
wahrscheinlich auch ein auf den Frieden übertragener Kriegsgebrauch.
Den Bewohnern einer Stadt, die sich gewaltsam wehrt, wird mit einem
solchen Gelübde gedroht; sie geht über, durch Sturm oder sonst; man läßt
nichts am Leben, Männer keineswegs, und manchmal teilen auch Frauen,
Kinder, ja das Vieh ein gleiches Schicksal. Übereilter und abergläubischer
Weise werden, bestimmter oder unbestimmter, dergleichen Opfer den Göttern
versprochen; und so kommen die, welche man schonen möchte, ja sogar die
Nächsten, die eigenen Kinder, in den Fall, als Sühnopfer eines solchen
Wahnsinns zu bluten. In
dem sanften, wahrhaft urväterlichen Charakter Abrahams konnte eine so
barbarische Anbetungsweise nicht entspringen; aber die Götter, welche
manchmal, um uns zu versuchen, jene Eigenschaften hervorzukehren
scheinen, die der Mensch ihnen anzudichten geneigt ist, befehlen ihm das
Ungeheure. Er soll seinen Sohn opfern, als Pfand des neuen Bundes, und,
wenn es nach dem Hergebrachten geht, ihn nicht etwa nur schlachten und
verbrennen, sondern ihn in zwei Stücke teilen, und zwischen seinen
rauchenden Eingeweiden sich von den gütigen Göttern eine neue Verheißung
erwarten. Ohne Zaudern und blindlings schickt Abraham sich an, den
Befehl zu vollziehen: den Göttern ist der Wille hinreichend. Nun sind
Abrahams Prüfungen vorüber: denn weiter konnten sie nicht gesteigert
werden. Aber Sara stirbt, und dies gibt Gelegenheit, daß Abraham von
dem Lande Kanaan vorbildlich Besitz nimmt. Er bedarf eines Grabes, und
dies ist das erstemal, daß er sich nach einem Eigentum auf dieser Erde
umsieht. Eine zweifache Höhle gegen den Hain Mamre mag er sich schon früher
ausgesucht haben. Diese kauft er mit dem daran stoßenden Acker, und die
Form Rechtens, die er dabei beobachtet, zeigt, wie wichtig ihm dieser
Besitz ist. Er war es auch, mehr als er sich vielleicht selbst denken
konnte: denn er, seine Söhne und Enkel sollten daselbst ruhen, und der
nächste Anspruch auf das ganze Land, sowie die immerwährende Neigung
seiner Nachkommenschaft, sich hier zu versammeln, dadurch am
eigentlichsten begründet werden. Von
nun an gehen die mannigfaltigen Familienszenen abwechselnd vor sich.
Noch immer hält sich Abraham streng abgesondert von den Einwohnern, und
wenn Ismael, der Sohn einer Ägypterin, auch eine Tochter dieses Landes
geheiratet hat, so soll nun Isaak sich mit einer Blutsfreundin, einer
Ebenbürtigen, vermählen. Abraham sendet seinen Knecht nach
Mesopotamien zu den Verwandten, die er dort zurückgelassen. Der kluge
Eleasar kommt unerkannt an, und um die rechte Braut nach Hause zu
bringen, prüft er die Dienstfertigkeit der Mädchen am Brunnen. Er
verlangt zu trinken für sich, und ungebeten tränkt Rebekka auch seine
Kamele. Er beschenkt sie, er freiet um sie, die ihm nicht versagt wird.
So führt er sie in das Haus seines Herrn, und sie wird Isaak angetraut.
Auch hier muß die Nachkommenschaft lange Zeit erwartet werden. Erst
nach einigen Prüfungsjahren wird Rebekka gesegnet, und derselbe
Zwiespalt, der in Abrahams Doppelehe von zwei Müttern entstand,
entspringt hier von einer. Zwei Knaben von entgegengesetztem Sinne
balgen sich schon unter dem Herzen der Mutter. Sie treten ans Licht: der
ältere lebhaft und mächtig, der jüngere zart und klug; jener wird des
Vaters, dieser der Mutter Liebling. Der Streit um den Vorrang, der schon
bei der Geburt beginnt, setzt sich immer fort. Esau ist ruhig und
gleichgültig über die Erstgeburt, die ihm das Schicksal zugeteilt;
Jakob vergißt nicht, daß ihn sein Bruder zurückgedrängt. Aufmerksam
auf jede Gelegenheit, den erwünschten Vorteil zu gewinnen, handelt er
seinem Bruder das Recht der Erstgeburt ab, und bevorteilt ihn um des
Vaters Segen. Esau ergrimmt und schwört dem Bruder den Tod, Jakob
entflieht um in dem Lande seiner Vorfahren sein Glück zu versuchen. Nun,
zum erstenmal in einer so edlen Familie, erscheint ein Glied, das kein
Bedenken trägt, durch Klugheit und List die Vorteile zu erlangen,
welche Natur und Zustände ihm versagten. Es ist oft genug bemerkt und
ausgesprochen worden, daß die Heiligen Schriften uns jene Erzväter und
andere von Gott begünstigte Männer keineswegs als Tugendbilder
aufstellen wollen. Auch sie sind Menschen von den verschiedensten
Charaktern, mit mancherlei Mängeln und Gebrechen; aber eine
Haupteigenschaft darf solchen Männern nach dem Herzen Gottes nicht
fehlen: es ist der unerschütterliche Glaube, daß Gott sich ihrer und
der Ihrigen besonders annehme. Die
allgemeine, die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens:
denn die Überzeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und
leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich
zu machen, eine solche Überzeugung dringt sich einem jeden auf; ja wenn
er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben führt, manchmal
fahren ließe, so wird er ihn doch gleich und überall wieder aufnehmen
können. Ganz anders verhält sich's mit der besondern Religion, die uns
verkündigt, daß jenes große Wesen sich eines Einzelnen, eines
Stammes, eines Volkes, einer Landschaft entschieden und vorzüglich
annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegründet, der unerschütterlich
sein muß, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstört werden soll.
Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr tödlich. Zur Überzeugung
kann man zurückkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Prüfungen,
das Zaudern der Erfüllung so wiederholter Verheißungen, wodurch die
Glaubensfähigkeit jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird. Auch
in diesem Glauben tritt Jakob seinen Zug an, und wenn er durch List und
Betrug unsere Neigung nicht erworben hat, so gewinnt er sie durch die
dauernde und unverbrüchliche Liebe zu Rahel, um die er selbst aus dem
Stegreife wirbt, wie Eleasar für seinen Vater um Rebekka geworben
hatte. In ihm sollte sich die Verheißung eines unermeßlichen Volkes
zuerst vollkommen entfalten; er sollte viele Söhne um sich sehen, aber
auch durch sie und ihre Mütter manches Herzeleid erleben. Sieben
Jahre dient er um die Geliebte, ohne Ungeduld und ohne Wanken. Sein
Schwiegervater, ihm gleich an List, gesinnt wie er, um jedes Mittel zum
Zweck für rechtmäßig zu halten, betriegt ihn, vergilt ihm, was er an
seinem Bruder getan: Jakob findet eine Gattin, die er nicht liebt, in
seinen Armen. Zwar, um ihn zu besänftigen, gibt Laban nach kurzer Zeit
ihm die geliebte dazu, aber unter der Bedingung sieben neuer
Dienstjahre; und so entspringt nun Verdruß aus Verdruß. Die nicht
geliebte Gattin ist fruchtbar, die geliebte bringt keine Kinder; diese
will wie Sara durch eine Magd Mutter werden, jene mißgönnt ihr auch
diesen Vorteil. Auch sie führt ihrem Gatten eine Magd zu, und nun ist
der gute Erzvater der geplagteste Mann von der Welt: vier Frauen, Kinder
von dreien, und keins von der geliebten! Endlich wird auch diese beglückt,
und Joseph kommt zur Welt, ein Spätling der leidenschaftlichsten Liebe.
Jakobs vierzehn Dienstjahre sind um; aber Laban will in ihm den ersten,
treusten Knecht nicht entbehren. Sie schließen neue Bedingungen und
teilen sich in die Herden. Laban behält die von weißer Farbe, als die
der Mehrzahl; die scheckigen, gleichsam nur den Ausschuß, läßt sich
Jakob gefallen. Dieser weiß aber auch hier seinen Vorteil zu wahren,
und wie er durch ein schlechtes Gericht die Erstgeburt und durch eine
Vermummung den väterlichen Segen gewonnen, so versteht er nun durch
Kunst und Sympathie den besten und größten Teil der Herde sich
zuzueignen, und wird auch von dieser Seite der wahrhaft würdige
Stammvater des Volks Israel und ein Musterbild für seine Nachkommen.
Laban und die Seinigen bemerken, wo nicht das Kunststück, doch den
Erfolg. Es gibt Verdruß; Jakob flieht mit allen den Seinigen mit aller
Habe, und entkommt dem nachsetzenden Laban teils durch Glück, teils
durch List. Nun soll ihm Rahel noch einen Sohn schenken; sie stirbt aber
in der Geburt: der Schmerzensohn Benjamin überlebt sie, aber noch größern
Schmerz soll der Altvater bei dem anscheinenden Verlust seines Sohnes
Joseph empfinden. Vielleicht
möchte jemand fragen, warum ich diese allgemein bekannten, so oft
wiederholten und ausgelegten Geschichten hier abermals umständlich
vortrage. Diesem dürfte zur Antwort dienen, daß ich auf keine andere
Weise darzustellen wüßte, wie ich bei meinem zerstreuten Leben, bei
meinem zerstückelten Lernen dennoch meinen Geist, meine Gefühle auf
einen Punkt zu einer stillen Wirkung versammelte; weil ich auf keine
andere Weise den Frieden zu schildern vermöchte, der mich umgab, wenn
es auch draußen noch so wild und wunderlich herging. Wenn eine stets
geschäftige Einbildungskraft, wovon jenes Märchen ein Zeugnis ablegen
mag, mich bald da- bald dorthin führte, wenn das Gemisch von Fabel und
Geschichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte, so flüchtete
ich gern nach jenen morgenländischen Gegenden, ich versenkte mich in
die ersten Bücher Mosis und fand mich dort unter den ausgebreiteten
Hirtenstämmen zugleich in der größten Einsamkeit und in der größten
Gesellschaft. Diese
Familienauftritte, ehe sie sich in eine Geschichte des israelitischen
Volks verlieren sollten, lassen uns nun zum Schluß noch eine Gestalt
sehen, an der sich besonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen
gar artig schmeicheln kann: Joseph, das Kind der leidenschaftlichsten
ehelichen Liebe. Ruhig erscheint er uns und klar, und prophezeit sich
selbst die Vorzüge, die ihn über seine Familie erheben sollten. Durch
seine Geschwister ins Unglück gestoßen, bleibt er standhaft und
rechtlich in der Sklaverei, widersteht den gefährlichsten Versuchungen,
rettet sich durch Weissagung, und wird zu hohen Ehren nach Verdienst
erhoben. Erst zeigt er sich einem großen Königreiche, sodann den
seinigen hülfreich und nützlich. Er gleicht seinem Urvater Abraham an
Ruhe und Großheit, seinem Großvater Isaak an Stille und Ergebenheit.
Den von seinem Vater ihm angestammten Gewerbsinn übt er im großen: es
sind nicht mehr Herden, die man einem Schwiegervater, die man für sich
selbst gewinnt, es sind Völker mit allen ihren Besitzungen, die man für
einen König einzuhandeln versteht. Höchst anmutig ist diese natürliche
Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie
ins einzelne auszumalen. Ein solches Ausmalen biblischer, nur im Umriß
angegebener Charaktere und Begebenheiten war den Deutschen nicht mehr
fremd. Die Personen des Alten und Neuen Testaments hatten durch
Klopstock ein zartes und gefühlvolles Wesen gewonnen, das dem Knaben
sowie vielen seiner Zeitgenossen höchlich zusagte. Von den Bodmerischen
Arbeiten dieser Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber "Daniel in
der Löwengrube", von Moser, machte große Wirkung auf das junge
Gemüt. Hier gelangt ein wohldenkender Geschäfts- und Hofmann durch
mancherlei Trübsale zu hohen Ehren, und seine Frömmigkeit, durch die
man ihn zu verderben drohte, ward früher und später sein Schild und
seine Waffe. Die Geschichte Josephs zu bearbeiten war mir lange schon wünschenswert
gewesen; allein ich konnte mit der Form nicht zurecht kommen, besonders
da mir keine Versart geläufig war, die zu einer solchen Arbeit gepaßt
hätte. Aber nun fand ich eine prosaische Behandlung sehr bequem und
legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun suchte ich die
Charaktere zu sondern und auszumalen, und durch Einschaltung von
Inzidenzien und Episoden die alte einfache Geschichte zu einem neuen und
selbstständigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freilich die
Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt nötig sei, und daß
dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen könne.
Genug, ich vergegenwärtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinste
Detail, und erzählte sie mir der Reihe nach auf das genauste. Was
mir diese Arbeit sehr erleichterte, war ein Umstand, der dieses Werk und
überhaupt meine Autorschaft höchst voluminos zu machen drohte. Ein
junger Mann von vielen Fähigkeiten, der aber durch Anstrengung und Dünkel
blödsinnig geworden war, wohnte als Mündel in meines Vaters Hause,
lebte ruhig mit der Familie und war sehr still und in sich gekehrt, und,
wenn man ihn auf seine gewohnte Weise verfahren ließ, zufrieden und gefällig.
Dieser hatte seine akademischen Hefte mit großer Sorgfalt geschrieben,
und sich eine flüchtige leserliche Hand erworben. Er beschäftigte sich
am liebsten mit Schreiben, und sah es gern, wenn man ihm etwas zu
kopieren gab; noch lieber aber, wenn man ihm diktierte, weil er sich
alsdann in seine glücklichen akademischen Jahre versetzt fühlte.
Meinem Vater, der keine expedite Hand schrieb, und dessen deutsche
Schrift klein und zittrig war, konnte nichts erwünschter sein, und er
pflegte daher, bei Besorgung eigner sowohl als fremder Geschäfte,
diesem jungen Manne gewöhnlich einige Stunden des Tags zu diktieren.
Ich fand es nicht minder bequem, in der Zwischenzeit alles, was mir flüchtig
durch den Kopf ging, von einer fremden Hand auf dem Papier fixiert zu
sehen, und meine Erfindungs- und Nachahmungsgabe wuchs mit der
Leichtigkeit des Auffassens und Aufbewahrens. Ein
so großes Werk als jenes biblische prosaischepische Gedicht hatte ich
noch nicht unternommen. Es war eben eine ziemlich ruhige Zeit, und
nichts rief meine Einbildungskraft aus Palästina und Ägypten zurück.
So quoll mein Manuskript täglich um so mehr auf, als das Gedicht
streckenweise, wie ich es mir selbst gleichsam in die Luft erzählte,
auf dem Papier stand, und nur wenige Blätter von Zeit zu Zeit
umgeschrieben zu werden brauchten. Als
das Werk fertig war, denn es kam zu meiner eignen Verwunderung wirklich
zustande, bedachte ich, daß von den vorigen Jahren mancherlei Gedichte
vorhanden seien, die mir auch jetzt nicht verwerflich schienen, welche,
in ein Format mit "Joseph" zusammengeschrieben, einen ganz
artigen Quartband ausmachen würden, dem man den Titel "Vermischte
Gedichte" geben könnte; welches mir sehr wohl gefiel, weil ich
dadurch im stillen bekannte und berühmte Autoren nachzuahmen
Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute Anzahl sogenannter anakreontischer
Gedichte verfertigt, die mir wegen der Bequemlichkeit des Silbenmaßes
und der Leichtigkeit des Inhalts sehr wohl von der Hand gingen. Allein
diese durfte ich nicht wohl aufnehmen, weil sie keine Reime hatten, und
ich doch vor allem meinem Vater etwas Angenehmes zu erzeigen wünschte.
Desto mehr schienen mir geistliche Oden hier am Platz, dergleichen ich
zur Nachahmung des "Jüngsten Gerichts" von Elias Schlegel
sehr eifrig versucht hatte. Eine zur Feier der Höllenfahrt Christi
geschriebene erhielt von meinen Eltern und Freunden viel Beifall, und
sie hatte das Glück, mir selbst noch einige Jahre zu gefallen. Die
sogenannten Texte der sonntägigen Kirchenmusiken, welche jedesmal
gedruckt zu haben waren, studierte ich fleißig. Sie waren freilich sehr
schwach und ich durfte wohl glauben, daß die meinigen, deren ich
mehrere nach der vorgeschriebenen Art verfertigt hatte, ebensogut
verdienten komponiert und zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu
werden. Diese und mehrere dergleichen hatte ich seit länger als einem
Jahre mit eigener Hand abgeschrieben, weil ich durch diese Privatübung
von den Vorschriften des Schreibemeisters entbunden wurde. Nunmehr aber
ward alles redigiert und in gute Ordnung gestellt, und es bedurfte
keines großen Zuredens, um solche von jenem schreibelustigen jungen
Manne reinlich abgeschrieben zu sehen. Ich eilte damit zum Buchbinder,
als ich gar bald den saubern Band meinem Vater überreichte, munterte er
mich mit besonderm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen solchen Quartanten
zu liefern; welches er mit desto größerer Überzeugung tat, als ich
das alles nur in sogenannten Nebenstunden geleistet hatte. Noch
ein anderer Umstand vermehrte den Hang zu diesen theologischen oder
vielmehr biblischen Studien. Der Senior des Ministeriums, Johann Philipp
Fresenius, ein sanfter Mann, von schönem gefälligen Ansehen, welcher
von seiner Gemeinde, ja von der ganzen Stadt als ein exemplarischer
Geistlicher und guter Kanzelredner verehrt ward, der aber, weil er gegen
die Herrnhuter aufgetreten, bei den abgesonderten Frommen nicht im
besten Ruf stand, vor der Menge hingegen sich durch die Bekehrung eines
bis zum Tode blessierten freigeistischen Generals berühmt und gleichsam
heilig gemacht hatte, dieser starb, und sein Nachfolger Plitt, ein großer,
schöner, würdiger Mann, der jedoch vom Katheder (er war Professor in
Marburg gewesen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht
hatte, kündigte sogleich eine Art von Religionskursus an, dem er seine
Predigten in einem gewissen methodischen Zusammenhang widmen wolle.
Schon früher, da ich doch einmal in die Kirche gehen mußte, hatte ich
mir die Einteilung gemerkt, und konnte dann und wann mit ziemlich vollständiger
Rezitation einer Predigt großtun. Da nun über den neuen Senior manches
für und wider in der Gemeine gesprochen wurde, und viele kein
sonderliches Zutrauen in seine angekündigten didaktischen Predigten
setzen wollten, so nahm ich mir vor, sorgfältiger nachzuschreiben,
welches mir um so eher gelang, als ich auf einem zum Hören sehr
bequemen, übrigens aber verborgenen Sitz schon geringere Versuche
gemacht hatte. Ich war höchst aufmerksam und behend; in dem Augenblick,
daß er Amen sagte, eilte ich aus der Kirche und wendete ein paar
Stunden daran, das, was ich auf dem Papier und im Gedächtnis fixiert
hatte, eilig zu diktieren, so daß ich die geschriebene Predigt noch vor
Tische überreichen konnte. Mein Vater war sehr glorios über dieses
Gelingen, und der gute Hausfreund, der eben zu Tische kam, mußte die
Freude teilen. Dieser war mir ohnehin höchst günstig, weil ich mir
seinen "Messias" so zu eigen gemacht hatte, daß ich ihm, bei
meinen öftern Besuchen, um Siegelabdrücke für meine Wappensammlung zu
holen, große Stellen davon vortragen konnte, so daß ihm die Tränen in
den Augen standen. Den
nächsten Sonntag setzte ich die Arbeit mit gleichem Eifer fort, und
weil mich der Mechanismus derselben sogar unterhielt, so dachte ich
nicht nach über das, was ich schrieb und aufbewahrte. Das erste
Vierteljahr mochten sich diese Bemühungen ziemlich gleich bleiben; als
ich aber zuletzt, nach meinem Dünkel, weder besondere Aufklärung über
die Bibel selbst, noch eine freiere Ansicht des Dogmas zu finden
glaubte, so schien mir die kleine Eitelkeit, die dabei befriedigt wurde,
zu teuer erkauft, als daß ich mit gleichem Eifer das Geschäft hätte
fortsetzen sollen. Die erst so blätterreichen Kanzelreden wurden immer
magerer, und ich hätte zuletzt diese Bemühung ganz abgebrochen, wenn
nicht mein Vater, der ein Freund der Vollständigkeit war, mich durch
gute Worte und Versprechungen dahin gebracht, daß ich bis auf den
letzten Sonntag Trinitatis aushielt, obgleich am Schlusse kaum etwas
mehr als der Text, die Proposition und die Einteilung auf kleine Blätter
verzeichnet wurden. Was
das Vollbringen betrifft, darin hatte mein Vater eine besondere Hartnäckigkeit.
Was einmal unternommen ward, sollte ausgeführt werden, und wenn auch
inzwischen das Unbequeme, Langweilige, Verdrießliche, ja Unnütze des
Begonnenen sich deutlich offenbarte. Es schien, als wenn ihm das
Vollbringen der einzige Zweck, das Beharren die einzige Tugend deuchte.
Hatten wir in langen Winterabenden im Familienkreise ein Buch angefangen
vorzulesen, so mußten wir es auch durchbringen, wenn wir gleich sämtlich
dabei verzweifelten und er mitunter selbst der erste war, der zu gähnen
anfing. Ich erinnere mich noch eines solchen Winters, wo wir Bowers
"Geschichte der Päpste" so durchzuarbeiten hatten. Es war ein
fürchterlicher Zustand, indem wenig oder nichts, was in jenen
kirchlichen. Verhältnissen vorkommt, Kinder und junge Leute ansprechen
kann. Indessen ist mir bei aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen
doch von jener Vorlesung so viel geblieben, daß ich in späteren Zeiten
manches daran zu knüpfen imstande war. Bei
allen diesen fremdartigen Beschäftigungen und Arbeiten, die so schnell
auf einander folgten, daß man sich kaum besinnen konnte, ob sie zulässig
und nützlich wären, verlor mein Vater seinen Hauptzweck nicht aus den
Augen. Er suchte mein Gedächtnis, meine Gabe etwas zu fassen und zu
kombinieren, auf juristische Gegenstände zu lenken, und gab mir daher
ein kleines Buch, in Gestalt eines Katechismus, von Hoppe, nach Form und
Inhalt der "Institutionen" gearbeitet, in die Hände. Ich
lernte Fragen und Antworten bald auswendig, und konnte so gut den
Katecheten als den Katechumenen vorstellen; und wie bei dem damaligen
Religionsunterricht eine der Hauptübungen war, daß man auf das
behendeste in der Bibel aufschlagen lernte, so wurde auch hier eine
gleiche Bekanntschaft mit dem "Corpus Juris" für nötig
befunden, worin ich auch bald auf das vollkommenste bewandert war. Mein
Vater wollte weiter gehen, und der "Kleine Struve" ward
vorgenommen; aber hier ging es nicht so rasch. Die Form des Buches war für
den Anfänger nicht so günstig, daß er sich selbst hätte aushelfen können,
und meines Vaters Art zu dozieren nicht so liberal, daß sie mich
angesprochen hätte. Nicht
allein durch die kriegerischen Zustände, in denen wir uns seit einigen
Jahren befanden, sondern auch durch das bürgerliche Leben selbst, durch
Lesen von Geschichten und Romanen war es uns nur allzu deutlich, daß es
sehr viele Fälle gebe, in welchen die Gesetze schweigen und dem
einzelnen nicht zu Hülfe kommen, der dann sehen mag, wie er sich aus
der Sache zieht. Wir waren nun herangewachsen, und dem Schlendriane nach
sollten wir auch neben andern Dingen fechten und reiten lernen, um uns
gelegentlich unserer Haut zu wehren, und zu Pferde kein schülerhaftes
Ansehn zu haben. Was den ersten Punkt betrifft, so war uns eine solche
Übung sehr angenehm: denn wir hatten uns schon längst Haurapiere von
Haselstöcken, mit Körben von Weiden sauber geflochten, um die Hand zu
schützen, zu verschaffen gewußt. Nun durften wir uns wirklich stählerne
Klingen zulegen, und das Gerassel, was wir damit machten, war sehr
lebhaft. Zwei
Fechtmeister befanden sich in der Stadt: ein älterer ernster Deutscher,
der auf die strenge und tüchtige Weise zu Werke ging, und ein Franzose,
der seinen Vorteil durch Avancieren und Retirieren, durch leichte flüchtige
Stöße, welche stets mit einigen Ausrufungen begleitet waren, zu
erreichen suchte. Die Meinungen, welche Art die beste sei, waren
geteilt. Der kleinen Gesellschaft, mit welcher ich Stunde nehmen sollte,
gab man den Franzosen, und wir gewöhnten uns bald, vorwärts und rückwärts
zu gehen, auszufallen und uns zurückzuziehen, und dabei immer in die
herkömmlichen Schreilaute auszubrechen. Mehrere von unsern Bekannten
aber hatten sich zu dem deutschen Fechtmeister gewendet, und übten
gerade das Gegenteil. Diese verschiedenen Arten, eine so wichtige Übung
zu behandeln, die Überzeugung eines jeden, daß sein Meister der
bessere sei, brachte wirklich eine Spaltung unter die jungen Leute, die
ungefähr von einem Alter waren, und es fehlte wenig, so hätten die
Fechtschulen ganz ernstliche Gefechte veranlaßt. Denn fast ward
ebensosehr mit Worten gestritten als mit der Klinge gefochten, und um
zuletzt der Sache ein Ende zu machen, ward ein Wettkampf zwischen beiden
Meistern veranstaltet, dessen Erfolg ich nicht umständlich zu
beschreiben brauche. Der Deutsche stand in seiner Positur wie eine
Mauer, paßte auf seinen Vorteil, und wußte mit Battieren und Ligieren
seinen Gegner ein über das andre Mal zu entwaffnen. Dieser behauptete,
das sei nicht Raison, und fuhr mit seiner Beweglichkeit fort, den andern
in Atem zu setzen. Auch brachte er dem Deutschen wohl einige Stöße
bei, die ihn aber selbst, wenn es Ernst gewesen wäre, in die andre Welt
geschickt hätten. Im
ganzen ward nichts entschieden noch gebessert, nur wendeten sich einige
zu dem Landsmann, worunter ich auch gehörte. Allein ich hatte schon zu
viel von dem ersten Meister angenommen, daher eine ziemliche Zeit darüber
hinging, bis der neue mir es wieder abgewöhnen konnte, der überhaupt
mit uns Renegaten weniger als mit seinen Urschülern zufrieden war. Mit
dem Reiten ging es mir noch schlimmer. Zufälligerweise schickte man
mich im Herbst auf die Bahn, so daß ich in der kühlen und feuchten
Jahreszeit meinen Anfang machte. Die pedantische Behandlung dieser schönen
Kunst war mir höchlich zuwider. Zum ersten und letzten war immer vom
Schließen die Rede, und es konnte einem doch niemand sagen, worin denn
eigentlich der Schluß bestehe, worauf doch alles ankommen solle: denn
man fuhr ohne Steigbügel auf dem Pferde hin und her. Übrigens schien
der Unterricht nur auf Prellerei und Beschämung der Scholaren angelegt.
Vergaß man die Kinnkette ein- oder auszuhängen, ließ man die Gerte
fallen oder wohl gar den Hut, jedes Versäumnis, jedes Unglück mußte
mit Geld gebüßt werden, und man ward noch obenein ausgelacht. Dies gab
mir den allerschlimmsten Humor, besonders da ich den Übungsort selbst
ganz unerträglich fand. Der garstige, große, entweder feuchte oder
staubige Raum, die Kälte, der Modergeruch, alles zusammen war mir im höchsten
Grade zuwider; und da der Stallmeister den andern, weil sie ihn
vielleicht durch Frühstücke und sonstige Gaben, vielleicht auch durch
ihre Geschicklichkeit bestachen, immer die besten Pferde, mir aber die
schlechtesten zu reiten gab, mich auch wohl warten ließ, und mich, wie
es schien, hintansetzte, so brachte ich die allerverdrießlichsten
Stunden über einem Geschäft hin, das eigentlich das lustigste von der
Welt sein sollte. Ja der Eindruck von jener Zeit, von jenen Zuständen
ist mir so lebhaft geblieben, daß, ob ich gleich nachher
leidenschaftlich und verwegen zu reiten gewohnt war, auch Tage und
Wochen lang kaum vom Pferde kam, daß ich bedeckte Reitbahnen sorgfältig
vermied, und höchstens nur wenig Augenblicke darin verweilte. Es kommt
übrigens der Fall oft genug vor, daß, wenn die Anfänge einer
abgeschlossenen Kunst uns überliefert werden sollen, dieses auf eine
peinliche und abschreckende Art geschieht. Die Überzeugung, wie lästig
und schädlich dieses sei, hat in spätern Zeiten die Erziehungsmaxime
aufgestellt, daß alles der Jugend auf eine leichte, lustige und bequeme
Art beigebracht werden müsse; woraus denn aber auch wieder andere Übel
und Nachteile entsprungen sind. Mit
der Annäherung des Frühlings ward es bei uns auch wieder ruhiger, und
wenn ich mir früher das Anschauen der Stadt, ihrer geistlichen und
weltlichen, öffentlichen und Privatgebäude zu verschaffen suchte, und
besonders an dem damals noch vorherrschenden Altertümlichen das größte
Vergnügen fand, so war ich nachher bemüht, durch die Lersnersche
"Chronik" und durch andre unter meines Vaters Frankofurtensien
befindliche Bücher und Hefte, die Personen vergangner Zeiten mir zu
vergegenwärtigen; welches mir denn auch durch große Aufmerksamkeit auf
das Besondere der Zeiten und Sitten und bedeutender Individualitäten
ganz gut zu gelingen schien. Unter
den altertümlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem Brückenturm
aufgesteckte Schädel eines Staatsverbrechers merkwürdig gewesen, der
von dreien oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen auswiesen, seit
1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So
oft man von Sachsenhausen nach Frankfurt zurückkehrte, hatte man den
Turm vor sich, und der Schädel fiel ins Auge. Ich ließ mir als Knabe
schon gern die Geschichte dieser Aufrührer, des Fettmilch und seiner
Genossen, erzählen, wie sie mit dem Stadtregiment unzufrieden gewesen,
sich gegen dasselbe empört, Meuterei angesponnen, die Judenstadt geplündert
und gräßliche Händel erregt, zuletzt aber gefangen und von
kaiserlichen Abgeordneten zum Tode verurteilt worden. Späterhin lag mir
daran, die nähern Umstände zu erfahren und, was es denn für Leute
gewesen, zu vernehmen. Als ich nun aus einem alten, gleichzeitigen, mit
Holzschnitten versehenen Buche erfuhr, daß zwar diese Menschen zum Tode
verurteilt, aber zugleich auch viele Ratsherrn abgesetzt worden, weil
mancherlei Unordnung und sehr viel Unverantwortliches im Schwange
gewesen; da ich nun die nähern Umstände vernahm, wie alles
hergegangen: so bedauerte ich die unglücklichen Menschen, welche man
wohl als Opfer, die einer künftigen bessern Verfassung gebracht worden,
ansehen dürfe; denn von jener Zeit schrieb sich die Einrichtung her,
nach welcher sowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus einem Klub
entsprungene Haus Frauenstein, ferner Juristen, Kaufleute und Handwerker
an einem Regimente teilnehmen sollten, das, durch eine auf venezianische
Weise verwickelte Ballotage ergänzt, von bürgerlichen Kollegien
eingeschränkt, das Rechte zu tun berufen war, ohne zu dem Unrechten
sonderliche Freiheit zu behalten. Zu
den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling
bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich
die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen
Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben
wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der
Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles
zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore
vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange, bis ich allein mich
hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich
einmal den Zudringlichkeiten so vieler, etwas zu schachern unermüdet
fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die
alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die
wir in Gottfrieds "Chronik" gräßlich abgebildet gesehen, düster
vor dem jungen Gemüt. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von
ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schundgemälde,
welches unter dem Brückenturm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf,
noch ziemlich zu sehen war, außerordentlich gegen sie: denn es war
nicht etwa durch einen Privatmutwillen, sondern aus öffentlicher
Anstalt verfertigt worden. Indessen
blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun
mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem
waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn,
womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht
versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch, und mochten es wohl
leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde
begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig
war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis
ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit
beigewohnt und von dem Lauberhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall
war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen:
denn es waren Personen von Einfluß, die mich entweder hinführten oder
empfahlen. So
wurde ich denn als ein junger Bewohner einer großen Stadt von einem
Gegenstand zum andern hin und wider geworfen, und es fehlte mitten in
der bürgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an gräßlichen Auftritten.
Bald weckte ein näherer oder entfernter Brand uns aus unserm häuslichen
Frieden, bald setzte ein entdecktes großes Verbrechen, dessen
Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe. Wir mußten
Zeugen von verschiedenen Exekutionen sein, und es ist wohl wert zu
gedenken, daß ich auch bei Verbrennung eines Buchs gegenwärtig gewesen
bin. Es war der Verlag eines französischen komischen Romans, der zwar
den Staat, aber nicht Religion und Sitten schonte. Es hatte wirklich
etwas Fürchterliches, eine Strafe an einem leblosen Wesen ausgeübt zu
sehen. Die Ballen platzten im Feuer, und wurden durch Ofengabeln aus
einander geschürt und mit den Flammen mehr in Berührung gebracht. Es
dauerte nicht lange, so flogen die angebrannten Blätter in der Luft
herum, und die Menge haschte begierig darnach. Auch ruhten wir nicht,
bis wir ein Exemplar auftrieben, und es waren nicht wenige, die sich das
verbotne Vergnügen gleichfalls zu verschaffen wußten. Ja, wenn es dem
Autor um Publizität zu tun war, so hätte er selbst nicht besser dafür
sorgen können. Jedoch
auch friedlichere Anlässe führten mich in der Stadt hin und wider.
Mein Vater hatte mich früh gewöhnt, kleine Geschäfte für ihn zu
besorgen. Besonders trug er mir auf, die Handwerker, die er in Arbeit
setzte, zu mahnen, da sie ihn gewöhnlich länger als billig aufhielten,
weil er alles genau wollte gearbeitet haben und zuletzt bei prompter
Bezahlung die Preise zu mäßigen pflegte. Ich gelangte dadurch fast in
alle Werkstätten, und da es mir angeboren war, mich in die Zustände
anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fühlen
und mit Gefallen daran teilzunehmen, so brachte ich manche vergnügliche
Stunde durch Anlaß solcher Aufträge zu, lernte eines jeden
Verfahrungsart kennen, und was die unerläßlichen Bedingungen dieser
und jener Lebensweise für Freude, für Leid, Beschwerliches und Günstiges
mit sich führen. Ich näherte mich dadurch dieser tätigen, das Untere
und Obere verbindenden Klasse. Denn wenn an der einen Seite diejenigen
stehen, die sich mit den einfachen und rohen Erzeugnissen beschäftigen,
an der andern solche, die schon etwas Verarbeitetes genießen wollen, so
vermittelt der Gewerker durch Sinn und Hand, daß jene beide etwas von
einander empfangen und jeder nach seiner Art seiner Wünsche teilhaft
werden kann. Das Familienwesen eines jeden Handwerks, das Gestalt und
Farbe von der Beschäftigung erhielt, war gleichfalls der Gegenstand
meiner stillen Aufmerksamkeit, und so entwickelte, so bestärkte sich in
mir das Gefühl der Gleichheit, wo nicht aller Menschen, doch aller
menschlichen Zustände, indem mir das nackte Dasein als die
Hauptbedingung, das übrige alles aber als gleichgültig und zufällig
erschien. Da
mein Vater sich nicht leicht eine Ausgabe erlaubte, die durch einen
augenblicklichen Genuß sogleich wäre aufgezehrt worden, wie ich mich
denn kaum erinnre, daß wir zusammen spazieren gefahren und auf einem
Lustorte etwas verzehrt hätten: so war er dagegen nicht karg mit
Anschaffung solcher Dinge, die bei innerm Wert auch einen guten äußern
Schein haben. Niemand konnte den Frieden mehr wünschen als er, ob er
gleich in der letzten Zeit vom Kriege nicht die mindeste
Beschwerlichkeit empfand. In diesen Gesinnungen hatte er meiner Mutter
eine goldne mit Diamanten besetzte Dose versprochen, welche sie erhalten
sollte, sobald der Friede publiziert würde. In Hoffnung dieses glücklichen
Ereignisses arbeitete man schon einige Jahre an diesem Geschenk. Die
Dose selbst, von ziemlicher Größe, ward in Hanau verfertigt: denn mit
den dortigen Goldarbeitern sowie mit den Vorstehern der Seidenanstalt
stand mein Vater in gutem Vernehmen. Mehrere Zeichnungen wurden dazu
verfertigt; den Deckel zierte ein Blumenkorb, über welchem eine Taube
mit dem Ölzweig schwebte. Der Raum für die Juwelen war gelassen, die
teils an der Taube, teils an den Blumen, teils auch an der Stelle, wo
man die Dose zu öffnen pflegt, angebracht werden sollten. Der Juwelier,
dem die völlige Ausführung nebst den dazu nötigen Steinen übergeben
ward, hieß Laufensack und war ein geschickter muntrer Mann, der, wie
mehrere geistreiche Künstler, selten das Notwendige, gewöhnlich aber
das Willkürliche tat, was ihm Vergnügen machte. Die Juwelen, in der
Figur, wie sie auf dem Dosendeckel angebracht werden sollten, waren zwar
bald auf schwarzes Wachs gesetzt und nahmen sich ganz gut aus, allein
sie wollten sich von da gar nicht ablösen, um aufs Gold zu gelangen. Im
Anfange ließ mein Vater die Sache noch so anstehen; als aber die
Hoffnung zum Frieden immer lebhafter wurde, als man zuletzt schon die
Bedingungen, besonders die Erhebung des Erzherzogs Joseph zum Römischen
König, genauer wissen wollte, so ward mein Vater immer ungeduldiger,
und ich mußte wöchentlich ein paarmal, ja zuletzt fast täglich den
saumseligen Künstler besuchen. Durch mein unablässiges Quälen und
Zureden rückte die Arbeit, wiewohl langsam genug, vorwärts: denn weil
sie von der Art war, daß man sie bald vornehmen, bald wieder aus den Händen
legen konnte, so fand sich immer etwas, wodurch sie verdrängt und bei
Seite geschoben wurde. Die
Hauptursache dieses Benehmens indes war eine Arbeit, die der Künstler für
eigene Rechnung unternommen hatte. Jedermann wußte, daß Kaiser Franz
eine große Neigung zu Juwelen, besonders auch zu farbigen Steinen hege.
Lautensack hatte eine ansehnliche Summe, und, wie sich später fand, größer
als sein Vermögen, auf dergleichen Edelsteine verwandt, und daraus
einen Blumenstrauß zu bilden angefangen, in welchem jeder Stein nach
seiner Form und Farbe günstig hervortreten und das Ganze ein Kunststück
geben sollte, wert, in dem Schatzgewölbe eines Kaisers aufbewahrt zu
stehen. Er hatte nach seiner zerstreuten Art mehrere Jahre daran
gearbeitet, und eilte nun, weil man nach dem bald zu hoffenden Frieden
die Ankunft des Kaisers zur Krönung seines Sohns in Frankfurt
erwartete, es vollständig zu machen und endlich zusammenzubringen.
Meine Lust, dergleichen Gegenstände kennen zu lernen, benutzte er sehr
gewandt, um mich als einen Mahnboten zu zerstreuen und von meinem
Vorsatz abzulenken. Er suchte mir die Kenntnis dieser Steine
beizubringen, machte mich auf ihre Eigenschaften, ihren Wert aufmerksam,
so daß ich sein ganzes Bouquet zuletzt auswendig wußte, und es ebenso
gut wie er einem Kunden hätte anpreisend vordemonstrieren können. Es
ist mir noch jetzt gegenwärtig, und ich habe wohl kostbarere, aber
nicht anmutigere Schau- und Prachtstücke dieser Art gesehen. Außerdem
besaß er noch eine hübsche Kupfersammlung und andere Kunstwerke, über
die er sich gern unterhielt, und ich brachte viele Stunden nicht ohne
Nutzen bei ihm zu. Endlich, als wirklich der Kongreß zu Hubertsburg
schon festgesetzt war, tat er aus Liebe zu mir ein übriges, und die
Taube zusamt den Blumen gelangte am Friedensfeste wirklich in die Hände
meiner Mutter. Manchen
ähnlichen Auftrag erhielt ich denn auch, um bei den Malern bestellte
Bilder zu betreiben. Mein Vater hatte bei sich den Begriff festgesetzt,
und wenig Menschen waren davon frei, daß ein Bild auf Holz gemalt einen
großen Vorzug vor einem andern habe, das nur auf Leinwand aufgetragen
sei. Gute eichene Bretter von jeder Form zu besitzen, war deswegen
meines Vaters große Sorgfalt, indem er wohl wußte, daß die
leichtsinnigem Künstler sich gerade in dieser wichtigen Sache auf den
Tischer verließen. Die ältesten Bohlen wurden aufgesucht, der Tischer
mußte mit Leimen, Hobeln und Zurichten derselben aufs genauste zu Werke
gehen, und dann blieben sie Jahre lang in einem obern Zimmer verwahrt,
wo sie genugsam austrocknen konnten. Ein solches köstliches Brett ward
dem Maler Juncker anvertraut, der einen verzierten Blumentopf mit den
bedeutendsten Blumen nach der Natur in seiner künstlichen und
zierlichen Weise darauf darstellen sollte. Es war gerade im Frühling,
und ich versäumte nicht, ihm wöchentlich einigemal die schönsten
Blumen zu bringen, die mir unter die Hand kamen; welche er denn auch
sogleich einschaltete, und das Ganze nach und nach aus diesen Elementen
auf das treulichste und fleißigste zusammenbildete. Gelegentlich hatte
ich auch wohl einmal eine Maus gefangen, die ich ihm brachte, und die er
als ein gar so zierliches Tier nachzubilden Lust hatte, auch sie
wirklich aufs genauste vorstellte, wie sie am Fuße des Blumentopfes
eine Kornähre benascht. Mehr dergleichen unschuldige Naturgegenstände,
als Schmetterlinge und Käfer, wurden herbeigeschafft und dargestellt,
so daß zuletzt, was Nachahmung und Ausführung betraf, ein höchst schätzbares
Bild beisammen war. Ich
wunderte mich daher nicht wenig, als der gute Mann mir eines Tages, da
die Arbeit bald abgeliefert werden sollte, umständlich eröffnete, wie
ihm das Bild nicht mehr gefalle, indem es wohl im einzelnen ganz gut
geraten, im ganzen aber nicht gut komponiert sei, weil es so nach und
nach entstanden, und er im Anfange das Versehen begangen, sich nicht
wenigstens einen allgemeinen Plan für Licht und Schatten sowie für
Farben zu entwerfen, nach welchem man die einzelnen Blumen hätte
einordnen können. Er ging mit mir das während eines halben Jahrs vor
meinen Augen entstandene und mir teilweise gefällige Bild umständlich
durch, und wußte mich zu meiner Betrübnis vollkommen zu überzeugen.
Auch hielt er die nachgebildete Maus für einen Mißgriff:
"denn", sagte er, "solche Tiere haben für viele Menschen
etwas Schauderhaftes, und man sollte sie da nicht anbringen, wo man
Gefallen erregen will." Ich hatte nun, wie es demjenigen zu gehen
pflegt, der sich von einem Vorurteile geheilt sieht und sich viel klüger
dünkt als er vorher gewesen, eine wahre Verachtung gegen dies
Kunstwerk, und stimmte dem Künstler völlig bei, als er eine andere
Tafel von gleicher Größe verfertigen ließ, worauf er, nach dem
Geschmack, den er besaß, ein besser geformtes Gefäß und einen
kunstreicher geordneten Blumenstrauß anbrachte, auch die lebendigen
kleinen Beiwesen zierlich und erfreulich sowohl zu wählen als zu
verteilen wußte. Auch diese Tafel malte er mit der größten Sorgfalt,
doch freilich nur nach jener schon abgebildeten oder aus dem Gedächtnis,
das ihm aber bei einer sehr langen und emsigen Praxis gar wohl zu Hülfe
kam. Beide Gemälde waren nun fertig, und wir hatten eine entschiedene
Freude an dem letzten, das wirklich kunstreicher und mehr in die Augen
fiel. Der Vater ward anstatt mit einem mit zwei Stücken überrascht und
ihm die Wahl gelassen. Er billigte unsere Meinung und die Gründe
derselben, besonders auch den guten Willen und die Tätigkeit; entschied
sich aber, nachdem er beide Bilder einige Tage betrachtet, für das
erste, ohne über diese Wahl weiter viele Worte zu machen. Der Künstler,
ärgerlich, nahm sein zweites, wohlgemeintes Bild zurück, und konnte
sich gegen mich der Bemerkung nicht enthalten, daß die gute eichne
Tafel, worauf das erste gemalt stehe, zum Entschluß des Vaters gewiß
das Ihrige beigetragen habe. Da
ich hier wieder der Malerei gedenke, so tritt in meiner Erinnerung eine
große Anstalt hervor, in der ich viele Zeit zubrachte, weil sie und
deren Vorsteher mich besonders an sich zog. Es war die große
Wachstuchfabrik, welche der Maler Nothnagel errichtet hatte: ein
geschickter Künstler, der aber sowohl durch sein Talent als durch seine
Denkweise mehr zum Fabrikwesen als zur Kunst hinneigte. In einem sehr
großen Raume von Höfen und Gärten wurden alle Arten von Wachstuch
gefertigt, von dem rohsten an, das mit der Spatel aufgetragen wird und
das man zu Rüstwagen und ähnlichem Gebrauch benutzte, durch die
Tapeten hindurch, welche mit Formen abgedruckt wurden, bis zu den
feineren und feinsten, auf welchen bald chinesische und phantastische,
bald natürliche Blumen abgebildet, bald Figuren, bald Landschaften
durch den Pinsel geschickter Arbeiter dargestellt wurden. Diese
Mannigfaltigkeit, die ins Unendliche ging, ergetzte mich sehr. Die Beschäftigung
so vieler Menschen von der gemeinsten Arbeit bis zu solchen, denen man
einen gewissen Kunstwert kaum versagen konnte, war für mich höchst
anziehend. Ich machte Bekanntschaft mit dieser Menge in vielen Zimmern
hinter einander arbeitenden jüngern und älteren Männern, und legte
auch wohl selbst mitunter Hand an. Der Vertrieb dieser Ware ging außerordentlich
stark. Wer damals baute oder ein Gebäude möblierte, wollte für seine
Lebenszeit versorgt sein, und diese Wachstuchtapeten waren allerdings
unverwüstlich. Nothnagel selbst hatte genug mit Leitung des Ganzen zu
tun, und saß in seinem Comptoir, umgeben von Faktoren und
Handlungsdienern. Die Zeit, die ihm übrig blieb, beschäftigte er sich
mit seiner Kunstsammlung, die vorzüglich aus Kupferstichen bestand, mit
denen er, sowie mit Gemälden, die er besaß, auch wohl gelegentlich
Handel trieb. Zugleich hatte er das Radieren lieb gewonnen; er ätzte
verschiedene Blätter und setzte diesen Kunstzweig bis in seine spätesten
Jahre fort. Da
seine Wohnung nahe am Eschenheimer Tore lag, so führte mich, wenn ich
ihn besucht hatte, mein Weg gewöhnlich zur Stadt hinaus und zu den
Grundstücken, welche mein Vater vor den Toren besaß. Das eine war ein
großer Baumgarten, dessen Boden als Wiese benutzt wurde, und worin mein
Vater das Nachpflanzen der Bäume, und was sonst zur Erhaltung diente,
sorgfältig beobachtete, obgleich das Grundstück verpachtet war. Noch
mehr Beschäftigung gab ihm ein sehr gut unterhaltener Weinberg vor dem
Friedberger Tore, woselbst zwischen den Reihen der Weinstöcke
Spargelreihen mit großer Sorgfalt gepflanzt und gewartet wurden. Es
verging in der guten Jahrszeit fast kein Tag, daß nicht mein Vater sich
hinausbegab, da wir ihn denn meist begleiten durften, und so von den
ersten Erzeugnissen des Frühlings bis zu den letzten des Herbstes Genuß
und Freude hatten. Wir lernten nun auch mit den Gartengeschäften
umgehen, die, weil sie sich jährlich wiederholten, uns endlich ganz
bekannt und geläufig wurden. Nach mancherlei Früchten des Sommers und
Herbstes war aber doch zuletzt die Weinlese das Lustigste und am meisten
Erwünschte; ja es ist keine Frage, daß, wie der Wein selbst den Orten
und Gegenden, wo er wächst und getrunken wird, einen freiem Charakter
gibt, so auch diese Tage der Weinlese, indem sie den Sommer schließen
und zugleich den Winter eröffnen, eine unglaubliche Heiterkeit
verbreiten. Lust und Jubel erstreckt sich über eine ganze Gegend. Des
Tages hört man von allen Ecken und Enden Jauchzen und schießen, und
des Nachts verkünden bald da bald dort Raketen und Leuchtkugeln, daß
man noch überall wach und munter diese Feier gern so lange als möglich
ausdehnen möchte. Die nachherigen Bemühungen beim Keltern und während
der Gärung im Keller gaben uns auch zu Hause eine heitere Beschäftigung,
und so kamen wir gewöhnlich in den Winter hinein, ohne es recht gewahr
zu werden. Dieser
ländlichen Besitzungen erfreuten wir uns im Frühling 1763 um so mehr,
als uns der 15. Februar dieses Jahrs, durch den Abschluß des
Hubertsburger Friedens, zum festlichen Tage geworden, unter dessen glücklichen
Folgen der größte Teil meines Lebens verfließen sollte. Ehe ich
jedoch weiter schreite, halte ich es für meine Schuldigkeit, einiger Männer
zu gedenken, welche einen bedeutenden Einfluß auf meine Jugend ausgeübt. Von
Olenschlager, Mitglied des Hauses Frauenstein, Schöff und Schwiegersohn
des oben erwähnten Doktor Orth, ein schöner, behaglicher,
sanguinischer Mann. Er hätte in seiner bürgemeisterlichen Festtracht
gar wohl den angesehensten französischen Prälaten vorstellen können.
Nach seinen akademischen Studien hatte er sich in Hof- und Staatsgeschäften
umgetan, und seine Reisen auch zu diesen Zwecken eingeleitet. Er hielt
mich besonders wert und sprach oft mit mir von den Dingen, die ihn vorzüglich
interessierten. Ich war um ihn, als er eben seine "Erläuterung der
Güldnen Bulle" schrieb; da er mir denn den Wert und die Würde
dieses Dokuments sehr deutlich herauszusetzen wußte. Auch dadurch wurde
meine Einbildungskraft in jene wilden und unruhigen Zeiten zurückgeführt,
daß ich nicht unterlassen konnte, dasjenige, was er mir geschichtlich
erzählte, gleichsam als gegenwärtig, mit Ausmalung der Charakter und
Umstände und manchmal sogar mimisch darzustellen; woran er denn große
Freude hatte, und durch seinen Beifall mich zur Wiederholung aufregte. Ich
hatte von Kindheit auf die wunderliche Gewohnheit, immer die Anfänge
der Bücher und Abteilungen eines Werks auswendig zu lernen, zuerst der
fünf Bücher Mosis, sodann der "Äneide" und der
"Metamorphosen". So machte ich es nun auch mit der Goldenen
Bulle, und reizte meinen Gönner oft zum Lächeln, wenn ich ganz
ernsthaft unversehens ausrief: "Omne regnum in se divisum
desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum." Der kluge
Mann schüttelte lächelnd den Kopf und sagte bedenklich: "Was müssen
das für Zeiten gewesen sein, in welchen der Kaiser auf einer großen
Reichsversammlung seinen Fürsten dergleichen Worte ins Gesicht
publizieren ließ." Von
Olenschlager hatte viel Anmut im Umgang. Man sah wenig Gesellschaft bei
ihm, aber zu einer geistreichen Unterhaltung war er sehr geneigt, und er
veranlaßte uns junge Leute, von Zeit zu Zeit ein Schauspiel aufzuführen:
denn man hielt dafür, daß eine solche Übung der Jugend besonders nützlich
sei. Wir gaben den "Kanut" von Schlegel, worin mir die Rolle
des Königs, meiner Schwester die Estriche, und Ulfo dem jüngern Sohn
des Hauses zugeteilt wurde. Sodann wagten wir uns an den "Britannicus",
denn wir sollten nebst dem Schauspielertalent auch die Sprache zur Übung
bringen. Ich erhielt den Nero, meine Schwester die Agrippine, und der jüngere
Sohn den Britannicus. Wir wurden mehr gelobt, als wir verdienten, und
glaubten es noch besser gemacht zu haben, als wie wir gelobt wurden. So
stand ich mit dieser Familie in dem besten Verhältnis, und bin ihr
manches Vergnügen und eine schnellere Entwicklung schuldig geworden. Von
Reineck, aus einem altadligen Hause, tüchtig, rechtschaffen, aber
starrsinnig, ein hagrer schwarzbrauner Mann, den ich niemals lächeln
gesehen. Ihm begegnete das Unglück, daß seine einzige Tochter durch
einen Hausfreund entführt wurde. Er verfolgte seinen Schwiegersohn mit
dem heftigsten Prozeß, und weil die Gerichte, in ihrer Förmlichkeit,
seiner Rachsucht weder schnell noch stark genug willfahren wollten, überwarf
er sich mit diesen, und es entstanden Händel aus Händeln, Prozesse aus
Prozessen. Er zog sich ganz in sein Haus und einen daranstoßenden
Garten zurück, lebte in einer weitläufigen aber traurigen Unterstube,
in die seit vielen Jahren kein Pinsel eines Tünchers, vielleicht kaum
der Kehrbesen einer Magd gekommen war. Mich konnte er gar gern leiden,
und hatte mir seinen jüngern Sohn besonders empfohlen. Seine ältesten
Freunde, die sich nach ihm zu richten wußten, seine Geschäftsleute,
seine Sachwalter sah er manchmal bei Tische, und unterließ dann
niemals, auch mich einzuladen. Man aß sehr gut bei ihm und trank noch
besser. Den Gästen erregte jedoch ein großer, aus vielen Ritzen
rauchender Ofen die ärgste Pein. Einer der Vertrautesten wagte einmal,
dies zu bemerken, indem er den Hausherrn fragte: ob er denn so eine
Unbequemlichkeit den ganzen Winter aushalten könne. Er antwortete
darauf, als ein zweiter Timon und Heautontimorumenos: "Wollte Gott,
dies wäre das größte Übel von es denen, die mich plagen!" Nur
spät ließ er sich bereden, Tochter und Enkel wiederzusehen. Der
Schwiegersohn durfte ihm nicht wieder vor Augen. Auf
diesen so braven als unglücklichen Mann wirkte meine Gegenwart sehr günstig:
denn indem er sich gern mit mir unterhielt, und mich besonders von Welt-
und Staatsverhältnissen belehrte, schien er selbst sich erleichtert und
erheitert zu fühlen. Die wenigen alten Freunde, die sich noch um ihn
versammelten, gebrauchten mich daher oft, wenn sie seinen verdrießlichen
Sinn zu mildern und ihn zu irgend einer Zerstreuung zu bereden wünschten.
Wirklich fuhr er nunmehr manchmal mit uns aus, und besah sich die Gegend
wieder, auf die er so viele Jahre keinen Blick geworfen hatte. Er
gedachte der alten Besitzer, erzählte von ihren Charaktern und
Begebenheiten, wo er sich denn immer streng, aber doch öfters heiter
und geistreich erwies. Wir suchten ihn nun auch wieder unter andere
Menschen zu bringen, welches uns aber beinah übel geraten wäre. Von
gleichem, wenn nicht noch von höherem Alter als er war ein Herr von
Malapart, ein reicher Mann, der ein sehr schönes Haus am Roßmarkt besaß
und gute Einkünfte von Salinen zog. Auch er lebte sehr abgesondert;
doch war er Sommers viel in seinem Garten vor dem Bockenheimer Tore, wo
er einen sehr schönen Nelkenflor wartete und pflegte. Von
Reineck war auch ein Nelkenfreund; die Zeit des Flors war da, und es
geschahen einige Anregungen, ob man sich nicht wechselseitig besuchen
wollte. Wir leiteten die Sache ein und trieben es so lange, bis endlich
von Reineck sich entschloß, mit uns einen Sonntagnachmittag
hinauszufahren. Die Begrüßung der beiden alten Herren war sehr
lakonisch, ja bloß pantomimisch, und man ging mit wahrhaft
diplomatischem Schritt an den langen Nelkengerüsten hin und her. Der
Flor war wirklich außerordentlich schön, und die besondern Formen und
Farben der verschiedenen Blumen, die Vorzüge der einen vor der andern
und ihre Seltenheit machten denn doch zuletzt eine Art von Gespräch
aus, welches ganz freundlich zu werden schien; worüber wir andern uns
um so mehr freuten, als wir in einer benachbarten Laube den kostbarsten
alten Rheinwein in geschliffenen Flaschen, schönes Obst und andre gute
Dinge aufgetischt sahen. Leider aber sollten wir sie nicht genießen.
Denn unglücklicherweise sah von Reineck eine sehr schöne Nelke vor
sich, die aber den Kopf etwas niedersenkte; er griff daher sehr zierlich
mit dem Zeige- und Mittelfinger vom Stengel herauf gegen den Kelch und
hob die Blume von hinten in die Höhe, so daß er sie wohl betrachten
konnte. Aber auch diese zarte Berührung verdroß den Besitzer. Von
Malapart erinnerte, zwar höflich aber doch steif genug und eher etwas
selbstgefällig, an das oculis non manibus. Von Reineck hatte die Blume
schon losgelassen, fing aber auf jenes Wort gleich Feuer und sagte, mit
seiner gewöhnlichen Trockenheit und Ernst: es sei einem Kenner und
Liebhaber wohl gemäß, eine Blume auf die Weise zu berühren und zu
betrachten; worauf er denn jenen Gest wiederholte und sie noch einmal
zwischen die Finger nahm. Die beiderseitigen Hausfreunde - denn auch von
Malapart hatte einen bei sich - waren nun in der größten Verlegenheit.
Sie ließen einen Hasen nach dem andern laufen (dies war unsre sprüchwörtliche
Redensart, wenn ein Gespräch sollte unterbrochen und auf einen andern
Gegenstand gelenkt werden); allein es wollte nichts verfangen: die alten
Herren waren ganz stumm geworden, und wir fürchteten jeden Augenblick,
von Reineck möchte jenen Akt wiederholen; da wäre es denn um uns alle
geschehn gewesen. Die beiden Hausfreunde hielten ihre Herren
auseinander, indem sie selbige bald da bald dort beschäftigten, und das
klügste war, daß wir endlich aufzubrechen Anstalt machten, und so mußten
wir leider den reizenden Kredenztisch ungenossen mit dem Rücken
ansehen. Hofrat
Hüsgen, nicht von Frankfurt gebürtig, reformierter Religion und
deswegen keiner öffentlichen Stelle noch auch der Advokatur fähig, die
er jedoch, weil man ihm als vortrefflichem Juristen viel Vertrauen
schenkte, unter fremder Signatur ganz gelassen sowohl in Frankfurt als
bei den Reichsgerichten zu führen wußte, war wohl schon sechzig Jahr
alt, als ich mit seinem Sohne Schreibstunde hatte und dadurch ins Haus
kam. Seine Gestalt war groß, lang ohne hager, breit ohne beleibt zu
sein. Sein Gesicht, nicht allein von den Blattern entstellt, sondern
auch des einen Auges beraubt, sah man die erste Zeit nur mit
Apprehension. Er trug auf einem kahlen Haupte immer eine ganz weiße
Glockenmütze, oben mit einem Bande gebunden. Seine Schlafröcke von
Kalmank oder Damast waren durchaus sehr sauber. Er bewohnte eine gar
heitre Zimmerflucht auf gleicher Erde an der Allee, und die Reinlichkeit
seiner Umgebung entsprach dieser Heiterkeit. Die größte Ordnung seiner
Papiere, Bücher, Landkarten machte einen angenehmen Eindruck. Sein
Sohn, Heinrich Sebastian, der sich durch verschiedene Schriften im
Kunstfach bekannt gemacht, versprach in seiner Jugend wenig. Gutmütig
aber läppisch, nicht roh aber doch geradezu und ohne besondre Neigung
sich zu unterrichten, suchte er lieber die Gegenwart der Vaters zu
vermeiden, indem er von der Mutter alles, was es wünschte, erhalten
konnte. Ich hingegen näherte mich dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn
kennen lernte. Da er sich nur bedeutender Rechtsfälle annahm, so hatte
er Zeit genug, sich auf andre Weise zu beschäftigen und zu unterhalten.
Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und seine Lehren vernommen, als ich
wohl merken konnte, daß er mit Gott und der Welt in Opposition stehe.
Eins seiner Lieblingsbücher war Agrippa "De vanitate scientiarum",
das er mir besonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine
Zeitlang in ziemliche Verwirrung setzte. Ich war im Behagen der Jugend
zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Göttern
ziemlich wieder ausgesöhnt: denn durch eine Reihe von Jahren war ich zu
der Erfahrung gekommen, daß es gegen das Böse manches Gleichgewicht
gebe, daß man sich von den Übeln wohl wieder herstelle, und daß man
sich aus Gefahren rette und nicht immer den Hals breche. Auch was die
Menschen taten und trieben, sah ich läßlich an, und fand manches
Lobenswürdige, womit mein alter Herr keineswegs zufrieden sein wollte.
Ja, als er einmal mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften Seite
geschildert hatte, merkte ich ihm an, daß er noch mit einem bedeutenden
Trumpfe zu schließen gedenke. Er drückte, wie in solchen Fällen seine
Art war, das blinde linke Auge stark zu, blickte mit dem andern scharf
hervor und sagte mit einer näselnden Stimme: "Auch in Gott entdeck
ich Fehler." Mein
timonischer Mentor war auch Mathematiker; aber seine praktische Natur
trieb ihn zur Mechanik, ob er gleich nicht selbst arbeitete. Eine, für
damalige Zeiten wenigstens, wundersame Uhr, welche neben den Stunden und
Tagen auch die Bewegungen von Sonne und Mond anzeigte, ließ er nach
seiner Angabe verfertigen. Sonntags früh um zehn zog er sie jedesmal
selbst auf, welches er um so gewisser tun konnte, als er niemals in die
Kirche ging. Gesellschaft oder Gäste habe ich nie bei ihm gesehen.
Angezogen und aus dem Hause gehend erinnere ich mir ihn in zehn Jahren
kaum zweimal. Die verschiedenen Unterhaltungen mit diesen Männern waren
nicht unbedeutend, und jeder wirkte auf mich nach seiner Weise. Für
einen jeden hatte ich so viel, oft noch mehr Aufmerksamkeit als die
eigenen Kinder, und jeder suchte an mir, als an einem geliebten Sohne,
sein Wohlgefallen zu vermehren, indem er an mir sein moralisches
Ebenbild herzustellen trachtete. Olenschlager wollte mich zum Hofmann,
Reineck zum diplomatischen Geschäftsmann bilden; beide, besonders
letzterer, suchten mir Poesie und Schriftstellerei zu verleiden. Hüsgen
wollte mich zum Timon seiner Art, dabei aber zum tüchtigen
Rechtsgelehrten haben: ein notwendiges Handwerk, wie er meinte, damit
man sich und das seinige gegen das Lumpenpack von Menschen regelmäßig
verteidigen, einem Unterdrückten beistehen, und allenfalls einem
Schelmen etwas am Zeuge flicken könne; letzteres jedoch sei weder
besonders tunlich noch ratsam. Hielt
ich mich gern an der Seite jener Männer, um ihren Rat, ihren Fingerzeig
zu benutzen, so forderten jüngere, an Alter mir nur wenig
vorausbeschrittene, mich auf zum unmittelbaren Nacheifern. Ich nenne
hier vor allen andern die Gebrüder Schlosser, und Griesbach. Da ich
jedoch mit diesen in der Folge in genauere Verbindung trat, welche viele
Jahre ununterbrochen dauerte, so sage ich gegenwärtig nur so viel, daß
sie uns damals als ausgezeichnet in Sprachen und andern die akademische
Laufbahn eröffnenden Studien gepriesen und zum Muster aufgestellt
wurden, und daß jedermann die gewisse Erwartung hegte, sie würden
einst im Staat und in der Kirche etwas Ungemeines leisten. Was
mich betrifft, so hatte ich auch wohl im Sinne, etwas Außerordentliches
hervorzubringen; worin es aber bestehen wo könne, wollte mir nicht
deutlich werden. Wie man jedoch eher an den Lohn denkt, den man erhalten
möchte, als an das Verdienst, das man sich erwerben sollte, so leugne
ich nicht, daß, wenn ich an ein wünschenswertes Glück dachte, dieses
mir am reizendsten in der Gestalt des Lorbeerkranzes erschien, der den
Dichter zu zieren geflochten ist.
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Wolfgang
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